O. Kurilo (Hrsg.): Der Zweite Weltkrieg im dt. und russ. Gedächtnis

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Titel
Der Zweite Weltkrieg im deutschen und russischen Gedächtnis.


Herausgeber
Kurilo, Olga
Erschienen
Berlin 2006: Avinus Verlag
Anzahl Seiten
364 S., 32 Abb.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kristiane Janeke, Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst

Ein häufiges Problem bei Sammelbänden und Konferenzberichten oder, wie in diesem Fall, der Dokumentation eines Universitätsprojektes ist der rote Faden. Diesen zu spinnen, gibt es verschiedene Möglichkeiten: eine übergreifende These, die sich durch alle Beiträge zieht, die gemeinsame Absicht der Autor/innen, ein Thema aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten, die Dokumentation des Forschungsstandes oder – ebenso einfach wie verbindlich – ein einleitender Aufsatz, der das Vorhaben erläutert und die einzelnen Aufsätze in den Gesamtzusammenhang einordnet.

Leider lässt sich in diesem Band keiner der genannten Möglichkeiten oder ein anderer gemeinsamer Nenner der versammelten Beiträge entdecken. Auch bei wiederholter Lektüre bleibt offen, was die Aufsätze oder die Autoren/innen miteinander verbindet. Eine Erklärung mag die Heterogenität des Autorenkollektivs aus Deutschland, Russland und Polen mit unterschiedlichen Hintergründen und Forschungsinteressen sein. Dazu gehören erstens ausgewiesene, etablierte Wissenschaftler/innen, zweitens Studierende der Geschichte, Kulturwissenschaften, Germanistik, Internationalen Beziehungen, Journalistik, Soziologie und Biologie/Chemie, drittens Zeitzeugen/innen sowie viertens Menschen mit wieder anderen, zum Teil persönlichen Interessen am Krieg. Sie alle kamen zusammen im Rahmen des internationalen Hochschulprojekts „Russland und Deutschland: Historische Bilder und Zukunftsvisionen“1, dessen Ergebnisse der Sammelband dokumentiert. Unter anderem unterstützt vom Fonds „Erinnerung und Zukunft“ fand dieses Projekt zwischen November 2004 und Juli 2005 statt – mit Beteiligung einer deutschen Universität (Europa-Universität Viadrina) sowie dreier russischer Hochschulen (Staatliche Universität Ivanovo, Staatliche Geisteswissenschaftliche Universität Vjatka und Moskauer Institut für Internationale Beziehungen). Ziel des Vorhabens war es, so heißt es auf der Website, „im Zeitalter der Globalisierung und des ‚internationalen Kampfes gegen den Terror’ […] an die Geschichte totalitärer Regime des 20. Jahrhunderts zu erinnern und darüber zu diskutieren, was Krieg und Terror heute bedeuten und was sie gestern bedeuteten“.

Es ist dieser breite Ansatz, der zugleich die Vorzüge und die Nachteile des Sammelbandes ausmacht. Da ist zunächst der noch immer aktuelle Erinnerungsdiskurs, zu dem auch dieser Band einen Beitrag leistet. Es findet sich aber keine wissenschaftliche Analyse des Erinnerungsbegriffs, und es wird auch nicht der Anspruch erhoben, einen genuin neuen Aspekt in die Diskussion einzubringen. Vielmehr geht es offenbar darum, durch die Breite der Bearbeitung die Notwendigkeit der Erinnerung als solche zu unterstützen – womit eher ein politisches und ethisches als im engeren Sinne wissenschaftliches Ziel angestrebt wird. Dabei folgt die Struktur des Bandes ebensowenig Erinnerungstypen (privat, kollektiv, historisch, öffentlich etc.) wie Erinnerungsfeldern (Film, Literatur, Museum, Wissenschaft etc.). Die entstandene Mischung ist insofern zu begrüßen, als dadurch eine sehr breite Palette entsteht, die den Eindruck der Individualität von Erinnerung vermittelt. Der Verzicht auf eine einheitliche Gliederungsstruktur ist aber zugleich unbefriedigend, da die Leser/innen, die mit dem Diskurs nicht vertraut sind, alleingelassen werden und sich in der Vielfalt nur schwer zurechtfinden.

Ähnlich ambivalent verhält es sich mit den ausgewählten Themen und Textgenres. Es mischen sich wissenschaftliche Beiträge, persönliche Betrachtungen und autobiografische Erinnerungen. Die Folge ist wiederum eine gewisse Beliebigkeit. Hinzu kommen das extrem ungleiche Niveau sowie der unterschiedliche Anspruch der Beiträge. Aus diesem Grund würde auch eine rein wissenschaftliche Kritik an den meisten Aufsätzen vorbeigehen. Am wenigsten auffällig ist dies beim ersten Kapitel (Kollektives Gedächtnis und Erinnerungsorte), aus dem der Aufsatz von Ann-Kathrin Mätzold zu „Krieg und Terror im postsowjetischen Gedächtnis“ positiv hervorsticht. Der Beitrag von Olga Kurilo spiegelt das Problem des Sammelbandes wider: Sie spricht viele wichtige Aspekte des Rahmenthemas an, doch gelingt es ihr nicht, Schwerpunkte zu setzen und Leitfragen zu stellen.

Sowohl das zweite (Fremd- und Propagandabilder) als auch das dritte Kapitel (Der Krieg in Film und Werbung) haben Feindbilder zum Gegenstand, wodurch dieses Thema einen vergleichsweise großen Raum einnimmt. Dabei fällt auf, dass allein das Deutschlandbild der Sowjetbürger untersucht wird. Zwar geschieht dies aus unterschiedlichen Perspektiven (Erinnerungen der Veteranen, sowjetische Kinderbücher, Lehrbücher für Literatur, persönliche Erinnerungen, sowjetischer Film der 1950er bis 1970er-Jahre und postsowjetischer Film), doch kommt es zu zahlreichen Überschneidungen und Wiederholungen. Durch die Wahl des Themas fällt hier der Text von Ekaterina Lysceva über den Krieg „in Marketing- und Werbestrategien im neuen Russland“ auf. Leider versäumt sie es, die für ihre ansonsten interessanten Beobachtungen wichtige Korrelation zwischen „Erinnerungsindustrie“ und politischer Entwicklung herauszuarbeiten.

Das anschließende vierte Kapitel (Zivilbevölkerung und Kriegsteilnehmer) ist eindeutig das schwächste. Thematisch breit angelegt, bietet es Einblicke in das Leben der russischen Zivilbevölkerung im Krieg, das Erleben der Russlanddeutschen, eines sowjetischen und eines deutschen Frontsoldaten sowie eines Deutschen aus Ostpreußen. Dabei sind die Beiträge in Textgenre und Anspruch so unterschiedlich, dass die Leser/innen mit einem Mosaik persönlicher Erinnerungen und subjektiv gedeuteter Fakten auf der Basis stichprobenartig ausgewählter Dokumente zurückbleiben. Hinzu kommt ein Umgang mit den Quellen, der einer wissenschaftlichen Prüfung nicht standhält. So leitet Ekaterina Medvedicyna ihre These, „dass alle arbeitsfähigen Bevölkerungsmitglieder des Kirover Gebiets […] einen großen Beitrag zur Erringung des Sieges leisteten“, aus Dokumenten der offiziellen Propaganda ab. Ol’ga Soldatenkova kommt auf der Grundlage des Kriegstagebuchs ihres Großvaters zu vermeintlich allgemeingültigen Schlüssen über das Kriegserleben aller Frontsoldaten, während Wolfgang Koch und Konrad Behrend einem persönlichen Bericht ihrer Kriegserlebnisse verhaftet bleiben, ohne diese weiter zu reflektieren.

Auch das fünfte Kapitel (Kriegsgefangene) verschenkt sein Potenzial. Die Bearbeitungen dieses in der Sowjetunion tabuisierten und bis heute nicht ausreichend erforschten Themas lassen mit Ausnahme des Artikels von Marc Böckler eine Analyse des zusammengetragenen Materials vermissen. Das letzte Kapitel (Patriotismus, Nationalismus und Gedächtnis) greift gleich mehrere Tabuthemen auf, wie eine kritische Einordnung der Partisanenbewegung, die so genannte „Vlasov-Armee“, nationale Unabhängigkeitsbewegungen in der UdSSR sowie die Behandlung der Feinde im eigenen Land. Einen besonderen Einblick in die Erinnerungskultur bietet hier der Beitrag von Michail Toropov, der über die russische „Nachforschungsbewegung“ zum Zweck der Suche und Umbettung sterblicher Überreste von Soldaten berichtet.

Insgesamt bietet die Dokumentation viel Material sowie Innensichten verschiedenster Bereiche der Erinnerung. Thematisch breit angelegt, fehlen allein Beiträge zu Kollaboration und Zwangsarbeiter/innen. Die Schwäche des Bandes liegt in der Analyse. Fast scheint es, als sei dieses der erste von zwei geplanten Bänden, die Materialsammlung und Interpretation getrennt beinhalten. Die Irritation der Leser/innen erklärt sich zum einen aus diesem Defizit, zum anderen aus der Tatsache, dass der noch immer disparate Forschungsstand in Deutschland und Russland unkommentiert bleibt. Eine kritische Erinnerung wird in Russland noch immer häufig tabuisiert und stattdessen nach vorgegebenen Mustern zelebriert. Dies ist ebenso manifest in einem häufig pathetischen Stil der russischen Beiträge wie in der fast arglosen Bemerkung Dar’ja Skvorcovas: „[…] der Große Vaterländische Krieg bleibt ein Mythos, den niemand zu entzaubern wagt […]“ (S. 169).

Schließlich bleibt noch eine dritte Leerstelle. Auf die Frage, wie an den Zweiten Weltkrieg in Russland erinnert wird, gibt diese Dokumentation eine Antwort. Es ist bemerkenswert, dass diese Frage in Bezug auf Deutschland gar nicht erst gestellt wird. Nicht ein einziger Artikel widmet sich der gegenwärtigen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg im deutschen Gedächtnis – obwohl der Buchtitel dies doch gleichgewichtig zum russischen Gedächtnis ankündigt. Eine Chance des Projekts wäre es gewesen, der Frage nachzugehen, warum sich die Deutschen mit dieser Erinnerung so schwertun. Mit diesem Versäumnis ist der Sammelband weit von der Ankündigung im Beitrag von Olga Kurilo entfernt, das „Nachdenken über die Vergangenheit in einem gemeinsamen russisch-deutschen Dialog aus einer neuen europäischen Perspektive“ zu dokumentieren (S. 27). Die daraus im Klappentext abgeleitete Frage hätte den Beiträgen einen roten Faden geben können: „Lässt sich der deutsch-russische Dialog über die gemeinsame Vergangenheitsbewältigung einfügen in einen Diskurs über Europa?“ Diese Frage bleibt bis auf Weiteres unbeantwortet.

Anmerkung:
1 <http://www.historische-bilder.com/projektbeschreibung.html>.

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