Das zu besprechende Buch ist der neunte Band der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und dem Bundesarchiv gemeinsam herausgegebenen und auf einem umfassenden Anspruch beruhenden elfbändigen „Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945“. Damit liegt der zweite von drei geplanten Bänden zur Deutschen Demokratischen Republik (DDR) vor.1 Der dritte Band (Band 10 in der Reihe) soll noch im Jahr 2008 erscheinen.
Der vorliegende Band befasst sich mit der Zeitspanne von 1961 bis 1971, der Dekade nach dem Bau der Berliner Mauer. Die DDR durchlief in dieser Periode eine wellenförmige Entwicklung von Krise über Stabilisierung hin zu einer erneuten Krise (Kleßmann, S. 3), die mit dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker in eine neue Phase überging. Strukturierend wirkten in diesen zehn Jahren der Mauerbau, die Wirtschaftsreformen, Entwicklungen in der Frauen-, Jugend- und Kulturpolitik sowie die Militarisierung der Gesellschaft.
Der Herausgeber des Bandes, Christoph Kleßmann, wurde insbesondere von seinem langjährigen Kollegen am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF), Peter Hübner, unterstützt. Hübner verfasste in diesem Band unter anderem das zweite einführende Kapitel, in dem gesellschaftliche Strukturen und sozialpolitische Handlungsfelder abgesteckt werden. Die anderen Beiträge folgen thematisch grob dem Muster der Reihe und reichen von Arbeitsverfassung und Arbeitsrecht über Arbeitsschutz und Gesundheitswesen bis hin zu Renten-, Familien- und Bildungspolitik sowie internationaler Sozialpolitik. Dem DDR-System geschuldete Akzentsetzungen, zum Beispiel die Preisgestaltung, runden das hier präsentierte Bild sinnvoll ab. Sie folgen damit den in Band 8 eingeführten Diskussionsansätzen. Die einzelnen Beiträge stammen dabei keineswegs nur von Historikern, sondern unter anderem von einem Juristen, einer Germanistin, von Soziologen und Politologen. Diese begrüßenswerte Zusammensetzung entspricht durchaus auch der Zielgruppe dieser vom Nomos Verlag als Nachschlagewerk bezeichneten Reihe.
Als Nachschlagewerk gesehen wird dieser Band hohen Erwartungen gerecht. Es werden keine radikalen Thesen aufgestellt, sondern inzwischen weitgehend etabliertes Wissen in einer reichhaltigen und gut lesbaren Synthese dargestellt. Aus Platzgründen wird nicht auf alle Beiträge eingegangen. Im Folgenden stehen deshalb übergreifende Themen im Mittelpunkt der Besprechung.
Schon ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis belegt, dass sich die Autoren in der inhaltlichen Akzentsetzung augenscheinlich an einem Verständnis der DDR als Arbeits- oder Betriebsgesellschaft orientieren. Peter Hübner schreibt zum Beispiel zu Arbeitsverfassung und Arbeitsrecht sowie zur Betriebszentrierung der Sozialpolitik, Lutz Wienhold diskutiert den Arbeitsschutz und Jörg Roesler beschäftigt sich mit der Arbeitsmarktpolitik und der Integration von Ausländern durch Einbindung in den Arbeitsmarkt. Ebenso wird in den einleitenden Kapiteln von Kleβmann und insbesondere bei Hübner (siehe auch S. 760) der Diskussion wirtschaftlicher Entwicklungen viel Platz eingeräumt. Dieser Fokus ist durchaus berechtigt und ergibt sich aus der direkten Anbindung von Sozialpolitik an die Betriebe. Dieser Trend wird durch einige andere Beiträge fortgesetzt, die sich auf den ersten Blick nicht mit den Themenbereichen Wirtschaft, Arbeit und Betrieb auseinandersetzen.
So betont der langjährige Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte, Dierk Hoffmann, in seinen zwei Artikeln zur sozialen Sicherung die „enge Verzahnung“ zwischen Sozialversicherung und Arbeitsgesetz in der DDR, in der im Unterschied zur Bundesrepublik kein eigenständiges Sozialgesetzbuch existierte. Relevante soziale Regelungen blieben durchgehend dem Arbeitsrecht untergeordnet (S. 270). Entsprechend dieser Struktur diskutiert Hoffmann auch die Sicherung bei Alter, Invalidität und für Hinterbliebene. Er weist einleitend auf die „wirtschafts- und finanzpolitischen Zielkonflikte“ hin, welche die teilweise existentiellen Probleme der Betroffenen – speziell der Rentner und besonders der Rentnerinnen – zu einem innerhalb der sozialpolitischen Prioritätensetzung der SED oft vernachlässigten Thema degradierte (S. 329).
Der Orientierung an Arbeit und Betrieb als Zentren der Sozialpolitik folgend, wird in einem Beitrag des Straβburger Soziologen Jay Rowell auch die Wohnungspolitik in die von der Arbeitsmarktpolitik vorgegebenen Strukturen und Prioritätensetzung eingeordnet. Rowell argumentiert unter anderem, dass Erich Honeckers Politik, zu der als Teil einer strategischen Sozialpolitik auch eine Verstärkung des Wohnungsbauprogrammes gehörte, auf Entwicklungen und „wirtschaftliche Richtwerte“ der 1960er-Jahre gründete (S. 719). Kontinuitäten zwischen den, wie Kleβmann sie beschreibt, von Walter Ulbricht geprägten 1960er-Jahren (S. 4) und den mit Honecker verbundenen 1970er-Jahren, werden verschiedentlich aufgezeigt, obwohl wichtige langfristige Entwicklungen durch die chronologische Aufteilung der Bände doch etwas aus dem Blick geraten. So hätte zum Beispiel Hübner in seinem Beitrag zur betrieblichen Sozialpolitik innerhalb eines anderen zeitlichen Zuschnittes sicher deutlich mehr auf lange Entwicklungslinien eingehen können. Kleβmann deutet zumindest in seiner abschließenden Gesamtbetrachtung kurz auf diese interpretatorische Möglichkeit hin (S. 812). Vielleicht werden jedoch die im vorliegenden Buch heraus gearbeiteten Ansätze in Band 10 der Reihe wieder aufgenommen. Dies würde sich für einige Themenbereiche durchaus anbieten.
Für die Bände 2-11 der Reihe „Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945“ wird jeweils eine Dokumenten-CD-ROM mitgeliefert. Das Konzept, zu einer historischen Abhandlung wichtige Quellen gleich mitzuliefern, scheint sehr aufwendig (und erklärt vielleicht teilweise den hohen Preis des vorliegenden Bandes), ist aber meines Erachtens tragfähig. Die opulente und weit gefächerte Quellenauswahl erleichtert dem interessierten Leser den Zugang zu den jeweiligen Themen ungemein. Außerdem bietet sich solch eine Materialiensammlung auch für eine Nutzung in der Lehre an. Für den hier besprochenen Band 9 werden 157 Dokumente vorgestellt. Diese reichen von Dokumenten aus dem Bundesarchiv, insbesondere aus der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR, über Gesetzesblättern bis hin zu Zeitungsartikeln. Es wäre vielleicht wünschenswert gewesen, zumindest auf der CD-ROM eine gliedernde Übersicht der Dokumente, zum Beispiel nach Themen oder chronologisch geordnet, zu erstellen. Dies hätte es dem Leser ermöglicht, sich die Quellen unabhängig von den Texten zu erschließen.
Im Vorwort des Bandes wurde eine weitere CD-ROM mit statistischen Daten angekündigt, die kostenlos beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu erhalten sei. Solch eine CD-ROM liegt jedoch bis heute nur für die SBZ/DDR vor.2 Ein Äquivalent für die Bundesrepublik kann zumindest gedruckt und online eingesehen werden.3 Das im Vorwort versprochene „Zusammenführen“ statistischer Daten beider deutscher Staaten zu Wirtschaft, Finanzen, Einkommen und sozialen Institutionen ist zwar nicht nur für den Historiker sehr wünschenswert, aber mit den zwei vorliegenden Veröffentlichungen keineswegs eingelöst. Das Nebeneinanderstellen von je einem Forschungsbericht zu der DDR und der Bundesrepublik entspricht in keiner Weise den versprochenen Vergleichsmöglichkeiten, die sich aufgrund eines wie auch immer gestalteten Zusammenführens relevanter Daten ergeben würden. Natürlich zeigt sich hier wieder einmal ein inzwischen schon oft diskutiertes und nicht einfach lösbares Problem, auf das vor allem auch André Steiner, der Verfasser des Forschungsberichtes zu den statistischen Übersichten für die DDR, wiederholt hingewiesen hat und dies nochmals klar stellt: Die statistischen Daten zu beiden Staaten seien, aus verschiedenen Gründen, nur schwer miteinander zu vergleichen.4 Eine Gegenüberstellung ähnlich bezeichneter statistischer Erhebungen ergebe keine verlässliche Basis für eine vergleichende Gesamtdarstellung der Sozialpolitik in Deutschland nach 1945. Wir können gespannt darauf sein, ob und wie dieses Problem in Angriff genommen wird.
Abschließend soll noch kurz darauf verwiesen werden, dass der Herausgeber sich, meines Erachtens, darum hätte bemühen können, mehr Autoren in die Bearbeitung der verschiedenen Themenbereiche einzubeziehen, um damit doppelte oder dreifache Autorenschaften (Peter Hübner drei Beiträge, Marcel Boldorf drei, Jörg Roesler zwei, Dierk Hoffmann zwei) zu umgehen. Damit hätte sich vielleicht auch die Ausrichtung des Bandes noch etwas geändert und mehr Raum für zusätzliche, die hier präsentierte Sicht auf die Sozialpolitik ergänzende, Aspekte, zum Beispiel aus der Alltagsgeschichte, ermöglicht. Auch behindert meines Erachtens die Zusammenfassung gedruckter Primärquellen mit den Sekundärquellen in der doch sehr selektiv erstellten Bibliografie den Zugang zu weiterführender Literatur. Mit Blick auf die anderen Bände kann vermutet werden, dass inhaltliche Lücken und methodische Probleme eher der Orientierung der gesamten Reihe als den Entscheidungen der individuellen Herausgeber geschuldet sind.
Anmerkungen:
1 Vgl. zu Band 8, dem ersten der DDR gewidmeten Band dieser Reihe, die Rezension von Jens Giesecke: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-2-116>, (22.05.2008). Für die Geschichte der Bundesrepublik sind insgesamt fünf Bände geplant, ein Band behandelt die Zeit ab 1989 und zwei Bände befassen sich jeweils mit den allgemeinen Grundlagen der Sozialpolitik und der Besatzungszeit.
2 Steiner, André (unter Mitarbeit von Judt, Matthias und Reichel, Thomas), Statistische Übersichten zur Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Band SBZ/DDR, Bonn 2006.
3 Berié, Hermann, Statistische Übersichten zur Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Band West, Bonn 1999, auch online unter <http://www.wiso.uni-koeln.de/wigesch/bibliothek/digitbib/index_statistik.html> (20.2.2008).
4 Steiner, Statistische Übersicht, Teil A.