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Titel
Vor Gericht. Deutsche Prozesse in Ost und West nach 1945


Autor(en)
Flemming, Thomas; Ulrich, Bernd
Erschienen
Berlin 2005: be.bra Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Krause, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Es gibt verschiedene Wege, die politisch-gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands nach 1945 zu beschreiben und sich mit ihr kritisch auseinanderzusetzen. So kann man sich an das Projekt einer Gesamtdarstellung der deutschen Nachkriegsgeschichte machen, die alle gesellschaftlichen Bereiche umfasst. Man kann aber auch versuchen, mit Hilfe der Analyse ausgewählter Teilbereiche zu Aussagen über die Gesellschaft als Ganze zu gelangen. Beide Herangehensweisen haben ihre Berechtigung und ihren Reiz.

Die beiden Historiker und Publizisten Thomas Flemming und Bernd Ulrich haben sich dafür entschieden, die Entwicklung Nachkriegsdeutschlands anhand Aufsehen erregender historischer Kriminalfälle und politischer Strafverfahren näher zu betrachten. Dabei gehen sie davon aus, dass auch Prozesse Geschichte „machen“. Prozesse, so Flemming und Ulrich in ihrer knappen Einleitung, „beeinflussen historische Entwicklungen oder bilden Kulminationspunkte für gesellschaftliche Strömungen, die zuvor untergründig verliefen und nun vor den Schranken des Gerichts zu Tage treten. Kurz: In ihnen – und nicht zuletzt in ihrem öffentlichen Echo – verdichten sich politisch-gesellschaftliche Entwicklungen“ (S. 8). Für das vorliegende Buch haben sich Flemming und Ulrich 16 mehr oder weniger bekannten Fällen aus fünf Jahrzehnten zugewandt.

Im Einzelnen handelt es sich um folgende Prozesse bzw. Fälle: der bis heute rätselhaft anmutende Fall des ersten Präsidenten des bundesdeutschen Verfassungsschutzes Otto John, der 1956 in die DDR überwechselte; die so genannten Waldheimer Prozesse von 1950 gegen NS-Täter in der DDR; die Prozesse gegen Beteiligte des Aufstandes am 17. Juni 1953; der spektakuläre Fall der ermordeten Prostituierten Rosemarie Nitribitt 1957; das Verbot der KPD 1956; die Prozesse gegen die DDR-Dissidenten Harich und Janka 1957; die Spiegel-Affäre 1962; der Mordprozess gegen Vera Brühne 1962; der Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963-1965; der Prozess gegen den Kindermörder Jürgen Bartsch 1967; der Baader-Meinhof-Prozess 1975-1977; der Fall des „Kanzlerspions“ Guillaume 1975; die Prozesse gegen Stefan Krawczyk und andere Kritiker der DDR 1988; das Verfahren gegen Erich Honecker und weitere Mitglieder des SED-Politbüros 1992/93 sowie die Prozesse gegen die Brandstifter von Mölln und Solingen 1993/94.

Diese Auswahl begründen Flemming und Ulrich eher knapp und allgemein, indem sie zutreffend darauf hinweisen, dass sich in den genannten Gerichtsverfahren „der gesellschaftliche Zustand in seinen politischen, kulturellen und moralischen Aspekten verdichtet und im öffentlichen Echo widerspiegelt“ (S. 10). So bietet beispielsweise das Kapitel über die „Waldheimer Prozesse“ gegen mehr als 3.400 von der sowjetischen Armee wegen NS-Verbrechen oder Vergehen gegen die Besatzungsherrschaft internierte und dann an die DDR überstellte Männer und Frauen einen guten Einblick in die verordnete Ideologie des Antifaschismus in der DDR der 1950er-Jahre. Die DDR-Justiz war hier, wie der entsprechende Beitrag deutlich herausarbeitet, ein williges Instrument der SED; auf stichhaltige Beweise, individuelle Schuld und rechtsstaatliche Verfahren kam es nicht an. Bemerkenswert ist der Hinweis von Flemming und Ulrich, dass nach den Waldheimer Prozessen in der DDR die Zahl der Verfahren gegen NS-Täter rapide zurückging. Offensichtlich war die SED mit ihrem antifaschistischen Signal zufrieden und ihr Interesse an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der NS-Zeit wenig ausgeprägt.

Im Kapitel zum Frankfurter Auschwitz-Prozess wird demgegenüber nicht nur herausgearbeitet, wie schwer man sich in der Bundesrepublik damit tat, sich der Vergangenheit zu stellen und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, sondern es wird auch deutlich, wie die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit im Laufe der Zeit immer wichtiger und seit dem Ende der 1950er-Jahre allmählich zu einem zentralen gesellschaftlichen Diskussionsthema wurde. Während also „im Osten“ schon früh ein vorgeblich „klarer Schnitt“ mit der Vergangenheit gemacht wurde und man die Überwindung des „Faschismus“ proklamierte, ging man „im Westen“ einen langen und mühsamen Weg, bis man sich zur offeneren und stets strittig bleibenden Auseinandersetzung mit den Verbrechen bereitfand.

Eine ganz andere Facette der deutschen Nachkriegsgesellschaft spiegelt sich in den Fällen Bartsch und Nitribitt. So demonstriert das Kapitel über den Kindermörder Bartsch, der vier Jungen grausam umgebracht hatte, wie nicht nur die deutsche Justiz, sondern auch die deutsche Öffentlichkeit mit psychisch kranken Straftätern bis weit in 1960er-Jahre umzugehen pflegte. So wurde im erstinstanzlichen Urteil von 1967 die Zurechnungs- und Schuldfähigkeit Bartschs nicht bezweifelt und auf ein Strafmaß von fünfmal lebenslänglich entschieden. Erst im Wiederaufnahmeverfahren von 1971 wurden psychologische Gutachten zu Rate gezogen und die „psychosexuelle Störung“ berücksichtigt, die Bartsch selbst „aufgrund traumatischer Erlebnisse in der Kindheit“ davongetragen hatte (S. 140). Dies war eine „Neuigkeit in der deutschen Rechtsprechung“, wie Flemming und Ulrich schreiben (ebd.). Das auf dieser Grundlage gefällte Urteil behandelte Bartsch nicht mehr primär als Kriminellen, sondern als psychisch kranken Gewalttäter, und sah nun die Einweisung in die Psychiatrie vor. In ihren Betrachtungen zum zeitgeschichtlichen Kontext des Prozesses zeigen Flemming und Ulrich sehr anschaulich, wie stark der Fall Bartsch die Öffentlichkeit beschäftigte und wie in den Debatten um das angemessene Strafmaß und den Umgang mit Sexualverbrechern wichtige gesellschaftliche Fragen ineinanderflossen. Auf der einen Seite stand das nicht zuletzt aus Angst gespeiste Vergeltungsbedürfnis weiter Teile der Bevölkerung, die in Bartsch geradezu die Verkörperung des Bösen sahen und die härtesten Strafen forderten. Und auf der anderen Seite äußerten sich jene, die wie Ulrike Meinhof auf die Bedeutung der gesellschaftlichen Bedingungen und des familiären Umfelds als Ursache für die psycho-pathologischen Störungen Bartschs hinwiesen.

Auch für den Fall der 1957 ermordeten Prostituierten Rosemarie Nitribitt gelingt es Flemming und Ulrich, relevante gesellschaftliche Grundströmungen aufzuzeigen: nämlich jene Doppelmoral, die sich um das Thema Sexualität und Prostitution rankte. Die Empörung über das anrüchige Gewerbe der „käuflichen Liebe“ ging einher mit dem nachgerade voyeuristischen Vergnügen an den delikaten Einzelheiten der vermeintlichen oder tatsächlichen amourösen Abenteuer der Nitribitt. Die Massenmedien bedienten diese Lust am Anstößigen, indem sie – allen voran der Publizist Erich Kuby – ausführlich über den Fall und die letztlich ergebnislose Suche nach dem Täter berichteten. Dass hierbei auch ausgiebig über die (angeblichen) Kontakte des „Mädchens Rosemarie“ (so der Titel eines erfolgreichen Spielfilmes von 1958 mit Nadja Tiller) zu Honoratioren aus Politik und Wirtschaft gemunkelt wurde, erhöhte den Skandalwert und die Verkaufszahlen der bunten Blätter und Bilder erheblich. Hier liefern Flemming und Ulrich nicht nur einen interessanten Blick auf die Sexualmoral der späten 1950er-Jahre, sondern auch auf die Boulevardpresse in dieser Zeit.

Die Beschreibung der Spiegel-Affäre macht deutlich, wie fragil die Pressefreiheit in den frühen 1960er-Jahren noch war und wie engagiert sie – gerade auch von der jüngeren Generation – eingefordert und verteidigt wurde. Das Kapitel über den Baader-Meinhof-Prozess 1975-1977 bietet eine gute Zusammenfassung der Ereignisse und Entwicklungen, die im Nachgang der studentischen Revolte von 1968 letztlich im Terrorismus mündeten. Dabei arbeiten Flemming und Ulrich anschaulich die „Fehlwahrnehmungen“ (S. 145) jener Jahre heraus, durch die diese Eskalation hin zur Gewalt begünstigt wurde. Während die bürgerliche Gesellschaft der Bundesrepublik durch die Provokationen der „68er“ irritiert bis verängstigt wurde, sahen nicht wenige der „damaligen Linken“ die Bundesrepublik auf den Weg in eine „faschistische Diktatur“ (S. 145) – eine vielschichtige politische Verwirrung, die schließlich in Mord und Selbstmord endete und die Republik nachhaltig veränderte.

Zusammengenommen bietet das Buch von Flemming und Ulrich trotz kleinerer Schwächen einige sehr interessante Einblicke in die Geschichte und Geschichten Deutschlands nach 1945. Sicher ist die Auswahl der beispielhaft betrachteten Prozesse und Strafverfahren diskutierbar. So fragt man sich, ob es in der DDR nicht auch gesellschaftlich relevante Strafprozesse und Gerichtsverfahren mit weniger offensichtlich politischem Hintergrund geben hat und ob nicht hier und dort ein wichtiger Prozess hinzugefügt werden sollte. Zu denken wäre etwa an die Prozesse im Zusammenhang mit den Sitzblockaden vor amerikanischen Militärstützpunkten während der Proteste gegen die NATO-Nachrüstung oder die Klagen gegen den Bau von Kernkraftwerken und die Startbahn West des Frankfurter Flughafens. Auch wünscht man sich stellenweise mehr Informationen zum Hergang der Prozesse sowie zum Verhalten und den Motiven der daran Beteiligten – Informationen, die durch den eher journalistischen Stil mitunter etwas zu kurz kommen. So ist die Beschreibung der Prozesse gegen Stefan Krawczyk und andere Kritiker der DDR 1988 leider sehr kurz und knapp geraten. Dennoch bietet das Buch eine interessante kleine Geschichte Nachkriegsdeutschlands anhand von Prozessen, die Vergessenes in Erinnerung ruft und vor allem zum Weiterlesen anregt.

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