L. Behrisch: Städtische Obrigkeit und Soziale Kontrolle

Titel
Städtische Obrigkeit und Soziale Kontrolle. Görlitz 1450-1600


Autor(en)
Behrisch, Lars
Erschienen
Epfendorf am Neckar 2005: bibliotheca academica Verlag
Anzahl Seiten
316 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Prof. Dr. Peter Schuster, Universität des Saarlandes

Noch eine Arbeit zur Sozialen Kontrolle in der frühneuzeitlichen Stadt? Mit dieser bangen wie berechtigten Frage beginnt das Buch und auch die vorliegende Besprechung. Die Frage scheint nicht unbegründet: Es gibt ja mittlerweile einige Studien zum Thema, seine Hochkonjunktur scheint vorüber zu sein. Doch bange sollte sich der Autor dieser 2002 an der Humboldt-Universität vorgelegten Dissertation nicht machen lassen. Behrischs Untersuchung hat eine klare Fragestellung, ist bemerkenswert gut geschrieben und kann mit einigen Ergebnissen den Fortgang der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtgeschichte nur befördern.

Eine Geschichte von Devianz und sozialer Kontrolle muss über weite Strecken auch Verfassungsgeschichte sein. Dementsprechend beginnt Behrisch seine Arbeit mit einer Darstellung der Rechtsstellung der Stadt Görlitz, seiner Verfassung und der Geschichte der dort geltenden Rechtsnormen. Von den bislang untersuchten Städten wie Konstanz, Nürnberg oder Köln hebt sich Görlitz schon dadurch ab, dass es keine Reichsstadt war. Die Stadt unterstand seit 1329 dem böhmischen König. Ihm sei der oligarchische Rat verantwortlich gewesen und nicht der Bürgerschaft. Daraus habe eine andere Rechtskultur als in den Reichsstädten des späten Mittelalters resultiert. Nicht wie dort konsensgestützte Herrschaft mittels bürgerlicher Satzungen bestimmten das Zusammenleben, sondern die tradierten und starren Normen des Sachsenspiegels. Das mag so stimmen, doch einzuwenden wäre, dass nicht allein die Verfassung der Stadt die besondere Rechtskultur geprägt haben mag, sondern auch der Rechtsraum, in dem Görlitz lag. Anders als weiter südlich und westlich blieb dort der Sachsenspiegel im Spätmittelalter das dominierende Rechtswerk und das Römische Recht weitgehend außen vor.

Doch wie immer man es begründet: Wir haben es mit einer Stadt zu tun, die eine besondere Rechtskultur hatte und in der Devianz und ihre Ahndung möglicherweise andere Strukturen aufwiesen als in den bislang untersuchten Reichsstädten. Behrisch untersucht diesen Aspekt im zweiten Teil seiner Arbeit, indem er verschiedene Delikttypen genauer analysiert. Neben Gewalt standen insbesondere Eigentumsdelikte im Zentrum der vor Gericht gebrachten Delikte. Seine Beobachtungen zum Gewaltverhalten bestätigen den Trend anderer Studien, können ihn aber im Detail noch pointieren: Gewalt war ein männliches Verhalten, vollzog sich bei den vor Gericht gekommenen Fällen überwiegend in der Öffentlichkeit, wobei den Wirtshäusern eine überragende Rolle zukam (Alkohol!?). Täter und Opfer kannten sich zumeist und kamen in der Regel aus dem gleichen sozialen Milieu. Oft eskalierten gewalttätige Auseinandersetzungen zu Gruppenkonflikten, die in der Regel folgenreicher ausgingen als Zweikämpfe. Die Görlitzer Gerichtsbarkeit erstreckte sich auf das Weichbild, eines der größten im Reich und neben der Stadt weitgehend ländliche Gebiete umfassend. Behrisch nutzt diesen Umstand zu interessanten Stadt-Land-Vergleichen. Hervorzuheben ist etwa, dass auf dem Lande bei gewalttätigen Konflikten häufiger als in der Stadt Waffen eingesetzt worden sind.

Bemerkenswert ist weiterhin, dass ähnlich wie Gewaltdelikte auch Eigentumsdelikte häufig im sozialen Nahraum stattfanden. Görlitzer wurden demnach häufiger von Verwandten als von Vaganten bestohlen, hintergangen und betrogen.

Von Strafverfolgung im eigentlichen Sinne kann man in Görlitz bis weit in das 15. Jahrhundert hinein nicht sprechen. Im Weichbild galt das Magdeburger Recht, das kompositorisch und akkusatorisch ausgerichtet war: Erst die Klage des Geschädigten ließ das Gericht demnach aktiv werden. Seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts setzte ein Wandel ein. Sowohl bei Gewalt- wie auch bei Eigentumsdelikten ist eine Intensivierung der Strafverfolgung zu erkennen. Gleichwohl blieb die Funktion des Klägers prominent. Nur bei wenigen Delikten wie etwa Totschlag setzte sich allmählich die Strafverfolgung ex officio durch. Die Tendenz verstetigte sich im 16. Jahrhundert. Erstmals um 1530 wurde bei der Ahndung von Gewalt von „Strafe“ gesprochen, immerhin 100 Jahre später als im Süden des Reichs. 1572 kam es zur ersten Hinrichtung wegen eines Totschlagdeliktes. Ähnliche Tendenzen zeigen sich bei Eigentumsdelikten, die in Görlitz wie überall streng und brutal bestraft wurden.

Die Verschärfung der Strafverfolgung und der Strafen im 16. Jahrhundert fand nicht den ungeteilten Beifall der Einwohner und Bürger. Insbesondere bei Eigentumsdelikten war die Anzeigebereitschaft gering. Für Behrisch ist dieses Verhalten ein Anzeichen dafür, dass die Bevölkerung mit den hohen Strafandrohungen bei Eigentumsdelikten nicht einverstanden war. Überhaupt sieht er eine geringe Akzeptanz der Rechtsnormen als ein wesentliches Ergebnis seiner Untersuchung. Die geringe Ritualisierung von Gewalthändeln, die sich nicht wie beispielsweise in Konstanz auf das so genannte Messerzücken beschränkten, sondern brutaler und unkontrollierter abliefen, kann man mit Behrisch durchaus als weiteren Indikator für eine fehlende Adaption der Rechtsnormen deuten.

Behrischs Buch leistet einen wichtigen Beitrag zur historischen Kriminalitätsforschung. Er skizziert ein etwas anderes Bild als die meisten bisherigen Studien. Seine Beobachtungen sind präzise, seine Folgerungen weitgehend nachvollziehbar. Es wäre zu wünschen, dass Behrischs Studie über Görlitz weitere Lokalstudien zu ost- und norddeutschen Städten folgen. Thesen und Interpretationsangebote hat er mit dieser Arbeit genug unterbreitet.

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