Dass die europäische Einigung von den „Gründervätern“ auch als friedenspolitisches Projekt gedacht war, gerät angesichts der gerade in jüngster Zeit zunehmenden Streitereien über Abstimmungsmodalitäten, Zuständigkeits- und Zugehörigkeitsfragen häufig in Vergessenheit. Insofern ist es verdienstvoll, dass Bernhard Rinke in seiner bei Reinhard Meyers in Münster entstandenen politikwissenschaftlichen Dissertation das „Friedensprojekt Europa“ und die entsprechenden europapolitischen Leitbilder der beiden deutschen Volksparteien CDU und SPD seit dem Ende des Ost-West-Konflikts bis zum Bundestagswahlkampf 2002, also zwischen „Maastricht“ und dem Vorabend des Irakkrieges, einer detaillierten Analyse unterzieht. Er konzentriert sich dabei auf drei teilweise gegensätzliche, teilweise sich überschneidende Leitbilder, welche die Diskussionen in den beiden Parteien – und den wissenschaftlichen Diskurs – dominierten: „Weltmacht“, „Zivilmacht“ und „Friedensmacht“. Während jedoch von der Europäischen Union (EU) als Weltmacht allenfalls in wirtschaftlicher Hinsicht gesprochen werden kann und Wissenschaft und Politik weitgehend darin übereinstimmen, dass die EU von einer politisch-militärisch verstandenen „‚Weltmacht-Rolle‘ noch immer ‚Lichtjahre‘ entfernt“ (S. 81) sei, kommen die beiden anderen Leitbilder der Realität schon näher: Eine „Zivilmacht“ verzichtet nach gängigem Verständnis auf militärische Optionen und setzt stattdessen auf „Verregelung bzw. Verrechtlichung der internationalen Beziehungen“ (S. 82); demgegenüber erlaubt das Konzept der „Friedensmacht“ als „ultima ratio“ auch den Einsatz militärischer Mittel – und zwar nicht nur zur Selbstverteidigung, sondern unter Umständen sogar zur Durchsetzung eigener Prinzipien oder Interessen.
Rinke hat seinen Untersuchungszeitraum in drei Abschnitte unterteilt: Zunächst rekapituliert er die Reaktionen von CDU und SPD auf die im Maastrichter Vertrag proklamierte „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) und die damit verknüpfte Suche nach der künftigen Rolle der Gemeinschaft als Akteurin im internationalen System nach dem Ende der Blockkonfrontation. Die CDU verfügte in dieser Phase über „kein kohärentes Leitbild“, erteilte allerdings ausgerechnet jenem Konzept eine eindeutige Absage, das die SPD damals favorisierte: dem der „Zivilmacht Europa“. Daran änderte sich während der „Post-Maastricht-Phase“, welche der zweite Abschnitt behandelt, zumindest im Fall der CDU wenig. Zwar tendierten mit Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble einflussreiche Politiker zum Weltmacht-Konzept, doch fand auch das Modell der Friedensmacht in Karl Lamers oder Volker Rühe prominente Befürworter. Mit anderen Worten: Noch immer fehlte der CDU ein einheitliches Leitbild. Dagegen nahm die SPD zwischen 1993 und 1998, nicht zuletzt unter dem Eindruck der Ereignisse im vormaligen Jugoslawien, eine „vollständige Neuausrichtung ihrer außen- und sicherheitspolitischen Programmatik“ (S. 286) vor und ersetzte das Leitbild der Zivilmacht durch das der Friedensmacht. Der Kosovo-Konflikt fungierte schließlich auch als „‚Initialzündung‘ einer neuen außen- und sicherheitspolitischen Einigungsdynamik“ in Gestalt der „Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (S. 427). Den entsprechenden Debatten der Jahre 1998 bis 2002 widmet sich das dritte große Kapitel. Gekennzeichnet war diese Phase durch weitgehende Kontinuität: In der CDU konkurrierten, wie schon in dem Jahrfünft zuvor, das Weltmacht- und das Friedensmacht-Leitbild, wobei die neue CDU-Vorsitzende Angela Merkel ersterem zuneigte. Die SPD, angeführt von Gerhard Schröder und Rudolf Scharping, hielt – ungeachtet starker Sympathien des grünen Koalitionspartners und des „pazifistisch-antimilitaristisch“ orientierten linken Flügels der SPD für das Zivilmacht-Konzept (S. 442) – ebenfalls am bisherigen Leitbild der Friedensmacht fest.
Die Studie gründet im Wesentlichen auf öffentlichen bzw. veröffentlichten Quellen wie Parteiprogrammen, Parteitagsprotokollen, Bundestagsprotokollen und -drucksachen, Pressemitteilungen, Reden, Interviews, Zeitungsartikeln, Aufsätzen in Zeitschriften und Büchern sowie „Hintergrundgesprächen“ mit wichtigen Außen- und Sicherheitspolitikern der beiden Parteien. Interne Meinungsbildungsprozesse, subjektive Intentionen oder Interessen können auf dieser Grundlage verständlicherweise nicht rekonstruiert und analysiert werden. Dennoch gelangt Rinke zu zahlreichen relevanten Befunden. So kann er beispielsweise zeigen, dass beide Parteien von der Notwendigkeit einer gemeinsamen Außenpolitik der Gemeinschaft überzeugt waren (und sind) und beiden die „Selbstbehauptung Europas“ ein Hauptanliegen ist. Unterschiede machten sich freilich im Verständnis dieser „Selbstbehauptung“ bemerkbar: Während die CDU die Herausforderungen vor allem in der Instabilität des internationalen Systems und im Aufstieg des internationalen Terrorismus sah, ging es für die SPD auch um die Selbstbehauptung gegenüber den USA. Setzte die CDU auf Partnerschaft und „Schulterschluss“ (S. 471) mit den USA, zielten die Überlegungen der SPD eher auf „kooperatives Balancing“ (S. 469) gegenüber Washington. Dass die drei erwähnten Leitbilder in der tagespolitischen Praxis mitunter eine gewisse inhaltliche Unschärfe aufwiesen, hält Rinke für durchaus gewollt, erleichterte dies doch den divergierenden Strömungen vor allem in der SPD die Zustimmung. Ohnehin plädiert er am Ende dafür, statt von Leitbildern der beiden großen Volksparteien präziser von „Leitbildern der unterschiedlichen, gleichwohl in beiden Parteien – wenn auch (aktuell) von jeweils ungleicher Bedeutung – nachzuweisenden Richtungen“ zu sprechen (S. 482).
Als Fazit bleibt festzuhalten, dass die Studie eine äußerst hilfreiche und dicht belegte Darstellung und Untersuchung der Entwicklung der europapolitischen Leitbilder in CDU und SPD bietet, und dies für einen Zeitraum, der für die Zukunft der europäischen Integration von entscheidender Bedeutung sein dürfte. Aus der Perspektive einer historisch orientierten Friedensforschung wäre es indes wünschenswert gewesen, die verschiedenen Leitbilder stärker mit den politisch-ideologischen Traditionen der beiden Parteien zu verknüpfen. Außerdem hätte eine Straffung des Textes, insbesondere eine Kürzung der zwar sinnvollen, aber mitunter redundanten Zusammenfassungen das Lesevergnügen merklich erhöht.