„Davon haben wir nichts gewusst!“ hieß es nach dem Ende des NS-Regimes im Land der Täter mit Blick auf den Judenmord.1 Bis heute haben nur wenige Deutsche eingeräumt, von dem Menschheitsverbrechen zur Tatzeit gewusst zu haben. Der Verdacht, dass es sich um Schutzbehauptungen handeln könnte, lag von Anfang an nahe. Schließlich erfolgte die Verfolgung der Juden bis zu ihrer Deportation vor den Augen der Öffentlichkeit. Auch scheint es schwer vorstellbar, dass die Ermordung von Millionen Menschen auf die Dauer geheim bleiben konnte. Doch den wissenschaftlichen Nachweis zu führen, dass die Deutschen über den Genozid Wesentliches wussten bzw. wissen konnten, ist keineswegs einfach. Außer Abwehrmechanismen, die unsere Gesellschaft auch heute noch prägen, wirkt bei der Aufklärung dieses Komplexes ein objektiver Umstand hemmend: Ein großer Teil der brisanten Akten zur ‚Endlösung der Judenfrage’ ist spätestens gegen Ende der NS-Zeit gezielt vernichtet worden.
Trotz der welthistorischen Bedeutung des Mordes an den europäischen Juden ist der Forschungsstand zu den subjektiven Voraussetzungen und Auswirkungen des Genozids immer noch unzureichend entwickelt. Was wir über das Informationsniveau und die Haltung der Deutschen zu dieser Zeit wissen, muss aus vielen, unterschiedlich ausgerichteten Quellen und Beiträgen zusammengetragen werden. Zu nennen sind hier insbesondere Beiträge von Ian Kershaw, Otto Dov Kulka und Hans Mommsen. Nur eine wissenschaftliche Monografie wurde bislang zu der brisanten Thematik in den 1990er Jahren vorgelegt, ein Buch von David Bankier.2 In den letzten Jahren ist am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin zu dieser Thematik intensiv geforscht worden.3
Wenn ein international anerkannter Holocaustforscher wie Peter Longerich sich diesem Gegenstand annimmt, darf man auf einen Erkenntnisgewinn hoffen. Tatsächlich leistet seine Monografie einen wichtigen Beitrag auf einem besonders schwierigen Terrain der Erforschung der Rahmenbedingungen des Holocaust. Die Legende von der Ahnungslosigkeit der Deutschen wird durch zahlreiche Quellen widerlegt. Longerich gelingt dies, indem es die Entwicklung der nationalsozialistischen Propaganda zur Judenverfolgung in der NS-Zeit intensiv untersucht. Hierbei kann er sich u.a. auf bislang noch unveröffentlichte Quellen aus der Herrschaftsperspektive des nationalsozialistischen Regimes stützen. Vor allem die Protokolle der während des Zweiten Weltkriegs fast täglich abgehaltenen geheimen „Ministerkonferenz“ des Reichspropagandaministers, die in Moskau aufbewahrt werden und bislang nur zum Teil veröffentlicht sind, erweisen sich als höchst aufschlussreich.4 Ihnen kann beklemmend genau entnommen werden, wie die NS-Führung die öffentliche Wahrnehmung der Judenverfolgung zu verschiedenen Zeitpunkten propagandistisch zu steuern suchte. Dabei werden auch die Dilemmata der nationalsozialistischen Öffentlichkeitsarbeit während des Genozids offengelegt. So konzediert Goebbels im Vorfeld der alliierten Erklärung zum Mord an den europäischen Juden vom 17. Dezember 1942 und angesichts wachsender Gerüchte in der Bevölkerung während einer geheimen Sitzung im Reichspropagandaministerium folgendes: „Es besteht kein Zweifel mehr darüber, dass in ganz großem Umfange jetzt die Judenfrage in der Welt aufgerollt werden soll. Wir können nun auf diese Dinge nicht antworten; wenn die Juden sagen, wir hätten 2 ½ Millionen Juden in Polen füsiliert oder nach dem Osten abgeschoben, so können wir natürlich nicht darauf antworten, daß es etwa nur 2,3 Millionen gewesen wären. Wir sind also nicht in der Lage, uns auf eine Auseinandersetzung – wenigstens vor der Weltöffentlichkeit nicht – einzulassen.“ (S. 259) Diese brisante Passage fehlt in der einzigen bislang bekannten Mitschrift der „Ministerkonferenz“ vom 14. Dezember 1942.5
Die Umsetzung der Direktiven des Reichspropagandaministers zur strategischen und taktischen Ausrichtung der NS-Medien wird durch eine intensive Auswertung der Presseanweisungen seines Ministeriums und unterschiedlicher Tageszeitungen auf allen Ebenen verfolgt. Insgesamt gelingt es Longerich so in beeindruckender Weise, die Kampagnen und ‚Konjunkturen’ der antisemitischen Propaganda für alle Phasen der NS-Judenverfolgung nachzuzeichnen. Positiv ist hierbei anzumerken, dass Longerich auch die Bemühungen der Alliierten, die Deutschen über das schreckliche Ausmaß der Ermordung der Juden zu informieren, anhand zeitgenössischer Quellen (Rundfunksendungen britischer und US-amerikanischer Rundfunksender, alliierte Flugblätter und Flugschriften) fundiert belegt (S. 240-247). So wird deutlich, was die Deutschen aus dem Äther über den Genozid erfahren konnten und was die NS-Propaganda in ihr Kalkül einbeziehen musste. Hervorzuheben ist, dass Longerich plausibel darlegt, dass die Politik der NS-Führung in dieser Situation darauf abzielte, „die deutsche Bevölkerung durch gezielte Hinweise auf den vor sich gehenden Mord an den Juden zu Mitwissern und Komplizen des Verbrechens zu machen“ (S. 281).
Während Longerich das öffentliche Agieren der NS-Führung in Hinblick auf die Judenverfolgung insgesamt überzeugend darlegt, erweist sich seine Analyse der ‚Resonanzbedingungen’ dieses Prozesses in der damaligen deutschen Gesellschaft als deutlich schwächer. Er unterschätzt zunächst den Quellenwert der geheimen NS-Lageberichte, wenn er ihre Bemühungen, die Stimmung und Haltung der Bevölkerung zu erfassen, nicht ernst genug nimmt und sie auf ein „Konstrukt der Berichterstatter“ (S. 45) reduziert. Von einem „Schweigen der Quellen“ bei den Lageberichten zu sprechen, ist verfehlt.6 Im Widerspruch zu seinen starken Vorbehalten gegen die Aussagekraft der Lageberichte stützt sich Longerich deshalb auch durchgängig auf die in jüngster Zeit von Otto Dov Kulka und Eberhard Jäckel vorbildlich edierten Quellen.7
Für den hohen Informationswert insbesondere der geheimen SD-Lageberichte spricht nämlich viel: Die NS-Führung benötigte relativ realistische Informationen zur Stimmung und Haltung der Bevölkerung, um unter den Bedingungen der Diktatur zu wissen, was man der ‚Volksgemeinschaft’ zumuten konnte. Ohne solche Hinweise wäre Goebbels auch kaum in der Lage gewesen, die nationalsozialistische Propagandamaschinerie mit fatalem Geschick zu lenken. Longerich räumt den zeitgenössischen Nutzen dieser Quellen auch ein, wenn er berichtet, dass Hitlers Propagandachef vor allem die 14-tägig erscheinenden Lageberichte der Reichspropagandaämter, die leider nicht mehr erhalten zu sein scheinen, geschätzt habe (S. 37). Der Aussagewert der Lageberichte zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass sie – trotz unterschiedlicher Verfasser, Auftraggeber und Regionen – zu bestimmten Zeitpunkten der NS-Herrschaft im Trend oft übereinstimmen. Dass die Geheimberichte oft in der Lage waren, den Wandel der Stimmung der Bevölkerung in seiner Tendenz zutreffend zu erfassen, spricht ebenfalls gegen ihren vermeintlich geringen Quellenwert. Bezeichnender Weise wurden die „Meldungen aus dem Reich“ abgeschafft, als sie unangenehme Wahrheiten über die ‚Volksstimmung’ mitteilen mussten, die die Adressaten der Berichte schließlich nicht mehr ertragen konnten (S. 289ff.). Der erhebliche Informationswert der NS-Lageberichte wird schließlich durch den Abgleich mit anderen Quellengruppen (Justiz- und Polizeiakten, Tagebücher etc.) eindrucksvoll bestätigt.
Die empirische Basis des vorliegenden Buches wird auch dadurch geschwächt, dass es auf die Auswertung sozialhistorisch aufschlussreicher Quellen weitgehend verzichtet. Da Longerich sich vor allem auf Quellen stützt, in denen sich die Propagandaseite des Regimes ausdrückt, (die Goebbels-Tagebücher, die „Ministerkonferenzen“ und NS-Medienbeiträge), während er Quellen, die über die Auffassungen in der Bevölkerung Aufschluss geben, entweder in ihrem Aussagewert unterschätzt (NS-Lageberichte) oder zu wenig berücksichtigt, gelingt es ihm nur bedingt, die fatale Loyalität der deutschen Bevölkerung bis zum Zusammenbruch des Regimes plausibel zu deuten. Wenn er z.B. die Auffassung vertritt, die Kampagne „Sieg oder Tod“ sei „fehlgeschlagen“ (S. 287), so kann dies mit guten Gründen bezweifelt werden. Denn die Angst vor der vermeintlichen Rache der Alliierten und des ‚Weltjudentums’ war ein wesentliches Motiv dafür, dass die Deutschen trotz sinkender Siegeshoffnung und wachsender Unzufriedenheit mit großer Energie bis zum Kriegsende weiterkämpften. Deshalb ist auch Longerichs Einschätzung fragwürdig, die Bemühungen des nationalsozialistischen Regimes, Racheängste innerhalb der Bevölkerung gezielt zu verstärken, sei zu einem „Fiasko“ geworden (S. 324). Die zeitgenössischen Quellen weisen insgesamt in eine andere Richtung.
Zu den Motiven der Deutschen, mehrheitlich dem NS-Regime bis zu dessen Untergang zu folgen – und damit auch den Mord an den europäischen Juden objektiv in diesem verheerenden Umfang erst zu ermöglichen – sagt Longerichs Buch wenig. Materielle und ideologische Hintergründe für diese fatale Loyalität, die z.B. von Götz Aly und Daniel Goldhagen (sicherlich überspitzt, doch nicht ohne guten Grund) beleuchtet wurden, bleiben weitgehend unberücksichtigt. So unterschätzt Longerich den Stellenwert des Antisemitismus in der damaligen deutschen Gesellschaft, indem er die Verantwortung für die Eskalation der Judenverfolgung zu stark auf die NS-Führung einengt (S. 218). Sicher trieb diese die Judenverfolgung mit fanatischem Eifer voran. Die nationalsozialistische Staatsführung konnte jedoch nur Erfolg haben, weil ihre antisemitische Vernichtungspropaganda bei Millionen Deutschen auf einen fruchtbaren Boden fiel.
Die Angaben des Buches zum Kenntnisstand der deutschen Bevölkerung vom Holocaust sind nicht immer konsistent, zum Teil sogar widersprüchlich. Zunächst wird betont, dass „nicht die Mehrheit, aber doch ein erheblicher Teil der Bevölkerung“ seinerzeit „in irgend einer Form vom Holocaust wusste“ (S. 240). Dann heißt es, dass die meisten Deutschen zur Zeit der Katyn-Kampagne im Frühjahr 1943 von dem Völkermord an den Juden sehr wohl gewusst hätten: Durch „zahlreiche allgemein gehaltene Andeutungen der Führungsspitze und die nicht erfolgte Dementierung von Gerüchten über den Massenmord“, so führt Longerich aus, sei der Genozid zu einem „öffentlichen Geheimnis“ geworden (S. 278). Schließlich bescheinigt er Personen, die im Jahre 1944 wüste antisemitische Eingaben an das Reichspropagandaministerium richteten, sie seien wohl über den inzwischen schon weitgehend realisierten Judenmord nicht orientiert gewesen (S. 308).
Neben den oben genannten Schwächen in der Quellenanalyse, die auch dadurch begünstigt sein mögen, dass der Autor einen großen Teil der von ihm benutzen Dokumente nicht im Original eingesehen hat 8, treten bisweilen leider formale, zum Teil auch sinnentstellende Fehler. Im Literaturverzeichnis werden z.T. falsche Verfasser genannt 9 und im Anmerkungsapparat finden sich fehlerhafte Verweise.10 Es kommt vor, dass falsch zitiert wird. So fehlt in einem Satz aus den autobiografischen Aufzeichnungen der Berliner Journalistin Ruth Andreas-Friedrich der Hinweis auf die Ermordung von Juden durch Giftgas (S. 232).11
Longerichs auch für Nicht-Fachleute gut lesbares Buch verfügt über einen umfangreichen Fußnotenapparat und ein Personenregister.12 Seine Monografie leistet trotz der aufgezeigten Schwächen einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung eines sensiblen Punktes der Holocaustforschung, des Informationshorizonts der deutschen Bevölkerung während der Verfolgung und Ermordung der Juden. Longerich gelingt es, den Prozess der propagandistischen Steuerung der antisemitischen Propaganda während der NS-Zeit in bislang nicht gekannter Deutlichkeit darzustellen. Besonders positiv ist schließlich hervorzuheben, dass Longerichs Buch zu Recht betont, dass die meisten Deutschen nicht erst seit Mai 1945 die „Flucht in die Unwissenheit“ (S. 328) antraten. Denn die Neigung der Bevölkerung, sich angesichts des absehbaren Untergangs des NS-Regimes von jeder Mitverantwortung für den Judenmord durch angebliche Ahnungslosigkeit freizusprechen, wuchs schon während des Krieges mit den sinkenden Siegesaussichten der Deutschen.
Anmerkungen:
1 Dagegen wurde in aller Regel nicht geleugnet, dass man von der Verfolgung der Juden gewusst hatte. Der Haupttitel des Buches steht von daher in einem Widerspruch zum Untertitel des Buches.
2 Bankier, David, Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat. Die „Endlösung“ und die Deutschen. Eine Berichtigung, Berlin 1995.
3 Ein von dem Rezensenten durchgeführtes Forschungsprojekt ist auf die Wahrnehmung des Holocaust durch die Deutschen ausgerichtet („Der Mord an den europäischen Juden und die deutsche Gesellschaft. Wissen und Haltung der Deutschen 1941 bis 1945“).
4 Im Russischen Staatlichen Militärarchiv in Moskau, dem früheren ‚Sonderarchiv’, befinden sich noch nicht publizierte Niederschriften der „Ministerkonferenz“ (Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Fond 1363, Opis 3).
5 Vgl. Boelke, Willi A. (Hg.), Wollt ihr den totalen Krieg? Die geheimen Goebbels-Konferenzen 1939-1943, München 1969, S. 410.
6 Longerich, Peter Das Schweigen der Quellen. Was wußten die Deutschen vom Holocaust? Eine große Edition sucht nach Antworten, in: „Die Zeit“, 18.11.2004, S. 48.
7 Kulka, Otto Dov; Jäckel, Eberhard (Hgg.), Die Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933-1945, Düsseldorf 2005.
8 Longerich merkt in seinem Quellenverzeichnis an, dass die von ihm in großem Umfang genutzten Bestände, in denen sich die geheimen NS-Lageberichte befinden, „in der Regel nicht konsultiert“ wurden (S. 431).
9 Das Buch „Niemand war dabei und keiner hat’s gewußt“ wird z.B. fälschlich Wolfgang Benz zugeschrieben.
10 Vgl. z.B. S. 409: Falsche Zuordnung der Anmerkungen 86 bis 91.
11 Longerich, Ruth Andreas-Friedrich zitierend: „In Scharen tauchen die Juden unter. Furchtbare Gerüchte gehen um über das Schicksal der Evakuierten. Von Massenerschießungen und Hungertod, von Folterungen.“ Das Zitat enthält nicht den wichtigsten Teil des Satzes: Im Eintrag vom 2. Dezember 1942 folgen die Worte „und Vergasungen“. Andreas-Friedrich, Ruth, Der Schattenmann. Schauplatz Berlin. Tagebuchaufzeichnungen 1938-1948, Frankfurt am Main 2000, S. 98. Zu dem verstümmelten Zitat fehlt in Longerichs Buch auch die Quellenangabe (S. 232).
12 Ein Sachregister und ein geografisches Register wären hierüber hinaus wünschenswert gewesen.