Charles de Gaulle zählt zu den bedeutendsten, noch heute faszinierenden Politikern des 20. Jahrhunderts. Seine Laufbahn wirft zwei zentrale historische Fragen auf: Wie schaffte es der wenig bekannte General und Militärpublizist, sich von seinem Londoner Exil aus zum Führer der heterogenen französischen Widerstandsbewegung zu machen und im August 1944 als populärer Befreier in Paris einzumarschieren? Und warum wurde er 1958 Staatspräsident, veränderte das politische System nach seinen Vorstellungen und blieb elf Jahre an der Macht, nachdem er sich wenige Jahre nach Kriegsende grollend aus dem politischen Leben zurückgezogen und scheinbar nicht in das Frankreich der 1950er-Jahre gepasst hatte? Wie Matthias Waechter eingangs betont, liegt es auf der Hand, die Antwort auf diese Fragen in seiner mythischen Selbstinszenierung zu suchen. Diese ist jedoch von den zahlreichen Büchern zu de Gaulle weniger analysiert als hagiografisch oder kritisch verdoppelt worden. Neuere Arbeiten behandeln zwar die Ideen und Aktivitäten des Generals und seiner Anhänger ausführlich und aus größerer Distanz, gehen aber auf deren mythische Dimension kaum ein.1
Mit seinem Buch, einer Freiburger Habilitationsschrift, wendet sich Matthias Waechter also einem zentralen und noch unterbelichteten Problem der politischen Kulturgeschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert zu. Sein Ziel ist es, Entstehung und Wandel des gaullistischen Mythos nachzuvollziehen und seine einzelnen Elemente und Funktionen ebenso zu untersuchen wie seine Vermittlerfiguren. So soll herausgearbeitet werden, wie der General und seine Anhänger eine existenzielle und gemeinschaftsstiftende Geschichte mit einer zentralen Heldenfigur konstruierten, die entkontextualisiert und symbolisch wie rituell vermittelt wurde, um politisch-soziale Prozesse zu simplifizieren, zu deuten und emotional zu unterfüttern. Diese Mythosdefinition setzt Waechter aus Theorieelementen von Bronislaw Malinowski und Claude Lévi-Strauss, Mircea Eliade und Carl Gustav Jung zusammen. Zur Umsetzung bezieht er eine Vielzahl von textuellen und visuellen Quellen zur Produktion, Verbreitung und ansatzweise auch Rezeption des gaullistischen Mythos ein. Dabei konzentriert er sich auf die Jahre von 1940 bis 1958 und auf die Innenpolitik.
Im zweiten Teil der Arbeit untersucht Waechter den Aufstieg De Gaulles zur Zentralfigur der Résistance. Dem General fiel es anfangs schwer, sich gegen Marschall Pétain, den vom Parlament inaugurierten, weithin populären und propagandistisch überhöhten Kriegshelden von Verdun, überhaupt Gehör bei den Franzosen zu verschaffen, geschweige denn seinen Anspruch auf legitime Repräsentation des Landes zur Geltung zu bringen. Dazu betonte er die ruhmreiche nationale Kontinuität und bemühte sich um eine Verbindung der bis dahin konträren republikanischen und katholisch-konservativen Traditionsstränge. Sich selbst stilisierte er zum hellsichtigen Mahner in den 1930er-Jahren, zur Verkörperung des wahren Frankreich in der Gegenwart und zum Propheten der künftigen Befreiung. Schließlich setzten er und seine Anhänger mit dem Lothringerkreuz ein wirkungsvolles Symbol ein und mythisierten den militärisch wenig bedeutenden Beitrag des "Freien Frankreich" durch selektive Erzählungen. Diese Selbstdeutung mit breitem Integrationsangebot fand auch bei den heterogenen Widerstandsgruppen innerhalb Frankreichs Anklang und trug maßgeblich dazu bei, dass er dort ab 1941/42 als Führungsfigur anerkannt und auch in der Bevölkerung verstärkt als solche wahrgenommen wurde. Als die Zukunftsentwürfe der inneren Résistance im Versprechen einer umfassenden gesellschaftlichen Umgestaltung und im komplementären Leitbild der "libération" mündeten, wurden sie immer mehr auf den General projiziert, von dem man sich die Erlösung von allen Übeln der Zwischenkriegszeit erhoffte.2
Der dritte Teil behandelt De Gaulles Wirken zwischen der "Befreiung" von Paris im August 1944 und seinem Rücktritt als Regierungschef im Januar 1946. Vor dem Hintergrund der schwierigen Versorgungslage und der massiv aufbrechenden innerfranzösischen Konflikte avancierte der General, unterstützt durch den von seinen Anhängern betriebenen sakralisierenden Personenkult, zum Vertreter aller Franzosen und Garanten der staatlichen Kontinuität. Um breite Akzeptanz zu erringen, distanzierte er sich von der Résistance, gab sich milde gegenüber nichtprominenten Kollaborateuren und deutete die Geschichte der letzten Jahrzehnte versöhnlich um. Parteibildung und Wahlkampf kamen nach seinem ganzen Selbstverständnis nicht in Frage. Gerade dies brachte ihn um eine politisch-organisatorische Machtbasis, die er gebraucht hätte, um den wieder erstarkten Parteien erfolgreich entgegenzutreten. Da er sich gleichzeitig weigerte, gemäß den Regeln einer parlamentarischen Demokratie zu kooperieren, musste er zurücktreten. Er scheiterte, weil er zum Gefangenen des selbst geschaffenen, aber auch gesellschaftlich breit nachgefragten Mythos der nationalen Integrationsfigur geworden war und diesem weder zuwider handeln noch gerecht werden konnte.3
Der Weg De Gaulles vom Rücktritt zur Machtübertragung durch das Parlament 1958 steht im Mittelpunkt des vierten Teils. Seine Opposition gegen das parlamentarische System der Vierten Republik und sein überparteilich-nationales Selbstverständnis artikulierte er auf öffentlichen Auftritten, ab 1947 mit Hilfe des Rassemblement du Peuple Français. Der RPF verstand sich als Sammlungsbewegung, die den Gaullismus publizistisch verbreitete und einen massiven Personenkult betrieb, agierte aber faktisch als Partei, die das Symbol des Lothringerkreuzes und das Erbe des Widerstandes für sich vereinnahmte und sich ideologisch gegen die Kommunisten profilierte. Weil die politische und gesellschaftliche Stabilisierung der 1950er-Jahre den gaullistischen Krisenszenarien den Boden entzog, blieben jedoch die erhofften Wahlerfolge aus, und es kam zur Spaltung über die Frage der Mitwirkung an der parlamentarischen Demokratie. De Gaulle zog sich nach Colombey-les-deux-Églises zurück, reiste jedoch mehrfach in die Kolonien und verbreitete in seinen Memoiren ein nun wieder ausschließlicher auf die eigene Heroisierung zugeschnittenes Geschichtsbild. Die Vierte Republik litt unter einem Defizit an mythischer Identitätsstiftung, zumal Führerfiguren wie die Ministerpräsidenten Antoine Pinay und Pierre Mendès France scheiterten. Doch erst als der Algerienkrieg weder gewonnen noch sonstwie beendet werden konnte, die pieds noirs rebellierten und ein Militärputsch drohte, wurde ihr dieses Defizit zum Verhängnis. 1958 wurde der General von der Parlamentsmehrheit zurückgerufen, von der großen Mehrheit der Bevölkerung bestätigt und profitierte dabei vom selbst geschaffenen Mythos des unabhängigen Retters und Einheitsstifters.4
In einem Ausblick behandelt Waechter die Zeit der Fünften Republik bis zum Rücktritt De Gaulles 1969. Nun musste der General Macht in einem parlamentarische und präsidentielle Elemente verbindenden System ausüben, statt Fundamentalopposition zu betreiben. Zur Selbstlegitimation erzählte er eine Verfallsgeschichte der Vierten Republik, betonte seine historischen Verdienste und wandte sich regelmäßig über Radio und Fernsehen an das Volk. De Gaulle und sein Kulturminister André Malraux mythisierten die Einheit des Widerstandes, die der von der Gestapo ermordete Jean Moulin verkörperte. Gleichzeitig rückte nun technokratisches Fortschrittsdenken in den Mittelpunkt der gaullistischen Ideologie. Die Kritik an den autoritären Zügen des Gaullismus, die besonders François Mitterrand übte, wurde 1968 von der radikalen Linken forciert. Eine junge, insbesondere studentische Generation attackierte die gaullistischen Mythen und Symbole als faschistisch. Doch der Präsident behauptete sich mit Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit, griff Teile der linken Kulturkritik auf und trat für ein sozialpartnerschaftliches Gesellschaftsmodell in neu geschaffenen Regionen ein. Ein Scheitern des Referendums im April 1969 nahm er dabei in Kauf und trat nach der Niederlage zurück. Nach seinem Tod 1970 wandelte sich die gaullistische Bewegung zu einer profanen Rechtspartei, während der Mythos des Generals breiter anschlussfähig wurde, den Maßstab bildete, an dem seine Nachfolger immer wieder gemessen wurden, und sich wieder stärker auf die Kriegsjahre fokussierte.
Matthias Waechter hat eine sehr gelungene Studie vorgelegt, die die mythische Dimension des Gaullismus auf umfassender Quellenbasis und mit großer Kompetenz erhellt und dabei gleichermaßen Produktion, Vermittlung und Rezeption berücksichtigt. Sein besonderes Verdienst liegt darin, die inzwischen etablierte, aber bislang stärker auf das 19. als auf das 20. Jahrhundert angewandte Analyse von Mythen aufzugreifen, überzeugend zu konkretisieren und mit der Untersuchung politischer Prozesse zu verbinden. Nachdem die politische Kulturgeschichte Frankreichs in den 1940er- und 1950er-Jahren bislang überwiegend auf regionaler Ebene erforscht worden ist5, liegt nun eine Studie zu Charles de Gaulle als ihrer zentralen Figur vor. Auf dieser Grundlage kann Waechter den Positionen anderer Historiker zu einigen entscheidenden Etappen dieser Periode begründet widersprechen und überzeugende eigene Deutungen formulieren. Seiner Monografie, die hinsichtlich Forschungsleistung und Reflexionsniveau die meisten Produktionen der so genannten nouvelle histoire politique übertrifft, wäre eine baldige französische Übersetzung zu wünschen. Daneben ist die Lektüre des flüssig geschriebenen Buches, das neben neuen Interpretationen auch viele bekannte Etappen und Aspekte übersichtlich präsentiert, allen zu empfehlen, die sich für die politische Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts interessieren und dabei einen Blick in unser wichtigstes Nachbarland nicht scheuen.
1 Berstein, Serge, Histoire du gaullisme, Paris 2001; Gough, Hugh; Horne, John (Hrsg.), De Gaulle and Twentieth-Century France, London 1994; Jackson, Julian, Charles de Gaulle, London 2003.
2 Waechter setzt sich damit von Interpretationen ab, die die Konflikte zwischen De Gaulle und innerfranzösischer Résistance betonen und vertritt auch eine andere Auffassung als Kedward, H. Roderick, Resistance in Vichy France. A Study of Ideas and Motivation in the Southern Zone 1940-1942, Oxford 1978, S. 187, der das Leitbild der "libération" und den Kult um De Gaulle als getrennte Phänomene behandelt und das Überwiegen des Ersteren konstatiert.
3 Durch seine Berücksichtigung dieser mythischen Dimension kommt Waechter zu einem überzeugenderen, weil weniger wertenden Urteil als etwa Cowans, Jon, French Public Opinion and the Founding of the Fourth Republic, in: French Historical Studies 17 (1991), S. 62-95, hier S. 92, der De Gaulle mangelnde politische Reife und Anpassungsfähigkeit an das pluralistische System attestiert, ohne nach den Ursachen für seine Haltung zu fragen.
4 Diese kulturgeschichtliche Deutung geht über Darstellungen hinaus, die den Machtwechsel mit der politischen Lähmung der Vierten Republik und dem geschickten Taktieren De Gaulles erklären, vgl. etwa: Loth, Wilfried, Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1987, S. 166-172.
5 Überzeugende Beispiele: Kedward, H. Roderick, In Search of the Maquis. Rural Resistance in Southern France, Oxford 1993; Koreman, Megan, The Expectation of Justice. France 1944-1946, Durham 1996; Capdevila, Luc, Les Bretons au lendemain de l’Occupation. Imaginaires et comportements d’une sortie de guerre (1944/1945), Rennes 1999; Hecht, Gabrielle, The Radiance of France. Nuclear Power and National Identity after World War II, Cambridge/MA 1998.