In einer marktwirtschaftlichen Ordnung bilden sich die Preise für Waren, Dienst- und Arbeitsleistungen „in der Regel“ auf Märkten, und der Marktmechanismus sorgt für den Ausgleich von Angebot und Nachfrage – so steht es jedenfalls in den einschlägigen Lehrbüchern. Irmgard Zündorf, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, hat sich in ihrer bei André Steiner entstandenen Dissertation mit den Ausnahmen von dieser Regel beschäftigt. Und davon gab es zumindest im Untersuchungszeitraum, in dem Ludwig Erhard für die Wirtschaftspolitik verantwortlich zeichnete – zunächst als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft und anschließend als Bundesminister –, erstaunlich viele: Staatlich administriert wurden die Preise von immerhin rund 30 Prozent der Güter des privaten Verbrauchs (S. 9). Dennoch wird Erhard von seinen Anhängern seit jeher vor allem für seinen unbeirrbaren Glauben an die Überlegenheit des freien Marktes und seinen beharrlichen Kampf gegen staatlichen Dirigismus gelobt. Um diesen Widerspruch und die Rolle, welche die Preispolitik bei der Legitimierung der neuen Wirtschaftsordnung und der Stabilisierung der jungen Demokratie nach dem Krieg spielte, geht es in dieser sorgfältig und ausgewogen argumentierenden Arbeit – ohne dass deswegen die rein ökonomischen Effekte und Implikationen zu kurz kämen.
Zündorf verfolgt den Anspruch, die Hauptakteure der Preispolitik zu untersuchen – neben dem Bundeswirtschafts- und dem Bundesfinanzministerium unter anderem das Bundeskanzleramt, die Ressorts Ernährung und Landwirtschaft, Verkehr, Wohnungsbau, Arbeit und Sozialordnung sowie verschiedene Interessengruppen wie die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, den Bundesverband der Deutschen Industrie und den Deutschen Gewerkschaftsbund. Außerdem werden die wichtigsten Bereiche der Preispolitik wie Mieten, Verkehr und Nahrungsmittel analysiert. Zu diesem Zweck hat Zündorf zahlreiche Archive durchforstet. Neben den Beständen des Bundeswirtschaftsministeriums als der „zentralen Quellengrundlage“ (S. 30) wertete sie auch die Bestände der anderen involvierten Ressorts im Bundesarchiv sowie Archivalien der beteiligten Interessenverbände und den Nachlass Erhards im Archiv der gleichnamigen Stiftung aus. Um die Vorstellungen jener Interessenorganisationen rekonstruieren zu können, die wie die Arbeitgebervereinigung, der Deutsche Bauernverband oder die Verbraucherverbände über kein ergiebiges Archiv verfügen, zog sie überdies Gegenüberlieferungen und veröffentlichtes Material hinzu.
Zunächst skizziert Zündorf die wirtschaftliche, rechtliche und politische Ausgangslage sowie Erhards „Leitsätzegesetz“, das unter anderem vorsah, dass „künftig der Preisfreigabe vor der weiteren Preisbindung der Vorzug zu geben sei“ (S. 51). Daran schließen sich vier umfangreiche, chronologisch angelegte Kapitel an, die jeweils nach demselben Muster aufgebaut sind: Auf die Darstellung der allgemeinen Preispolitik folgen Abschnitte zur speziellen Preispolitik in den drei erwähnten Bereichen (Mieten, Verkehr, Nahrungsmittel). Das mit 100 Seiten umfangreichste Kapitel handelt von der „Bewährungsprobe der Sozialen Marktwirtschaft“ in den Jahren 1948 bis 1952. Diese Jahre waren aufgrund der preispolitischen Alleinverantwortung Erhards gekennzeichnet durch Konflikte vor allem mit dem Landwirtschaftsminister, der auskömmliche Preise für die Produzenten forderte. Im Allgemeinen folgten Erhards Preisentscheidungen „eher der politischen und weniger der ökonomischen Rationalität“; er wollte seine Bereitschaft demonstrieren, in „Krisensituationen [...] regulierend in die Wirtschaft einzugreifen“. Die staatliche Preisadministration betrachtete er nur als „Übergangslösung“ (S. 148).
Das nächste Kapitel umschließt die Stabilisierungsphase von 1952 bis 1955, in der es einen kontinuierlichen Lohnanstieg bei relativ stabilen Preisen gab. Gegen Ende 1954 konstatierten jedoch sowohl das Wirtschaftsministerium als auch die Bank deutscher Länder einen „Wandel des Preisklimas“ mit steigenden Preisen, für die hauptsächlich die Unternehmer verantwortlich gemacht wurden. Erhard setzte nun zum ersten Mal in großem Stil auf jenes Instrumentarium, das zu seinem Markenzeichen wurde: Gespräche mit den Interessenvertretungen der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer und der Verbraucher – „glaubte er doch offenbar ernsthaft, durch Appelle an die moralische Verantwortung der Akteure [...] einen Wandel der Preisentwicklung bewerkstelligen zu können“ (S. 166).
In den Jahren der Hochkonjunktur von 1955 bis 1958 verfolgte die Preispolitik vor allem das Ziel, die Preise zu stabilisieren. Konjunktur- und Preispolitik ließen sich kaum unterscheiden, „da einerseits die konjunkturpolitischen Dämpfungsmaßnahmen der Preisstabilität dienten, andererseits die Stabilisierung der staatlich administrierten Preise Teil der Konjunkturpolitik war“ (S. 202). Wie schon zuvor setzte Erhard vor allem auf Maßhalteappelle an die Tarifpartner, doch blieben diese Appelle, anders als die konjunkturdämpfenden Eingriffe der Zentralbank, letztlich ohne Wirkung. Damit kündigte sich ein „Bedeutungsverlust“ der Preispolitik an, der sich im letzten Abschnitt des Untersuchungszeitraums, von 1958 bis 1963, noch verstärkte. Zündorf erklärt diesen Trend damit, dass „die Preisdiskussionen mit zunehmender Prosperität und steigenden Einkommen der Bevölkerung an Bedeutung verloren“ (S. 303). Erhards Kalkül, die staatliche Preispolitik „wenn schon nicht realwirtschaftlich zu eliminieren, so doch wenigstens aus dem Bewusstsein der Bevölkerung zu verbannen“, ging am Ende auf (S. 304).
Man mag sich zunächst fragen, ob der Befund, dass in einer marktwirtschaftlichen Ordnung staatliche Preispolitik in beträchtlichem Umfang betrieben wurde, wirklich so bemerkenswert ist. Doch vergegenwärtigt man sich die anhaltende Legendenbildung und Glorifizierung, die um Erhard bis heute betrieben wird1, erscheint die „Dekonstruktion“ dieses Mythos, die Zündorf vorbildlich leistet, völlig gerechtfertigt und verdienstvoll; Erhards Leistung erfährt so eine durchaus faire Würdigung. Überdies erschöpft sich das Buch nicht in „Ideologiekritik“. Vielmehr bietet es einen differenzierten Einblick in das „Innenleben“ der konstitutiven Phase unserer „Sozialen Marktwirtschaft“. Dass ausgerechnet die preispolitischen Eingriffe in das „Spiel von Angebot und Nachfrage“ letztlich maßgeblich zur Stabilisierung und Legitimierung der Marktwirtschaft beitrugen, entbehrt allerdings nicht einer gewissen Ironie.
Anmerkung:
1 Vgl. dazu meine Hinweise und Bildbeispiele: Der Traum vom „Wohlstand für alle“. Wie aktuell ist Ludwig Erhards Programmschrift?, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 4 (2007), S. 256-262, auch online unter URL: <http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Buehrer-2-2007>.