H. Weber: Leben nach dem "Prinzip Links"

Cover
Titel
Leben nach dem "Prinzip Links". Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten


Autor(en)
Weber, Hermann; Weber, Gerda
Erschienen
Anzahl Seiten
450 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Hüttmann, Hochschul/Wissenschaftsforschung, HoF Wittenberg - Institut für Hochschulforschung an der MLU Halle- Wittenberg

„Wer ist verrückt – ich oder die Welt?“

Diese Frage stellt Hermann Weber seinem zweiten Erinnerungsband voran (S. 10). In „Leben nach dem ‚Prinzip links’“ schildert er – zum Teil gemeinsam mit seiner Frau Gerda Weber, die eigene Kapitel verfasst hat – seine Entwicklung vom zwar nicht unkritischen, aber gläubigen Kommunisten zum suchenden Sozialisten in der Bundesrepublik: Der Mannheimer Politikwissenschaftler als Mitbegründer der ‚alten’ DDR-Forschung in der Bundesrepublik war nach 1990 maßgeblich an der Sicherung der Archive der Parteien und Massenorganisationen in der DDR beteiligt, wirkte in beiden Enquetekommissionen des Deutschen Bundestages mit und ist bis heute in der deutsch-russischen Historikerkommission und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur aktiv.

Erzählt wird die Geschichte der ‚fehlenden’ 50 Jahre, auf die Leser von „Damals, als ich Wunderlich hieß“, dem 2002 erschienenen ersten Erinnerungsband Webers, bis dato warten mussten.1 Thema des ersten Bandes waren vor allem die beiden Jahre auf der SED-Parteihochschule „Karl Marx“ in Kleinmachnow. In der Bibliothek der SED-Parteihochschule las Hermann Weber die Protokolle der Moskauer Schauprozesse der 1930er-Jahre und wurde auf die stalinistischen Verbrechen erstmals aufmerksam. Bereits hier kamen ihm starke Zweifel an der offiziellen Lesart kommunistischer Parteigeschichte, die Weber später – besonders in seinen berühmten „Weißen Flecken“ – zum großen Ärger der SED immer wieder offen benannte.2 Der erste Band endet 1949, als er ebenso wie Gerda mit dem Stalinismus gebrochen hat – aber wie ging es danach mit den Webers weiter?

Bereits das erste Kapitel belegt, dass die von ihm geschilderte Situation tatsächlich zum Verrücktwerden war: Gerade in dem Moment, als die Webers sich vom Stalinismus gelöst hatten, standen beide im Verdacht illegaler kommunistischer Tätigkeit in der Bundesrepublik und saßen dafür mehrere Monate – ohne Verurteilung – im Gefängnis: „Für Gerda und mich hieß es weiterhin, nicht zu verzagen, wie bisher lesen, den Arbeitsplan einhalten und gesund bleiben. Unsere Situation erschien mir verrückt. Mit dem Stalinismus hatte ich längst gebrochen, saß dennoch bereits über ein halbes Jahr als kommunistischer Rädelsführer im Gefängnis.“ (S. 52). Die Verfahren wurden erst 1958 eingestellt.

„Beleidigung“ des „genialen Stalin“: „Alte Linke“ als Stück vergessener Geschichte der Bundesrepublik

Anfang der 1950er-Jahre waren die Webers kommunistische Funktionäre: Gerda als 1. Sekretärin des westdeutschen Demokratischen Frauenbundes (DFD), eine Tarnorganisation der SED, Hermann 1950 als Chefredakteur der westdeutschen FDJ-Zeitung „Das Junge Deutschland“. Als er sich 1952 aber weigerte, ein Grußtelegramm Stalins als Aufmacher abzudrucken, wurde er von Honecker abgesetzt (siehe den Abschnitt „Degradiert wegen ‚Beleidigung’ des ‚genialen’ Stalin“, S. 59ff.).

All dies ist spannend erzählt, manche Passagen lesen sich wie ein Krimi. Aber mehr noch: Die Weberschen Erinnerungen lenken die Aufmerksamkeit auf einen kritischen Punkt, der für die Historisierung der Bundesrepublik von zentraler Bedeutung ist: Bei aller Produktivität der seit längeren stattfindenden öffentlichen Auseinandersetzungen mit den „68ern“ kann heutzutage der Eindruck entstehen, die Linke in der Bundesrepublik sei erst mit der Studentenbewegung entstanden. Aber vor der „Neuen Linken“ gab es längst eine „Alte Linke“, die mittlerweile in Vergessenheit zu geraten scheint:

„Diese deutsche Linke hatte nichts mit den sich links drapierenden stalinistischen Kommunisten zu tun, sondern stand in der Tradition der klassischen demokratischen Arbeiterbewegung. Sie erstrebte einen demokratischen Sozialismus, trat ein für Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Die meisten unterstützten in den 50er Jahren die Parole ‚Weder Ost noch West’. In der breit gefächerten – wenn auch zahlenmäßig nur kleinen – Linken gab es keine einheitliche Programmatik, nur ansatzweise politische Strategien und kaum feste organisatorische Bindungen. […] Wir redeten uns die Köpfe heiß über die Aufgaben der Linken, suchten einen ‚dritten Weg’ jenseits von Kommunismus und restaurativem Kapitalismus.“ (Zitate S. 179, 182, vgl. auch S. 201ff.).

Hermann und Gerda Weber saßen zwischen den Stühlen des Kalten Krieges: Einerseits waren dem politischen Konsens der jungen Bundesrepublik Konzeptionen eines „Dritten Wegs“ mehr als suspekt. Andererseits gerieten sie durch ihre mit der Zeit immer öffentlichkeitswirksamere Kritik am Stalinismus und dem Sozialismus der SED immer wieder in das Visier Ost-Berlins. Unter der Überschrift „SED-Feindbild Hermann Weber“ wird beschrieben, auf welch perfide Weise die SED und das MfS ihn als „Verräter“ und „Renegaten“, später als „Rechtsaußen“ der „liberalen Richtung“ bekämpften (S. 358ff., 372ff.).

Die Denunzierungen hielten Hermann Weber nicht davon ab, sich in unterschiedlichen Gruppierungen, den Gewerkschaften, später vor allem in der SPD, zu engagieren. Mit seinem Freund Heinz Lippmann alias Lothar Pertinax, der im September 1952 als FDJ-Stellvertreter Honeckers in den Westen geflüchtet war, veröffentlichte er 1958 – noch ohne jede akademische Weihen, auch die Abiturprüfung stand noch vor ihm – gemeinsam sein erstes kritisches Buch über die SED: Die „65 Fragen an die SED“ trugen den Titel „Schein und Wirklichkeit in der DDR“ (S. 164ff.).3

Weber und die Verwissenschaftlichung der DDR-Forschung

Schon vor „Schein und Wirklichkeit“ war Weber in der ‚ersten Stunde’ der westdeutschen DDR-Forschung regelmäßiger Autor des „SBZ-Archiv“ und der Wochenzeitung „Das Parlament“. Er verfasste zudem seit Ende der 1950er-Jahre mehrere Schriften der politischen Landeszentralen für politische Bildung. 1966 begann er sein Studium an der Universität Mannheim, dass er bereits 1968 abschloss. Infolge wurde in wenigen Jahren aus dem „älteren Erstsemester“ ein „ordentlicher Professor“ (S. 256ff.).

Die Forscherkarriere Hermann Webers ist deshalb so aufschlussreich, weil sie in zweierlei Hinsicht als exemplarisch für das gesamte Feld der ‚alten’ DDR-Forschung vor 1989 gelten kann: Erstens zeigt sie die enge Verflechtung von lebensgeschichtlicher Erfahrung und akademischer Karriere. Viele der Akteure waren selbst biografisch von ihrem Forschungsgegenstand betroffen. Deshalb waren die Forscher zweitens seit den 1950er-Jahren mit der Anforderung konfrontiert, sich etablieren und professionalisieren – also „verwissenschaftlichen“ – zu müssen. Anhand der Biografie Webers kann dieser Prozess anschaulich nachvollzogen werden.

Ein besonderes Problem für die DDR-Forschung bestand darin, dass sie vor 1989 zu wenig an den Universitäten institutionalisiert war. Der „Arbeitsbereich Geschichte und Politik der DDR an der Universität Mannheim“, der unter Webers Leitung offiziell am 01.04.1981 gegründet wurde, zählt zu den wichtigen Ausnahmen. Die normative Perspektive der Mannheimer Forscher zielte darauf, das Geschichtsbild der DDR, das alle konstruktiven und progressiven Elemente der deutschen Geschichte dem sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates DDR zuschrieb, zu dekonstruieren und zu korrigieren. Es sollten Gegenerzählungen geschaffen werden:„Es war wie verrückt. Legenden und Lügen der offiziellen DDR-Darstellungen fanden damals in billigen Lizenzausgaben zunehmend im Westen Verbreitung. Doch bis in die 80er Jahre ignorierten die westdeutschen Zeithistoriker in ihrer übergroßen Mehrheit die Geschichte der DDR. Deshalb suchte ich nach Wegen, das zu ändern und setzte alles daran, in Mannheim die seriöse, kritische Analyse der DDR-Geschichte voranzutreiben.“ (S. 321).

Denn Anfang der 1980er-Jahre stand die Geschichte des Nationalsozialismus mitsamt seiner Vorgeschichte im Vordergrund der Zeitgeschichtsforschung. Für die Integration der DDR als zeithistorisches Thema stehen die Forschungszusammenhänge um Hermann Weber. Die in Mannheim tätigen Wissenschaftler sorgten dafür, dass die Geschichtswissenschaft zu einem immer wichtigeren Faktor der DDR-Forschung wurde – lange vor dem Forschungsboom nach der deutschen Wiedervereinigung.

Fazit: Marx mit Humor

Der Band ist uneingeschränkt zu empfehlen. Er beleuchtet das Leben von zwei ‚echten’ alten Kommunisten, die nach ihrer Loslösung vom Stalinismus bei aller Kritik am Sozialismus in den Farben der SED nie scharfe Antikommunisten waren. Hermann Weber ist in seinen kritischen Analysen immer sehr deutlich gewesen, aber er hat nie das Verständnis verloren, dass man in diese Bewegung ‚reinkommen kann’. Willi Hoss, westdeutscher Kommunist und späterer Mitgründer der Grünen, 2003 verstorben, hatte selbst an einem Zweijahreslehrgang der SED-Parteihochschule in Kleinmachnow teilgenommen und schrieb in seiner Autobiografie über seinen ehemaligen Mitschüler: „Weber ist ein sehr guter Historiker geworden. Er ist früh schon abgesprungen.“4

„Abgesprungen“ – die Weberschen Erinnerungen beleuchten auch die Desintegration des ‚alten’ kommunistischen Milieus und dessen Entradikalisierung seit Mitte der 1950er-Jahre. „Abgesprungen“ meint aber nicht: Abkehr vom „Prinzip Links“. Der Bruch mit der Partei bedeutete nie den Bruch mit den marxistischen Überzeugungen, aus denen die Webers heute ihr Leitbild ableiten: Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Geblieben ist außerdem ihr Lebensthema: Wie konnte eine emanzipatorische Sozialbewegung zum bürokratischen Terrorsystem verkommen?

Auf der Rückseite des Buches befindet sich ein aktuelles Foto der beiden Autoren: Gerda stehend hinter Hermann, der an einem Tisch sitzt und von seiner Frau eine Marx-Miniatur vorgesetzt bekommt. Beide lachen. Denn auch das repräsentiert aus Sicht von Gerda und Hermann Weber das „Prinzip links“: Marx mit Humor.

Anmerkungen:
1 Weber, Hermann, Damals, als ich Wunderlich hieß. Vom Parteihochschüler zum kritischen Sozialisten. Die SED-Parteihochschule „Karl Marx“ bis 1949. Berlin 2002.
2 Weber, Hermann, „Weisse Flecken“ in der Geschichte. Die KPD-Opfer der Stalinschen Säuberungen und ihre Rehabilitierung. Frankfurt am Main 1989; vgl. die Auswahlbibliografie der Schriften Hermann Webers, in: Schönhoven, Klaus / Staritz, Dietrich (Hrsg.), Sozialismus und Kommunismus im Wandel. Hermann Weber zum 65. Geburtstag. Köln 1993, S. 639-667; vgl. zu seiner Wirkung auch den zum 75. Geburtstag erschienenen Band von: Eppelmann, Rainer; Faulenbach, Bernd; Mählert, Ulrich (Hrsg.), Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Paderborn 2003.
3 Weber, Hermann; Pertinax, Lothar, Schein und Wirklichkeit in der DDR. 65 Fragen an die SED. Stuttgart 1958. Vgl. zu Lippmanns Leben das spannende biografische Portrait von :Herms, Michael, Heinz Lippmann. Porträt eines Stellvertreters. Berlin 1996. Das Buch enthält auch ein persönliches ausführliches Vorwort Hermann Webers über seine Freundschaft zu Lippmann. Ebd., S. 9-17.
4 Hoss, Willi, Komm ins Offene, Freund. Autobiographie, hrsg. von Peter Kammerer. Münster 2004, S. 39.

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