Der Soziologe Klaus Holz, ein durch zahlreiche Beiträge in wissenschaftlichen Zeitschriften, vor allem aber durch seine Habilitationsschrift über „Nationalen Antisemitismus“ ausgewiesener Antisemitismusforscher, hat nun einen Band über den gegenwärtigen Antisemitismus vorgelegt.[1] Während ich dieses Buch für h-soz-u-kult las, erreichte mich der Hinweis, dass in Lars Rensmanns Erfolgsbuch „Demokratie und Judenbild“ schwere Vorwürfe gegen Holz erhoben würden.[2] Diesen Sachverhalt kann eine Rezension nicht übergehen, noch dazu, wenn besagter Vorwurf lautet, ein Text von Holz offenbare „eine antisemitische Wahrnehmungsstruktur“ (S. 89). Vorab also ein kurzer Blick in Rensmanns (von Hajo Funke betreute) Dissertation, um dies zu klären. Rensmann schreibt: „Der antisemitische Antizionismus ist folgerichtig auch heute nicht auf autoritäre kommunistische Gruppen und Parteien beschränkt. Auch in der sich selbst als undogmatisch verstehenden Linken avisiert er heute neue politische Mobilisierungsversuche und Kampagnen.“ (S. 318) Es folgen die Namen Klaus Holz, Elfriede Müller und Enzo Traverso, die Rensmann zufolge in einem „programmatischen Dossier“ über den israelisch-palästinensischen Konflikt behaupteten: „Schuld sind einzig die Juden, und zwar auch an der Ermordung ihrer Kinder.“ (S. 319)[3] Das „Dossier“, um das er hier geht, ist nachzulesen.[4] Dort heißt es jedoch (eigentlich unmissverständlich), Juden seien in der Wahrnehmung einer Fraktion der deutschen Linken ausschließlich Opfer des Antisemitismus: „Damit“, so Holz, Traverso und Müller, „werden die PalästinenserInnen zum Sündenbock einer linksdeutschen Trauerarbeit.“ Im Folgenden wird von ihnen ausgeführt, dass „die Juden“ derart „nur noch [als] eine metonymische Figur“ fungieren, „in der die Ermordeten von gestern die Unterdrücker von heute überlagern.“ Beides sei wahr, „ohne dass das eine das andere erklärt oder gar legitimiert.“ Das „Dossier“, das durchaus provokativ sein will, beleuchtet jedoch eingangs gerade die Täter-Opfer-Umkehr als maßgebliches Moment eines Antisemitismus nach Auschwitz, um dann wie folgt daran anzuknüpfen: „Unsere Kritik richtet sich vor allem gegen die linken Positionen, die eine bedingungslose Solidarität mit Israel und generell der Judenheit einfordern. Denn auch sie benutzen den Nahostkonflikt nur als Projektionsfläche. Sie setzen der antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr eine Verabsolutierung des Täter-Opfer-Modells entgegen.“
Rensmann tritt mit seiner Dissertation selbstbewusst als Neubegründer einer „Politischen Psychologie“ auf, der endlich dem Theoriedefizit der Antisemitismusforschung abhelfe und zudem die jahrzehntelang brachliegende Anknüpfung moderner Sozialwissenschaft an die Kritische Theorie leiste. Das erinnert an Daniel J. Goldhagens spektakulär lancierte Studie „Hitlers Willing Executioners“; Rensmann macht sich mit Goldhagens vielstimmig widerlegter These eines spezifisch deutschen „eliminatorischen Antisemitismus“ gemein; und er kultiviert eben jene Züge der Goldhagen’schen Arbeit, die deren Problematisierung seinerzeit so zwingend gemacht haben. Zu nennen sind hier verkürzende Zitate, das Ausblenden von konkurrierenden Ansätzen, die Unterschlagung von Quellen oder bestimmten Aspekten dieser Quellen, die der These zuwiderlaufen, und nicht zuletzt die pauschale Abqualifizierung nahezu sämtlicher FachkollegInnen. Gerade in Rensmanns Analyse des Goldhagenstreits als Katalysator antisemitischer Einstellungen in der jüngsten Vergangenheit wird dieses Verfahren kultiviert: Eberhard Jäckel und Hans Mommsen etwa wird implizit unterstellt, sie hätten willentlich den Antisemitismus als Ursache des Holocaust ausgeblendet (vgl. S. 337, 346f.), jüngeren Forschern wie Uffa Jensen attestiert der Politpsychologe ebenso wie Big Names vom Schlage eines Hans-Ulrich Wehler Antisemitismus bzw. einen autoritären Charakter (vgl. S. 354, 343). Letzteres ist sein monokausales Erklärungsmuster für jeglichen bundesrepublikanischen Antisemitismus.
Rensmann gebärdet sich in seiner Dissertation wie ein „Goldhagen der Antisemitismusforschung“ und gerät mit seiner Perspektive, widerstreitende Positionen selbst in der wissenschaftlichen Binnendifferenzierung als wahlweise autoritär, antisemitisch, antizionistisch etc. zu brandmarken, in gefährliche Nähe zu sogenannten antideutschen Verschwörungstheorien. Dem Rezensenten bleibt zunächst die Aufgabe, im Anschluss Holz’ „Die Gegenwart des Antisemitismus“ vorzustellen. Die Vorwürfe Rensmanns lassen sich an dieser Schrift ebenso wenig wie an den anderen Werken von Holz verifizieren, so dass sie in aller Entschiedenheit zurückzuweisen sind. Eine kritische Re-Lektüre der Rensmann-Dissertation indes scheint angesichts der hier nur angerissenen Verwerfungen dringend geboten. Auch die bei h-soz-u-kult erschienene Rezension geht auf keines der hier aufgezeigten Probleme ein.[5] Wie abwegig der Vorwurf ist, Holz pflege einen „antisemitischen Antizionismus“, zeigt auch sein jüngstes Buch. In diesem wird gerade der Antizionismus als eine die „Gegenwart des Antisemitismus“ zunehmend dominierende Ausprägung analysiert.
Alle Aspekte, die Holz’ neues Werk auszeichnen, können je nach Standpunkt des Betrachters sowohl für als auch gegen dieses Buch sprechen. Dies liegt jedoch überhaupt nicht an seiner inhaltlichen Positionierung, sondern allein an seiner bewusst nicht als genuiner Forschungsbeitrag konzipierten Anlage. Zunächst ist festzustellen, dass der Band mit seinen 113 Seiten eigentlich ein Bändchen ist, das streckenweise ältere, bereits an anderer Stelle veröffentlichte Aufsätze des Autors bündelt. Die Belege verweisen oft auf Holz’ eigene Schriften, die umfangreiche Forschungsliteratur zum Thema wird im Text kaum, in den Fußnoten nur punktuell erwähnt.
Bei einem rein wissenschaftlichen Werk wäre manches davon kritikwürdig. Doch wie selten kommt es vor, dass ein ausgewiesener Fachmann sich die Mühe macht, Forschungsbefunde so aufzubereiten, dass auch interessierte Laien nicht abgeschreckt werden, gleichzeitig aber keine Verflachung der Inhalte stattfindet? Eben weil derartige Einführungen, die nicht bloß sog. „Basics“ vermitteln wollen, so rar gesät sind, ist dieses Bändchen umso willkommener. Holz hat seine Beiträge nicht einfach addiert, sondern in eine zusammenhängende und nachvollziehbar voranschreitende Argumentation eingebettet. Sicher hätte der wissenschaftliche Leser gerne Originalbelege und nicht den Hinweis auf ein anderes Einführungsbuch [6], wenn etwa von der Quantifizierung der Antisemiten in der europäischen Bevölkerung die Rede ist. Der Verweis, den Holz gibt, ist indes keineswegs „faul“: ermöglicht er doch den schnellen Zugriff auch für Laien, denen nicht ganze Forschungsbibliotheken zur Verfügung stehen. Dass indes auch die Forschung Holz’ Buch mit Gewinn lesen kann, belegen etwa die Ausführungen über Martin Walsers bis heute umstrittene Friedenpreis-Rede von 1998. Wer kennt schon Holz’ kurzen Aufsatz über die antisemitischen Implikationen dieser Rede, der 1999 versteckt in der Abteilung Rezensionen der „Kultursoziologie“ erschien?[7] Durch die Zusammenfassung im vorliegenden Band wird Holz’ damaliger Beitrag, einer der hellsichtigsten Beiträge zur ersten Walser-Debatte, einer weiteren Leserschaft erschlossen. Das gleiche gilt für Holz’ Ausführungen zur antisemitischen „Figur des Dritten“, die konzis ein wichtiges antisemitisches Konstrukt auch jenen erklärt, die sich nicht an Holz’ 500 Seiten starke Habilschrift herantrauen.
Zum Inhalt: Ein zentrales Anliegen dieser Schrift ist die Zurückweisung der These, es gebe so etwas wie einen „neuen Antisemitismus“ islamistischer Prägung in Europa, der sich grundlegend vom althergebrachten Judenhass des Westens unterscheide. Demgemäß gilt Holz’ Hauptaugenmerk zunächst dem islamistischen Antisemitismus auf knapp 40 Seiten, während demokratischer und antizionistischer Antisemitismus jeweils mit dem halben Umfang auskommen müssen. Unstrittig sei die durch empirische Studien belegte massive Israel- und judenfeindliche Einstellung vieler arabischstämmiger Immigranten. Zumindest für Deutschland lasse sich damit jedoch nicht die sprunghaften Anstiege antisemitischer Gewalttaten nach 1989 und 2001 erklären: Hier sind Rechtsradikale nach wie vor die Haupttätergruppe. Auch wehrt sich Holz gegen die simple Rückkoppelung von arabischer Herkunft und islamistischem Antisemitismus: „Vielmehr manifestiert sich der Antisemitismus in Einwanderergruppen häufig erst aufgrund ihrer Erfahrungen im Einwandererland. Zu den Voraussetzungen gehört ihre soziale, rassistisch und religiös begründete Ausgrenzung“ (S. 9).
Holz konzentriert sich im ersten Kapitel auf die Semantik des Antisemitismus. Am Beispiel der islamistischen Aneignung dieser Semantik zeigt er auf, dass sich die grundlegenden Muster nicht verändert haben und sowohl im sozialistischen bzw. linken Antizionismus wie im europäischen Rechtsradikalismus und im Islamismus in gleicher Gestalt aufscheinen. Um dies zu belegen, muss der Autor klarstellen, was er überhaupt unter Antisemitismus versteht: „(…) eine spezifische Semantik, in der ein nationales, rassisches und/oder religiöses Selbstbild mit einem abwertenden Judenbild einhergeht. (…) Die dominante Funktion des Antisemitismus ist identitätsstiftende Weltdeutung“ (S. 10). Der Judenhass fungiert, so Holz einleuchtend, nie als Selbstzweck, sondern hat jeweils einen handfesten politischen Nutzen. Die islamistische Rückbesinnung auf eine streng muslimische Identität hat wenig mit der überlieferten Glaubenslehre zu tun, viel jedoch mit einer modernen „Ideologie mit einer antimodernen Semantik (…). Jeder Antisemitismus erhebt eine umfassende Klage gegen die moderne Gesellschaft und gegen die Zerstörung der angeblich traditionellen, harmonischen und authentischen Lebensformen“ (S. 21/23).
Holz arbeitet heraus, dass sich die seit 1945 gerade wegen Auschwitz existierende europäische (er nennt es demokratische) Judenfeindschaft zunehmend auch für einen Antizionismus öffnet, der Okzident und Orient zumindest in dieser Angelegenheit anschlussfähig macht. Dass der besagte Antizionismus in erster Linie noch heute eine stalinistische Prägung aufweise, dass dieses Phänomen auch im radikalen Islam erst ein Konstrukt des 20. Jahrhunderts und zudem ein Import aus Europa ist, veranschaulicht der Autor kenntnisreich anhand der Schriften Amin al-Husainis und Said Qutbs, beide wichtige Ideengeber eines arabischen Antisemitismus im 20. Jh., sowie der Charta der Hamas von 1988. Das ganze europäische Arsenal klassischer judenfeindlicher Zuschreibungen findet sich in den arabisch-antisemitischen Programmschriften wieder; Holz fasst dies unter die Leitbegriffe einer in Opposition gesetzten „Gemeinschaft und Gesellschaft“, der Unterstellung von „Macht und Verschwörung“, der Exterritorialisierung der Juden durch die „Figur des Dritten“ und die Kollektividentifikationen „Nation und Religion“. Seine Schilderung der Funktion dieser Semantik gibt somit auch einen Überblick über antisemitische Stereotype und Projektionen. Dass diese Informationen nicht vorrangig an den Nationalsozialismus zurück gebunden werden, sondern anhand aktuell beobachtbarer Anlässe veranschaulicht werden, macht Holz’ Band (angesichts der weit verbreiteten Klage über die omnipräsente Konfrontation mit der NS-Vergangenheit) für interessierte Laien möglicherweise umso attraktiver. So wird quasi nebenbei eine Einführung in die Problemfelder des Antisemitismus und des Antizionismus mitgeliefert.
Und was ist mit dem viel beschworenen „neuen“, mit der „Gegenwart des Antisemitismus“? Das eigentliche Neue an der gegenwärtigen Lage ist Holz zufolge, dass sich derzeit in den verschiedensten politischen und ethnischen Gefügen ein in Grundzügen identischer, antizionistisch geprägter Antisemitismus etabliere. Der Autor schließt diesen Befund mit einem Kapitel über „Aussichten im Ost-West-Konflikt“ ab. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sei der Ost-West-Gegensatz (zurück)verschoben worden auf das Dual Orient/Okzident. „Europa scheint ein solches Gegenbild wieder verstärkt zu brauchen, um sich seiner Identität als westliche, zivilisierte Welt nach dem Verlust des „asiatisch-bolschewistischen Barbaren“ zu versichern“ (S. 100f.). Der 11. September verstärkte den Rückzug auf ein Selbstbild, das sich über seine Abgrenzung von Schreckensprojektionen wie „Saddam“ und „Osama“ definiere. Angesichts dieser Islamophobie biete sich der Antisemitismus geradezu an, den Dualismus partiell aufzuheben, weil er einen Dritten – „den Juden“ – zum gemeinsamen Feind erklärt: „In diesem Feindbild können sich Ost und West, Morgenland und Abendland, links und rechts, eher offener und eher latenter Antisemitismus treffen, ohne das identitätsstiftende Dual Ost/West preiszugeben.“ (S. 103). Holz sieht die Gefahr, dass gerade in der Verfestigung der Feindbilder, wie schon im 19. Jh. zwischen den höchst verfeindeten Nationalstaaten Europas, die Position des Dritten an Bedeutung gewinnt. Eine Chance habe die Überwindung des Antisemitismus daher nur, wenn sie den herrschenden Dualismus bekämpfe. Denn erst wenn der strukturierende bipolare Konflikt der Identitäten überwunden sei, verschwände mit ihm auch die Figur des Dritten. Das ist wahrlich ein gegenwärtiges Problem.
Anmerkungen:
[1] Holz, Klaus, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg 2001.
[2] Rensmann, Lars, Judenbild und Demokratie. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2004 [2. Aufl. 2005].
[3] Rensmann musste sich bereits einmal unter Androhung einer Klage außergerichtlich zur Unterlassung ähnlicher Behauptungen über Schriften Ludwig Watzals verpflichten. Vgl. Freitag 31/2005 [im Internet: http://www.freitag.de/2005/36/05360602.php]. In der Berliner Staatsbibliothek ist sein Buch gegenwärtig nicht mehr entleihbar mit dem sprechenden Hinweis „Rechtsstreit, nicht benutzbar“.
[4] Vgl. Holz, Klaus, Müller, Elfriede, Traverso, Enzo, Erinnerungen. Die Shoah, der Nahostkonflikt und die Linke, in: jungle world 47/2002 [im Internet: http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2002/47/29a.htm].
[5] Martin Ulmer am 21.10.2004 [http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-4-051].
[6] Benz, Wolfgang, Was ist Antisemitismus?, München 2004.
[7] Holz, Klaus, Ist Walsers Rede antisemitisch?, in: Kultursoziologie 8 (1999), H. 2, S. 189-193. Vgl. auch exemplarisch den Umgang von Lars Rensmann und Klaus Holz mit dem gleichen Text, dokumentiert in: Lorenz, Matthias N., „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser, Stuttgart, Weimar 2005, S. 465, Anm. 1579.