C. Hirschi: Wettkampf der Nationen

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Titel
Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit


Autor(en)
Hirschi, Caspar
Erschienen
Göttingen 2005: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
555 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudius Sittig, Institut für neuere Deutsche Literatur, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau

Lang ist die Tradition der nationalistischen Polemik, und scharf sind die vorgetragenen Argumente, mit denen über Jahrhunderte die Ehre der eigenen Nation behauptet und gegen diejenige anderer Nationen abgesetzt wurde. Das argumentative Arsenal für diese Auseinandersetzungen erscheint in Deutschland zum ersten Mal voll ausgebildet um die Wende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit in den Texten der Humanisten, so dass man in ihnen frühe Spuren der Ausbildung eines genuinen deutschen ‚Nationalismus’ sehen wollte. Über diese These wird bereits seit längerem diskutiert. 1

Als gewichtigen Beitrag zu dieser Debatte um die Prozesse gesellschaftlicher Integration in der Vormoderne hat vor Kurzem der Schweizer Historiker Caspar Hirschi eine umfangreiche Studie vorgelegt, die als Dissertation in Freiburg im Üechtland von Volker Reinhardt betreut wurde. Das Reden über die Nation an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit wird darin im Anschluss an jüngere Forschungsansätze 2 mit Hilfe des Diskursbegriffs so beschrieben, dass eine Verständigung zwischen der Forschung zum modernen Nationalismus und der Forschung über die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen ‚nationes’ möglich werden soll. 3 Im Zentrum stehen dabei wiederum die Texte der humanistischen Gelehrten, aber Hirschis Studie greift weiter aus und verfolgt die zentralen Begriffe und Argumente zurück bis in die Spätantike und zieht die Linie bis in die jüngere Vergangenheit. Entstanden ist dabei ein fulminanter ‚tour d’horizon’ – eine Studie, die aus einem gewaltigen Fundus von historischem Material schöpft und ihre pointierten Thesen und Ergebnisse mit bemerkenswerter stilistischer Eleganz präsentiert.

Die Untersuchung setzt mit einem knappen Forschungsüberblick ein, in dem Hirschi zunächst mit wenigen kräftigen Strichen die modernistischen Positionen skizziert, von denen er sich absetzt (Anderson, Hobsbawm, Gellner, S. 23-44). Gegen die behaupteten fundamentalen Differenzen zwischen vormodernem und modernen Nationskonzepten führt Hirschi an, sie ließen sich nicht an den geläufigen Kategorien festmachen, denn entweder seien relevante Entwicklungen schon in der Vormoderne zu beobachten, oder die vermissten Spezifika seien auch für die Moderne nicht zweifelsfrei nachzuweisen. Insbesondere die Unterscheidung von vormodernem Patriotismus und modernem Nationalismus erscheint fragwürdig, denn es war nach Hirschi gerade die zentrale Innovation der Humanisten, den patria-Diskurs mit dem Nationsdiskurs gekoppelt und einen Begriff von nationaler Ehre im Wettstreit mit anderen Nationen entwickelt zu haben.

Das zweite Kapitel der Untersuchung ist darum den historischen Semantiken der Begriffe ‚patria’ und ‚natio’ gewidmet, die Hirschi bis in die Reichsdiskurse des 15. Jahrhunderts verfolgt (S. 77-174). Für den früheren Begriff der ‚patria’ kann Hirschi zeigen, wie seine mittelalterliche religiöse Bedeutung im Rückgriff auf das römische Recht zum disziplinierenden und gleichzeitig sakralisierenden politischen Integrationsbegriff für monarchische Ordnungen umgeprägt wird, zunächst unabhängig von seinen lokalen und regionalen Bedeutungen. Auch am Begriff der ‚natio’ beobachtet Hirschi, wie er im Spätmittelalter ins Zentrum des politischen Diskurses rückt und seine ersten Ordnungsleistungen während des Konstanzer Konzils entfaltet: Hier bilden sich agonale Beziehungen zwischen verschiedenen Interessengruppen, die sich nach ausgehandelten Kriterien als ‚Nationen’ zusammenfinden (S. 135ff.). Schon damit ist tendenziell die Vermittlung zum politischen Diskurs geleistet, verstärkt wird sie durch die Übernahme von Argumenten aus den zeitgenössischen Gravamina (S. 143ff.). Ihre größte politische Valenz erreicht die Verbindung von ‚natio’ und ‚patria’ aber bei Friedrich III. und Maximilian I., die mit einem Vokabular, das auf einen überterritorialen Verband zielte, Unterstützung für die eigenen erbländischen Interessen suchten. Im Kontext dieser habsburgischen Propaganda haben auch die Entwürfe der Humanisten ihren prominentesten Ort.

Im dritten Kapitel untersucht Hirschi den Italien-Diskurs des italienischen Humanismus. Dabei interessiert der Diskurs des italienischen Humanismus sowohl im Vergleich als auch in seinem provokativen Potential – vor allem angesichts des hegemonialen Anspruchs Italiens auf zivilisatorische Überlegenheit. Während in Deutschland zunächst die Imitation italienischer Muster überwiegt, wandelt sich schon in der zweiten Generation der Humanisten die Wahrnehmung: Die fremden Zuschreibungen werden nun als Ehrverletzungen zurückgewiesen. Im zentralen vierten Kapitel setzt Hirschi daher den agonalen, multipolaren und dynamischen Diskurs des deutschen humanistischen Nationalismus gegen den italienischen ab, der eine bipolaren Opposition zwischen Zivilisation und Barbarei konstruiert. Das Agonale des deutschen Diskurses bleibt allerdings weitgehend virtuell und imaginär, weil nicht die tatsächliche kommunikative Auseinandersetzung, sondern nur die Bestätigung der eigenen nationalen Ehre gesucht wurde (S. 263ff.).

Hirschi durchmisst anschließend die bekannten thematischen Felder, auf denen der Gedanke des Wettstreits formuliert wird: von Herrschafts- und territorialen Fragen über Religiosität, Moral und Sitten bis hin zu den Leistungen auf dem Gebiet der mechanischen und der freien Künste, auf dem sich die Humanisten selbst als zentrale Figuren inszenierten (S. 270-296). Mit zunehmender Schärfe diskutiert man nun auch im Reich nach den Diskursregeln der ‚Antibarbaries’. Nach innen gesprochene Appelle gründen auf eine zeitkritische Selbstdiagnose, während nach außen der eigene hohe zivilisatorische Stand behauptet wird (S. 302-319). Im komplementären Diskurs der ‚Antiromanitas’ dagegen werden die pejorativen Fremdzuschreibungen übernommen, um anschließend die Wertungen umzukehren: Gegen die effeminierte dekadente ‚Romanitas‘ steht schließlich das virile ursprüngliche Deutschland, dessen Reinheit verteidigt werden muss (S. 320-347). Ein letzter Abschnitt versucht die soziale Funktion des Nationalismus für die Humanisten herauszuarbeiten und betont die Selbstnobilitierung zum nationalen Geistesadel und den elitären Anspruch auf das Amt nationaler ‚praeceptores‘ (S. 357-379).

Das fünfte Kapitel behandelt die deutschen Nationsdiskurse im Zeitalter Karls V. und der Reformation. Die Verbindlichkeit des Nationsdiskurses ist inzwischen so allgemein, dass sich immer mehr politische Akteure seiner Argumentationsfiguren bedienen. Sie unterwerfen sich dabei nicht nur seinen Regularitäten, sondern sie usurpieren den Begriff der Nation und polarisieren zunehmend seine Verwendungsweisen. Nachdem der Begriff im Vorfeld der Königswahl noch integrative Funktionen erfüllte, wird er zunehmend vor allem für die Kurfürsten zur persönlichen Privilegienlegitimation attraktiv. Damit wird der eben etablierte Gedanke einer nationalen Einheit zu Gunsten partikularer Interessen wieder aufgegeben (S. 404-412). In konfessionellen Auseinandersetzungen werden darüber hinaus die ehemals komplementären Argumentationsmuster der ‚Antiromanitas‘ und der ‚Antibarbaries‘ entweder in die Arsenale des Protestantismus oder in diejenigen des Katholizismus überführt (S. 428-440). Der weitgehend homogene Diskurs des humanistischen Nationalismus, so das Fazit, spaltet sich also seit der Reformation in mehrere Stränge.

Ein knapper Ausblick, in dem die Langzeitwirkungen des humanistischen Nationalismus diskutiert werden, schließt die Studie ab. Hirschi konstatiert darin zwar die kontinuierliche Präsenz der etablierten Nationalstereotypen und mancher Motivkomplexe, verweist aber auf semantische Differenzen und wendet sich damit gegen die Vorstellung, die Texte der Humanisten stünden am Beginn der ‚Pathogenese‘ des deutschen Nationalismus.

Eine so groß dimensionierte Untersuchung, die einen langen Zeitraum umfasst und keinen der ‚üblichen Verdächtigen‘ übergeht, muss einen Balanceakt zwischen generalisierender Betrachtung und detaillierter Untersuchung bewältigen. Das gelingt Hirschi mit beeindruckender Souveränität, wenngleich man wünscht, er möge öfter noch an den historischen Texten vorführen, wie treffend seine brilliant pointierten Charakterisierungen sind (bisweilen begnügt er sich mit bloßen Verweisen auf die Quellen). Hirschis Versuch, das Konzept des Nationalismus in einem großen Bogen von der Spätantike bis in die jüngere Vergangenheit zu spannen, kann darüber hinaus nur gelingen, weil in großem Umfang Vorarbeiten geleistet sind. In der Einleitung gesteht der Autor diese Abhängigkeit von der Forschung explizit ein (S. 14); wenn aber über längere Textpassagen nur die historischen Quellen nachgewiesen werden, dann entsteht der ambivalente Eindruck, dass Hirschi im Regelfall zwar bestens informiert ist, seine geschliffen formulierte Darstellung von den Hinweisen auf die verwendete Forschungsliteratur aber tendenziell entlastet hat. Das ausgebreitete stupende Wissen entzieht sich so bisweilen der Überprüfbarkeit, und damit vermindert sich gleichzeitig der Wert der Arbeit als Informationsquelle für weitere Untersuchungen.

Allerdings: Ein Kompendium will Hirschis Arbeit auch gar nicht sein, sondern ein engagierter Beitrag zur Diskussion, in dem mit leichter Hand ein prägnantes Bild des vormodernen Nationalismus gezeichnet wird. Hirschi gelingt dabei überzeugend der Nachweis, dass die Regularitäten des Diskurses sehr viel tiefer und fester in der Vergangenheit verwurzelt sind als oft angenommen. Und wenn damit am Ende weniger über Kausalitäten und Intentionen gesagt ist, so doch sehr viel über das argumentative Repertoire des nationalistischen Redens, seine historischen Konjunkturen und Autonomisierungsschübe.

Anmerkungen:
1 Vgl. als wichtigen Überblick über die ältere Forschung: Stauber, Reinhard, Nationalismus vor dem Nationalismus? Eine Bestandsaufnahme der Forschung zu "Nation" und "Nationalismus" in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47 (1996), S. 139-165; zur jüngeren Diskussion zuletzt: Reinhardt, Volker, Nation und Nationalismus in der Frühen Neuzeit. Anmerkungen und Thesen zu einer methodischen Diskussion, in: Bosshart-Pfluger, Catherine; Jung Joseph; Metzger, Franziska (Hrsg.), Nation und Nationalismus in Europa. Kulturelle Konstruktion von Identitäten. Festschrift für Urs Altermatt, Frauenfeld 2002, S. 155-178.
2 Vgl. stellvertretend: Münkler, Herfried; Grünberger, Hans; Mayer, Kathrin, Nationenbildung. Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller. Italien und Deutschland, Berlin 1998; Hans Grünberger; Herfried Münkler, Nationale Identität im Diskurs der Deutschen Humanisten, in: Berding, Helmut (Hrsg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Bd. 2., Frankfurt am Main 1994, S. 211–248.
3 Vgl. auch: Hirschi, Caspar: Das humanistische Nationskonstrukt vor dem Hintergrund modernistischer Nationalismustheorien, in: Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 355–396.