Das neue Buch von Aleida Assmann fügt sich nicht nur nahtlos in eine stetig wachsende Zahl von Publikationen zur Erinnerungs- und Gedächtnisthematik ein, sondern will auch ein neues Kapitel im Assmann’schen Werk aufschlagen.1 Bereits im Vorwort ist von einer gewissen „Schwerpunktverlagerung von Literatur und Kunst hin zu Autobiografie, Gesellschaft und Politik“ die Rede (S. 11), die sich darin zeigt, dass Aleida Assmann ihren Blick auf das Verhältnis von Erinnerungskultur und Geschichtspolitik und damit auch auf das nationale Gedächtnis der Deutschen, dessen gegenwärtige Entwicklung sowie die zukünftigen Formen kollektiver Erinnerung lenkt. Das dem Andenken Reinhart Kosellecks gewidmete Buch gliedert sich in einen theoretischen Teil, der verschiedene Formen und Topoi von Gedächtnis diskutiert und ungefähr ein Drittel des Bandes ausmacht, sowie in daran angeschlossene Fallbeispiele, die sich auf verschiedene Fragestellungen und Probleme der deutschen Erinnerung an den Holocaust und die Zeit des Nationalsozialismus beziehen.
Ein besonderes Gewicht erhält dabei der Begriff des Schattens, mit dem Assmann nicht nur auf „Aspekte der Unfreiwilligkeit und Unverfügbarkeit im Umgang der Betroffenen und Nachgeborenen mit der traumatischen Vergangenheit“ (S. 16) hinweisen, sondern auch die im kultur- und sozialwissenschaftlichen Gedächtnisdiskurs vorherrschende Annahme einer sozialen Konstruktion der Vergangenheit ergänzen und korrigieren will. Der spannende Beitrag zur allgegenwärtigen Gedächtnisthematik befindet sich jedoch stellenweise in einem ganz eigenen, nicht unproblematischen Schatten – dazu später mehr.
Der erste Teil des Buches widmet sich zunächst der Frage, wie aus individuellen Erinnerungen kollektive Konstruktionen der Vergangenheit werden (S. 21-61). Assmann geht es dabei gleichermaßen darum, verschiedene Vermittlungsstufen zwischen individueller und kultureller Erinnerung zu benennen als auch auf die Bedingungen einzugehen, die solch eine Vermittlung überhaupt ermöglichen. Auf den ersten Blick findet sich hier viel Bekanntes. So ist von individuellen, sozialen und kulturellen Gedächtnissen die Rede, wird das Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis diskutiert sowie das Funktions- dem Speichergedächtnis gegenübergestellt. Der mit dem Assmann’schen Werk vertraute Leser wird diese Konzepte bereits aus vorhergehenden Veröffentlichungen kennen.
Assmann bietet jedoch auch weitergehende und neuartige Überlegungen an. Dazu zählt der Versuch, neben sozialen und kulturellen Elementen des Erinnerns biologische Aspekte des Gedächtnisses zu thematisieren, das so genannte „neuronale Gedächtnis“ (S. 31ff.). Es bleibt allerdings fraglich, was damit gewonnen ist, wenn eine kulturwissenschaftliche Perspektive, die sich mit Erinnerungskultur und Geschichtspolitik beschäftigt, auch neuronale Aspekte des biologischen Gedächtnisapparates in die Theoriebildung einbezieht. Zumindest bleibt Assmann den Nachweis schuldig, welchen Stellenwert die biologische Grundlage des individuellen Gedächtnisses letztlich für gesellschaftliche Formen des kulturellen Erinnerns besitzt und wie die konkrete Vermittlung zwischen diesen Sphären aussieht. Dieses Vermittlungsproblem ist jedoch nicht das einzige. So hätte es sich auch gelohnt, das Verhältnis von Gedächtnis und Geschichte näher zu beleuchten – und zwar dahingehend, wie sich diese beiden Repertoires der Vergangenheitsvergegenwärtigung durchkreuzen und verknüpfen. Leider verbleibt Assmann hier auf einer Ebene, die lediglich den ergänzenden Nutzen andeuten kann, der sich für die Geschichtsschreibung durch die Berücksichtigung von subjektiven Erfahrungsgedächtnissen öffnet (S. 47ff.).
Der theoretische Teil des Buches schließt mit einer Durchsicht verschiedener Erinnerungsfiguren und deren Gedächtnissen (Sieger und Verlierer, Täter und Opfer, Zeugen) sowie einer Erörterung unterschiedlicher Erinnerungsweisen (Trauma, Beschweigen, Vergessen und Trauer). Hervorzuheben ist, dass Assmann eine sehr griffige und gut strukturierte Taxonomie anbietet, mit deren Hilfe sich Gedächtnisse von Gesellschaften beschreiben lassen. Stellenweise bleiben die Grundbegriffe und Topoi des individuellen wie kollektiven Gedächtnisses jedoch auf eigentümliche Weise unterbelichtet. Es drängt sich der Verdacht auf, dass zugunsten eines emphatischen Opferbegriffes eine notwendige kritische Distanz zu den Beschreibungskategorien aufgegeben wird, die im empirisch zu beobachtenden Opferdiskurs selbst anzutreffen sind. So ist beispielsweise von einem „Thematisierungstabu“ (S. 101) der nationalsozialistischen Verbrechen in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Rede, ohne dass dem Leser klar werden würde, mit welchen Mitteln und in welchen konkreten Zusammenhängen dieses „Tabu“ denn überhaupt erzeugt und aufrechterhalten wurde.
Ähnliches gilt für den Begriff des Traumas. Dieser wird zwar ausführlich diskutiert, wenn es um Artikulations- und Erinnerungssperren sowie verschiedene Formen des Opfertraumas geht. Doch die Tatsache, dass der Begriff des Traumas – wie sich beispielsweise an der Erfindung der so genannten Generation der Kriegskinder ablesen lässt – gegenwärtig auch zu einem erinnerungs- und identitätspolitischen Kampfbegriff umgedeutet wird, auf den sich eine neue Welle durchaus kritisch zu sehender Opfernarrative stützt, wird ausgeblendet.2 Auf diese Weise wird der wissenschaftliche Diskurs jedoch selbst instrumentalisierungsanfällig, und es wäre nötig gewesen, zu diesem Sachverhalt Stellung zu nehmen – zumal Assmann in der Einleitung noch konstatiert, dass wir in einer Zeit leben, in der „Erinnerungspraxis und Erinnerungstheorie eng miteinander verschränkt“ sind (S. 15).
Der zweite Teil des Buches wendet sich in neun jeweils recht knapp gehaltenen Kapiteln konkreten Fallbeispielen und Analysen zu. Zwar handelt es sich um weitgehend bekannte Beispiele, doch sind die Analysen der zentralen Spannungs- und Problemfelder individueller wie kultureller Erinnerung gleichwohl spannend. Auffällig ist, dass sich die Mehrzahl der Kapitel nicht nach den Fällen selbst richtet, das heißt nach zentralen erinnerungskulturellen Begebenheiten oder besonderen geschichtspolitischen Debatten, sondern wiederum theoretischen Fragen folgt.
So setzt sich Assmann im dritten Kapitel damit auseinander, wie wahr Erinnerungen sind. Diese Frage wird leider jedoch nicht beantwortet oder konsequent in einen gesellschaftlichen bzw. soziologischen Kontext gestellt. Vielmehr wird sie durch weitere Gedächtnisdifferenzierungen („Ich-Gedächtnis“ vs. „Mich-Gedächtnis“, „Spur“ vs. „Bahn“, „Erinnern“ vs. „Vorstellen“) mehr oder weniger im Dunklen belassen. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, soll der Leser schließlich selbst zu Fragen angeregt und mit begrifflichem Werkzeug ausgestattet werden. Doch sind auch die weiteren Kapitel, in denen es um falsche Erinnerungen (Kapitel 4), inkorrekte Erinnerungen (Kapitel 5), verschiedene Strategien der Verdrängung (Kapitel 6), die Schnittstellen zwischen Erfahrungsgedächtnis und kulturellem Gedächtnis (Kapitel 8), Gedächtnisorte in Raum und Zeit (Kapitel 9) sowie die Zukunft der Erinnerung an den Holocaust (Kapitel 10) geht, von dieser Vagheit und Zurückhaltung in der Argumentation durchzogen. Ein Grund dafür mag die Tatsache sein, dass (erinnerungs)geschichtliche Zusammenhänge nicht in dem Maße berücksichtigt werden, wie es vielleicht notwendig gewesen wäre. Ein weiterer Grund dürfte die Kürze der einzelnen Kapitel sein (im zweiten Teil des Buchs jeweils etwa 15 Seiten). Selbst dort, wo es um Fallbeispiele im engeren Sinne geht, das heißt um deutsche Opfernarrative (Kapitel 7) und Europa als Erinnerungsgemeinschaft (Kapitel 11), bietet Assmann kaum mehr als Zusammenfassungen bekannter Positionen und Argumente. Die Folge ist, dass sich nach der Lektüre des zweifellos kenntnis- und materialreichen Buches der Eindruck einstellt, eigentlich nicht wesentlich mehr als vorher zu wissen.
Woran Assmanns Buch letztendlich leidet, ist eine ganz eigene Form von Schatten: Vieles bleibt im Diffusen und ohne Konturen. Dem Buch fehlt es an manchen Stellen an dem Biss, der konsequenten Klarheit und den herausfordernden Thesen, die man gerade von dieser erfahrenen Autorin erwartet hätte. Die einzige Stelle, an der Aleida Assmann aus dem sonstigen Duktus ausbricht, findet sich am Schluss des Buches, wenn es um „Regeln für einen verträglichen Umgang mit nationalen Erinnerungen“ geht (S. 264ff.). Doch stellt sich hier die Frage, ob man dies nicht auch ohne all die aufwändigen theoretischen Unterscheidungen hätte sagen können. Damit deutet sich ein allgemeineres, über das hier vorgestellte Buch hinausreichendes Problem an: Forschungen zu Erinnerungskultur und Geschichtspolitik haben inzwischen einen sinkenden Grenznutzen; zumindest müssen sie methodisch und konzeptionell künftig anders ansetzen als in den 1980er- und 1990er-Jahren.
Anmerkung:
1 Siehe hierzu vor allem: Assmann, Aleida, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999 (rezensiert von Brigitte Meier: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=235>).
2 Vgl. etwa Kansteiner, Wulf, Menschheitstrauma, Holocausttrauma, kulturelles Trauma. Eine kritische Genealogie der philosophischen, psychologischen und kulturwissenschaftlichen Traumaforschung seit 1945, in: Jaeger, Friedrich; Rüsen, Jörn (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart 2004, S. 109-138.