S. Kott u.a. (Hrsg.): Die ostdeutsche Gesellschaft

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Titel
Die ostdeutsche Gesellschaft. Eine transnationale Perspektive


Herausgeber
Kott, Sandrine; Droit, Emmanuel
Erschienen
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Wenkel, Institut d'études politiques, Paris; Ludwig-Maximilians-Universität, München

Noch zu Zeiten des Kalten Krieges lässt sich ein ausgeprägtes Interesse französischer Germanisten und Historiker für den zweiten deutschen Staat und die ostdeutsche Gesellschaft konstatieren. Dieses Interesse manifestierte sich unter anderem in der Gründung eines der DDR gewidmeten, im NATO-Raum einmaligen Forschungszentrums an einer Pariser Universität in den 1970er-Jahren. Zwar haben sich mit dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der DDR Motivation und Fragestellungen geändert, das Interesse an DDR-spezifischen Themen hat jedoch keineswegs nachgelassen. Im Gegenteil, es hat sich intensiviert, und der vorliegende Band ist Zeugnis der intensiven Auseinandersetzung einer jungen französischen Forschergeneration mit Ostdeutschland und insbesondere mit seiner Gesellschaft. Eine besondere Rolle bei der Stimulierung und Umsetzung dieser Forschungen kommt dem von Etienne François 1992 in Berlin gegründeten Centre Marc Bloch zu. Für fast alle französischen Autoren des Bandes war bzw. ist dieses Zentrum die zentrale Anlaufstelle im Rahmen ihrer Forschungen vor Ort.

Die Frage, die man an den durchgehend in deutscher Sprache verfassten, und somit an ein deutsches Publikum adressierten Band stellen muss, ist, was er den deutschen Lesern bzw. den deutschen DDR-Forschern zu bieten hat. Diese Frage lässt sich vermutlich weniger mit dem Hinweis auf die verwendete Methode beantworten – das auf die DDR angewandte Konzept der ‚socio-histoire du politique’ –, als vielmehr mit der grundsätzlichen Einstellung der Autoren zu ihren Themen. Etienne François, der durchaus als ein Wegbereiter dieser Forschungen bezeichnet werden kann, verweist in seinem Vorwort zu Recht auf die „unverkrampfte“ Herangehensweise, die in Verbindung mit vielfältigen Ansätzen und quellenbasierter Forschung zur Rekonstruktion eines differenzierten Bildes der ostdeutschen Gesellschaft beiträgt.

Dies bezieht sich freilich nicht allein auf die Beiträge dieses Bandes, die selbst zumeist nur Ausschnitte größerer Forschungsprojekte, in der Regel Dissertationsprojekte, sind. Insgesamt sind seit 1990, wie Sandrine Kott in ihrer Einleitung bemerkt, an die 50 an französischen Universitäten entstandene Dissertationen dem Themenfeld DDR gewidmet. Die Publikation ist aus einem 2005 in Berlin, in Zusammenarbeit des Centre Marc Bloch, des CIERA (Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne) und der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur veranstalteten Kolloquium hervorgegangen, das allen Beteiligten bereits die Möglichkeit zu einem sehr lebhaften Austausch zwischen DDR-Forschern deutscher und französischer Provenienz gab. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, dass die Kommentare einiger deutscher Wissenschaftler, die den Dialog während des Kolloquiums als Diskutanten belebt haben, ebenfalls abgedruckt worden sind (Jens Gieseke, Thomas Lindenberger, Ralph Jessen). Diesen Dialog fortzusetzen und auszubauen, ist die von den Herausgebern mit ihrer Publikation verbundene Absicht.

Auch Sandrine Kott setzt sich mit den Besonderheiten der französischen DDR-Forschung, ihrer historischen Bedingtheit und ihrem Beitrag zur Erforschung der DDR auseinander. Indem die DDR für französische Wissenschaftler weniger Gegenstand ihrer Forschung ist, sondern vielmehr Forschungsfeld, auf dem sich spezielle, für das Verständnis moderner Gesellschaften bedeutsame Fragestellungen entwickeln lassen, leistet die französische DDR-Forschung, so Kott, vor allem einen Beitrag zur Überwindung der „Alternative von Folklorisierung und Verteufelung“, die bisweilen die Sicht auf die DDR prägt. Dass dies, wie Kott annimmt, auch zu einer Entnationalisierung des zweiten deutschen Staates führt, erscheint uns jedoch nicht zwingend. Die französische Sichtweise wird begünstigt durch die methodischen Ansätze dieser Forschung, in deren Mittelpunkt nicht ein totalitäres System, sondern Individuen bzw. Akteure stehen, verstärkt noch durch die immer wiederkehrende Frage nach deren Autonomie innerhalb des Systems.

Die methodische Einführung von Jay Rowell in das Konzept der „socio-histoire der Herrschaft“, einer Adaption des französischen Konzeptes der „socio-histoire du politique“, liefert den Schlüssel für die Erläuterung eines französischen Stils der DDR-Forschung: Für den in einem Zentralstaat sozialisierten französischen Historiker ist die Analyse des Staatssozialismus mit geringeren Hürden verbunden als für einen in der föderalen Bundesrepublik sozialisierten Historiker. Auch ist es für den französischen Historiker selbstverständlich, dass gesellschaftliche Gruppen und soziale Wandlungen nicht ohne Einbezug des Staates und der Politik zu verstehen sind. Für Rowell ist die französische Auffassung von Staatlichkeit konstitutiv für einen wertneutralen Zugang bei der Erforschung der DDR und ihrer Gesellschaft. Zu Recht benennt er das sich daraus ergebende Desiderat einer Erforschung der gesellschaftlichen Prozesse in der DDR von unten – zu deren Analyse der vorliegende Band zahlreiche Ansätze bietet. Zu den Besonderheiten des französischen Verständnisses der DDR zählt selbstverständlich auch die Stellung des Kommunismus als wichtiger politischer und gesellschaftlicher Kraft in Frankreich seit 1945 (Ein Artikel von Bernard Pudal zur französischen Kommunismusforschung findet sich am Ende des Bandes). Es sind wohl nicht zuletzt die strukturellen und mentalen „Wahlverwandschaften“ (E. François), die ein anderes Verständnis der DDR bewirken und in dessen Folge einen spezifisch französischen Stil bei der Erforschung der DDR.1

Seine Anwendung findet dieser Stil in drei Bereichen, die den drei Hauptteilen des Bandes entsprechen. Der erste Teil ist zentralen Institutionen der DDR-Herrschaft gewidmet, die mit Hilfe des von Jay Rowell erläuterten Konzeptes untersucht werden : Dazu zählen Repressionselemente wie die Geheimpolizei (Agnès Bensussan) und die Gefängnisse (Pascal Décarpes), aber auch Institutionen mit sozialisierendem Charakter wie die SED (Michel Christian) und die Schule (Emmanuel Droit). Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem DDR-Alltag; dazu gehören Fragen nach der Autonomie gesellschaftlicher Akteure oder Gruppen wie derjenigen von Privatunternehmern (Agnès Pilleul-Arp) oder einer jungen ostdeutschen Autorengeneration, deren Werke vorwiegend im Selbstverlag erschienen (Carola Hähnel-Mesnard), Fragen nach der Rolle der Arbeitnehmer und den mit ihrer Interessenvertretung verbundenen Problemen (Mathieu Denis) oder solchen nach den Spielräumen eines internationalen Kulturaustausches am Beispiel des Leipziger Dokumentarfestivals (Caroline Moine). Im letzten Teil setzen sich die Autoren schließlich mit dem Gewicht von Vergangenheit und Traditionen im ostdeutschen Transformationsprozess nach 1989/90 auseinander. Exemplarisch untersucht wird die Funktion der Jugendweihe als ostdeutscher Tradition (Marina Chauliac), das Fortbestehen ostdeutscher Verwaltungsstrukturen auf lokaler Ebene am Beispiel Eisenhüttenstadt (Valérie Lozac’h), der Umgang mit der juristischen Vergangenheitsbewältigung auf der Ebene des Strafrechts (Guillaume Mouralis) sowie die Wiedergeburt eines liberalen bzw. eines konservativen Lagers aus den bestehenden Strukturen der Blockparteien (Catherine Perron). Wohltuend ist die fast allen Beiträgen gemeinsame Konzentration auf konkrete Fallbeispiele, ohne dass dadurch ein größerer Rahmen vernachlässigt würde. Zur Einordnung ihrer Ergebnisse bedienen sich außerdem viele der Autoren eines Vergleichs mit der Situation in den östlichen Nachbarstaaten der DDR. Man würde sich jedoch wünschen, dass die teilweise noch zaghaften Ansätze zu komparativen Untersuchungen weiter verfolgt und ausgebaut werden.

Abgerundet wird der Band durch theoretische Überlegungen zur DDR-Geschichte von Mary Fulbrook, die ebenso wie Sandrine Kott zu den wichtigsten nicht-deutschen Historikern der DDR und ihrer Gesellschaft zu zählen ist.2 Die engen Verflechtungen von Staat und Gesellschaft betonend, spricht sich Fulbrook für eine Periodisierung der DDR-Geschichte aus, die auf den Erkenntnissen der Sozialgeschichte beruht und in deren Zentrum Begriffe wie Normalisierung und Individualisierung stehen.

Man kann dem Buch, aber auch der deutschen DDR-Forschung nur wünschen, dass es durch Letztere umfassend rezipiert wird und zu einer Befruchtung dieser bisweilen in nationalen bzw. diktaturgeschichtlichen Kategorien gefangenen Forschung beiträgt. Der im Zusammenhang mit der Erforschung der DDR häufig bemühte diktaturgeschichtliche Ansatz soll hier nicht in Frage gestellt werden. Er hat zweifelsfrei zu wichtigen Erkenntnissen geführt. Um die Komplexität der DDR-Gesellschaft darzustellen, bedarf es freilich anderer Ansätze, und es bedarf vor allem einer nüchternen, unideologischen Herangehensweise. Insbesondere darin liegt das Verdienst dieses beachtenswerten Buches.

Anmerkungen:
1 Cf. Kolboom, Ingo, Frankreichs ‚Ferner Osten’ oder Was ist ‚französisch’ in den neuen Bundesländern?, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog (Bonn), 56 (2000), Nr. 1, S. 7-17.
2 Cf. Fulbrook, Mary, The people’s state. East German society from Hitler to Honecker. New Haven, 2005; Kott, Sandrine, Le communisme au quotidien. Les entreprises d’état dans la société est-allemande. Paris: 2001.

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