„Nach dem Ende der Kontroverse zwischen […] Modernisierungstheorie und Dependenztheorie fehlt eine Sprache, mit der die Wandlungsprozesse staatlicher Herrschaft außerhalb Europas beschrieben werden könnten. […] Die vorliegende Arbeit [eine Frankfurter politikwissenschaftliche Habilitationsschrift] soll diesem Missstand abhelfen.“ (S. 12) Sie beginnt mit einer Kritik der Theorie der internationalen Beziehungen, die kurzschlüssig unterstellt, dass die weltweite Verbreitung des westlichen Staatsmodells auch bedeute, dass innere Struktur und äußere Beziehungen aller Staaten diesem Modell entsprächen. Das sei die implizite, aber unangemessene Voraussetzung der infolgedessen nicht ganz zutreffenden Rede vom „Staatsversagen“ oder gar „Staatszerfall“ in der „Dritten Welt“. Stattdessen käme es darauf an, den Staat innen- wie außenpolitisch wieder in seinen gesellschaftlichen Kontext einzubetten, was mit Schlichtes Rede von der Weltgesellschaft gemeint ist: die ungleich weit gediehene Entwicklung der „bürgerlichen Gesellschaft“ westlichen Zuschnitts einerseits, die Abhängigkeit von weltweiter, vor allem wirtschaftlicher Verflechtung andererseits. Damit wird der Staatsbegriff dynamisiert, der Staat wird aus einem „unitären Akteur“ zu einem „Machtfeld, in dem verschiedene Akteure um Geltungen streiten und mit ihren Praktiken teils staatliche Ansprüche stärken und realisieren, sie aber auch teils negieren und obstruieren“ (S. 291). Das liegt am allgegenwärtigen Widerstreit depersonaliserter Herrschaft im Sinne des modernen westlichen Staatsmodells und personalisierter Herrschaft im Sinne afrikanischer, asiatischer und lateinamerikanischer Traditionen auf demselben politischen Feld. Nicht die Gleichzeitigkeit eines modernen und eines traditionalen Sektors ist das Problem, sondern die gleichzeitige Wirksamkeit moderner und traditionaler Momente im selben Apparat, in der Bürokratie, in der Armee usf. An den politischen Dilemmata des ugandischen Staatschefs Musevini führt Schlichte das aufgrund eigener Recherchen exemplarisch vor, im Rest des Buches diskutiert er die Dinge dank umfassender Literaturkenntnis auf hohem Abstraktionsniveau; konkrete Fälle werden selten genauer angesprochen.
Den unvollständigen, auf alle Fälle vielgestaltigen Prozess der Umwandlung von Macht in institutionalisierte Herrschaft untersucht er mit Hilfe einer Theorie staatlicher Herrschaft, die m.E. durchaus erfolgreich den bekannten kategorialen Apparat Max Webers mit weiterführenden Vorstellungen zur Entwicklung von Macht und Herrschaft nach Marx, Bourdieu, Elias und Foucault anreichert, die vor allem für eine Prozessualisierung, Verzeitlichung, Historisierung des Staatsbegriffs hilfreich sind. Ergänzend weist er aber von vorneherein darauf hin, dass im Rahmen dieser Deutung zusätzlich einerseits eine im Westen ausbildete allgemeine Vorstellung davon berücksichtigt werden muss, was einen Staat ausmacht und was von einem Staat erwartet werden kann, andererseits aber auch die verschiedenartigen historischen Grundlagen der jeweiligen Gemeinwesen aus vorkolonialer, kolonialer und nachkolonialer Zeit in die Untersuchung eingebracht werden müssen. Die konkrete Untersuchung konzentriert sich auf drei Felder von zentraler Bedeutung, zunächst das in der Regel höchst unvollständig verwirklichte innere und äußere Gewaltmonopol. Nach Behandlung der autonomen Rolle des Militärs und der üblichen Unzulänglichkeit der Polizei kommen sechs sich teilweise zeitlich ablösende „Realtypen“ der zahlreichen außerwestlichen Kriege zur Sprache, einschließlich der Frage, warum sich der Krieg anders als in der europäischen Geschichte hier nicht als Motor der Staatsbildung erweisen kann. Bei der Diskussion der weltgesellschaftlichen Zusammenhänge bewaffneter Konflikte wäre m.E. eine stärkere Berücksichtigung von Martin van Crevelds Modell künftiger Kriege sinnvoll gewesen. Denn auch Schlichte erkennt ähnlich wie jener neben der Militarisierung des Politischen eine Tendenz zur weiteren Privatisierung der Gewalt bei gleichzeitiger Internationalisierung.
Im Unterschied zum Gewaltproblem fehlt es an empirischen Untersuchungen zur Finanzierung des nicht-westlichen Staates. Wir wissen aber, dass er unterfinanziert ist, weil er die Entwicklung zum Steuerstaat nur unvollkommen mitmachen konnte, sich stattdessen eher von „Renten“ und dergleichen ernährt, soweit er nicht am Tropf internationaler Hilfe und Kredite hängt. Das sind Folgen der kolonialen Programmierung der Wirtschaft postkolonialer Staaten und ihrer Fortschreibung durch die internationalen Institutionen, die sich an den neo-liberalen Vorstellungen ihrer westlichen Geldgeber orientieren müssen. Die Produktion staatlichen Rechts nach westlichem Vorbild, Schlichtes drittes Untersuchungsfeld, lässt zwar nichts zu wünschen übrig – einige Staaten Afrikas haben die juristisch perfektesten Verfassungen der Welt. Aber die Durchsetzungsmöglichkeiten sind äußerst begrenzt, allenfalls auf bestimmte Sektoren der Gesellschaft beschränkt, während anderswo nicht-staatliche Regelungen vorherrschen. Entsprechend schwach fällt die staatliche Semantik aus, entsprechend ausgeprägt ist ein staatliches Legitimitätsdefizit.
Dennoch handelt es sich keineswegs um eine politische Jeremiade, denn erstens lassen sich bisweilen durchaus Momente eines relativen Wachstums der Staatsgewalt in Konkurrenz mit den gegenläufigen Tendenzen erkennen, zweitens ist die informelle „Herrschaft der Intermediäre[n]“ im Sinne Hibous und Trothas gemäß Schlichtes Ansatz keineswegs als bloße Verfallsform, sondern durchaus als ernsthafte Alternative zu betrachten, vor allem, wenn man bedenkt, dass sich verwandte Privatisierungstendenzen auch in den „Verhandlungsdemokratien“ des Westens abzeichnen. Allerdings dürfte sich die Entwicklung des Staates weltweit nicht auf einen Konvergenzpunkt hin bewegen. Insofern stellt Schlichte ein zwar Konzept bereit, das aber, wie er selbst feststellt (S. 296-299), wegen seiner grundsätzlichen Bejahung der Historizität der inhaltlichen Konkretisierung durch ethnologische, historische und soziologische „dichte Beschreibung“ der verschiedenen Einzelfälle bedarf.
Schlichtes zu diesem Zweck benutzte erneuerte Theoriesprache erscheint nicht zuletzt dank ihrer empirisch gesättigten Verständlichkeit dafür gut geeignet. Dass „Logik“ und „Dynamik“ allerdings ständig im Plural auftreten müssen, dürfte ein überflüssiges Zugeständnis an den modischen Bedeutsamkeitsjargon sein. Ich konnte keine Stelle finden, wo der Singular nicht genügt hätte. In der Sache handelt es sich aber um einen gelungenen Versuch, die nach dem „Ende der großen Theorie“ auf Einzelfallstudien oder höchstens auf Vergleiche reduzierte Forschung wieder zur „großen Erzählung“ vom „Staat“ in der „Dritten Welt“ zu ermutigen.