Stalinistische Großbaustellen gehören zu den beliebtesten Themen der jüngeren Stalinismusforschung. In Magnitogorsk, dem Belomorkanal, Dneprostroj oder der Stadtgestaltung Moskaus meinen ihre Erforscher/innen die Grundstrukturen und Funktionsmechanismen stalinistischer Herrschaft erfassen zu können. Besondere Beachtung fand hierbei die Moskauer Metro. An ihr wurden in den letzten Jahren sozialwissenschaftliche, technikgeschichtliche sowie kulturgeschichtliche Herangehensweisen erprobt. Dietmar Neutatzs Habilitationsschrift, die den Anspruch in sich trägt, eine Synthese aller neueren Ansätze zu sein, zeichnet solide die Technik- und Sozialgeschichte des Metrobaus nach. Doch bei dem Versuch, die Lebenswelten der Metroarbeiter/innen zu beleuchten, fällt Neutatz stellenweise den offiziösen Darstellungen anheim. So soll es trotz Tempojagd, fehlenden Arbeitsschutzes und der Vielzahl ungelernter Arbeiter/innen weniger als zwanzig Todesfälle gegeben haben.1 Aber wie kam dieser Diskurs über die Metro und den Metrobau zustande, der es noch heute schwer macht, Opfer zu benennen und Distanz zu den Quellen zu wahren?
Hier setzt Nancy Aris mit ihrer Dissertation über die Metro als Schriftwerk an. Nancy Aris spürt in ihrer Dissertation der Entstehung stalinistischer Schreib- und Redepraktiken an dem konkreten Quellenkorpus der Redaktion für die Geschichte der Fabriken und Werke sowie ihrer Unterredaktion der Geschichte der Moskauer Metro nach. Sie möchte zeigen, „wie das Schreiben bzw. Umschreiben von Geschichte im Stalinismus konkret funktionierte“ (S. 9), wie mit Hilfe literarischer Verfahren in den 1930er-Jahren ein spezifisch stalinistisches Geschichtsverständnis umgesetzt wurde, das sich schließlich als neues Geschichtsbewusstsein etablierte.
Der erste Teil der Studie befasst sich mit der Organisationsgeschichte sowie den Implikationen des Projektes, das nur ein Baustein unter vielen in der mehrbändigen Geschichte der Fabriken und Werke war. Mit dieser Reihe verfolgte ihr Initiator Maksim Gorki sowie die Partei drei Ziele: Neben der Abbildung der Industrialisierung und dem Verfassen einer proletarischen Geschichte durch die Arbeiter/innen selbst sollte nicht weniger als der neue Mensch entstehen. Während Gorki jedoch vor allem die Schaffung einer eigenen Arbeiterkultur im Blick hatte, ging es der Partei in erster Linie um die Steigerung der Produktivität. Das alles ist nicht neu.2
Aris gelingt es aber im zweiten Teil detailliert zu zeigen, wie sich diese Ansprüche in der Organisationsstruktur der Redaktion sowie in den Methoden der Materialbeschaffung und Archivierungspraktiken widerspiegelte und wie sie trotz der Maßgaben Stalins und Kaganowitschs eine eigene Dynamik entfalteten. Dabei räumt Nancy Aris vor allem dem Redaktionsarchiv eine besondere Rolle ein. Obgleich Stalin mit seiner Polemik gegen „Archivratten“ und „papierne Dokumente“ das Archiv zum Symbol einer toten, bourgeoisen Wissenschaft degradierte, vertraten die Verantwortlichen der Redaktion weiterhin die Auffassung, dass nur mit Hilfe dokumentarischer Materialien eine Rekonstruktion der Vergangenheit möglich sei.
Leider stellt Nancy Aris diesen Befund in keinen größeren Zusammenhang. Teilweise scheint es, dass Aris die Sammelleidenschaft der Metro-Archivare glorifiziert, wenn sie in dieser einen Beweis dafür sieht, „dass die Durchsetzung zentraler Direktiven im Stalinismus nicht reibungslos und geradlinig funktionierte“ (S. 304). Die Archive in der frühen Sowjetunion bewegten sich gemeinhin zwischen revolutionärem Gebaren und traditioneller Beharrung. In ihren Kernbereichen – Sammeln und Systematisieren – waren sie jedoch gegenüber Moden relativ resistent. Auch das Erstaunen der Verfasserin darüber, dass nur ein Bruchteil des gesammelten Materials in die Publikationen eingegangen ist, kann nicht geteilt werden. Das Archiv als ‚Friedhof der Fakten’ stellt keineswegs den „ganze[n] Akt des Archivierens in Frage“ (S. 57), wie Aris vermutet, sondern war und ist gängige Praxis!
Die Arbeit hätte an Prägnanz gewinnen können, wenn Aris neben den Schreib- auch die Archivierungspraktiken konzeptionell erfasst und deutlicher zueinander in Beziehung gesetzt hätte. Dass Material nicht nur beschafft, sondern durch die Archivare geschaffen wurde, kündigt von einem neuen Archivverständnis und damit ebenso von einer neuen Geschichtskonzeption, die mit Gorkis Überlegungen hätten konfrontiert werden können. Obwohl Aris in ihrer Fallstudie sehr viel interessantes Material präsentiert, gelingt es ihr nicht, Thesen über den Stellenwert von Archiven in sozialen und gesellschaftlichen Umbrüchen zu formulieren.
Bei der Beschreibung der Materialbeschaffung im zweiten Teil richtet Aris ihr Augenmerk vor allem auf die in den einzelnen Bauabschnitten eingesetzten Posten. In ihnen sieht sie eine entscheidende Schaltstelle zwischen Redaktion, Autorenkollektiv und Schacht, die den Arbeitern/innen sowohl Schreibhandwerk als auch die Kriterien des erwünschten Idealtexts vermittelten. Obgleich sich ihre Arbeit in den beiden publizierten Bänden kaum niederschlug, waren es doch die Posten, die erzieherische Aufgaben übernahmen und über das regelmäßige Schreiben der Arbeitertagebücher wachten.
Von diesen Tagebüchern erhofften sich die Initiatoren viel. Sie galten als geeignetes Mittel erzieherisch wirksamer Selbstreflexion sowie als Möglichkeit äußerer Kontrolle. Durch die „Tagebuchmethode“ sollte die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichen durchbrochen sowie ein proletarisches Geschichtsverständnis durchgesetzt werden. Die Überlegungen gingen jedoch nicht auf. Die Arbeiter griffen nur zögerlich zur Feder, zudem hielt die Begeisterung für die Fremd- und Selbstüberwachung nicht lange an. Die wenigen Tagebücher erwiesen sich inhaltlich für die Publikation in weiten Teilen als unbrauchbar, so dass man ab 1934 Befragungen zur Materialerhebung einsetzte. Die Geschichtskonzeption Gorkis, in der der/die Arbeiter/in sowohl Subjekt als auch Autor/in sein sollte, war damit obsolet, obgleich das Autorenkollektiv offiziell nicht von ihr abrückte.
Am spannendsten ist der dritte Teil der Dissertation. Die Verfasserin zeigt, wie die Geschichte der Metro verfasst und mehrfach umgeschrieben wurde. Dabei stellt sie verschiedene Verfahren der Textmanipulation wie zum Beispiel die leitmotivische Organisation des Textmaterials, Dekontextualisierung sowie die in den Texten inszenierte Oralität vor. Folgerichtig problematisiert sie im Anschluss die Frage nach einer spezifischen stalinistischen Form von Autorschaft, wobei sie sich explizit von den Arbeiten Katerina Clarks, Vladimir Papernys und Evgeni Dobrenkos abwendet, die ihrer Ansicht nach „gegen die stalinistische Repression anschreibend“ fälschlicherweise das „Bild eines freien, autonomen Autors“ (S. 283) reklamiert hätten.
Wie es sich in literaturwissenschaftlichen Kreisen ziemt, zitiert Nancy Aris in diesem Zusammenhang Michel Foucault und Roland Barthes, ohne jedoch ihren Autor-Begriff zu dem (post)strukturalistischen in Beziehung zu setzen, geschweige denn auf die Unterschiede zwischen Foucault und Barthes hinzuweisen. Fragwürdig werden ihre Ausführungen an der Stelle, wo sie entzückt zum „Tod des Autors“ konstatiert, dass es diesen „auch in der westlichen Kultur nicht gegeben hat“ (S. 283). Heikel ist dies, da Aris an mehreren Stellen den Mangel an „authentischen Privatdokumenten“ (S. 13-14) außerhalb des Schreibprojektes bedauert, ohne dass sie die damit einhergehenden Implikationen zur Autorschaft dieser Texte in ihre Überlegungen mit einbezieht. Diese Untiefen hätte Aris mit einer klareren Begrifflichkeit zur ‚Autorschaft’, ‚Autorfunktion’ und ‚Authentizität’ umschiffen können. Näher an Foucault als an Barthes versteht Aris den Autor als juristische Figur, dessen Urheberrechte am ursprünglichen Text beschnitten wurden und dessen Autorschaft in der Geschichte der Moskauer Metro nicht individuell, sondern transpersonal und inszeniert war.
Getrübt wird das Bild auch dadurch, dass Aris wichtige Arbeiten mit ähnlichen Fragestellungen nicht rezipiert hat. Vor allem fehlt eine Auseinandersetzung mit den Thesen Michail Ryklins über den Metrodiskurs.3 Er konnte am gleichen Quellenmaterial zeigen, wie die Fachsprachen der Handwerker und Ingenieure dem offiziellen Diskurs weichen mussten. Während Aris die Gleichschaltung der Biografien aufzeigt, entdeckt Ryklin gegenläufige Schreib- und Redepraktiken, die den Dingen einen pseudopersönlichen Charakter verliehen. So wandelt sich eine bloße Schaufel zur „Razin-Schaufel“, das Wasserkühlsystem wird zum „Wasserkühlsystem Worobew“. Zudem äußert Ryklin auf höchst anregende Weise Hypothesen über die Wirkmächtigkeit des Metrodiskurses bis in die Gegenwart hinein, wohingegen Aris die Rezeption des Geschichtswerkes ausblendet.
Nancy Aris hat eine interessante Studie verfasst. Besonders gelungen sind jene Kapitel, in denen sie die literarischen Verfahren aufdeckt, die für das Schreiben und Umschreiben der Metro-Geschichte benutzt wurden. Jedoch glückt es Nancy Aris nicht immer, ihre Ergebnisse in größere Zusammenhänge zu stellen und an bisherige Forschungen anzuschließen.
Anmerkungen:
1 Neutatz, Dietmar, Die Moskauer Metro. Von den ersten Plänen bis zur Großbaustelle des Stalinismus, Köln 2001, S. 230-231, 576.
2 Zuletzt: Clark, Katerina, "The History of the Factories" as a Factory of History: a Case Study on the Role of Soviet Literature in Subject Formation, in: Hellbeck, Jochen; Heller, Klaus (Hgg.), Autobiographical Practices in Russia - Autobiographische Praktiken in Russland, Göttingen 2004, S. 251-278.
3 Ryklin, Michail, Metrodiskurs I, in: ders., Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz, Frankfurt am Main 2003, S. 87-110; Ryklin, Michail, Metrodiskurs II, in: ders., Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz, Frankfurt am Main 2003, S. 111-133.