R. Cvetkovski: Modernisierung durch Beschleunigung

Cover
Titel
Modernisierung durch Beschleunigung. Raum und Mobilität im Zarenreich


Autor(en)
Cvetkovski, Roland
Erschienen
Frankfurt / Main 2006: Campus Verlag
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Feest, Sonderforschungsbereich 640, Humboldt-Universität zu Berlin

Zu welchen Erkenntnissen kann eine Untersuchung von Beschleunigung in der russischen Geschichte führen, die eine Darstellung weniger abstrakter Themen wie Infrastruktur oder Verkehrswesen nicht ebenso gut hervorbringen könnte? Und was verspricht die Reduktion der Fragestellung auf elementare Dimensionen wie Raum, Zeit oder Geschwindigkeit bei der Untersuchung eines Reiches, dessen Kommunikations- und Kontrollprobleme vielfältig und konkret waren? Eine mögliche Antwort haben in den letzten Jahren Forschungen geliefert, die gezeigt haben, wie unterschiedliche Formen, sich den Raum anzueignen, konstitutiv für das Weltbild der Menschen sind. Vermessungs- und Visualisierungstechniken bilden aus dieser Perspektive nicht einfach den vorgefundenen Raum ab, sondern sind Instrumente seiner aktiven Strukturierung.

Roland Cvetkovski schließt in seiner Kölner Dissertation an solche Ansätze an, indem er Raum als „kontextuelles, wandelbares Narrativ über territoriale Ordnungen der Welt“ verstanden wissen will. Zudem aber stellt er fest, dass der Raum zumeist in Zusammenhang mit der Zeit betrachtet wurde, die man für seine Durchmessung benötigte. An eine Unterscheidung Bergsons anschließend rückt er dabei die als subjektiv erlebte „durée“, nicht die messbare „temps“ in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Auch Geschwindigkeit, die sich aus dem Verhältnis dieser beiden Faktoren zueinander ergibt, interessiert ihn somit eher als Vorstellung denn als objektivierbare Größe – sie ist ein spezifischer Modus, Raum und Zeit zu erfahren und zu interpretieren. Wie neue Geschwindigkeitsvorstellungen in zunehmendem Maße das Leben der Menschen strukturierten, ist das Thema des Buches. Es behandelt damit am russischen Beispiel einen Bewusstseinswandel, der gemeinhin als zentral für die aufkommende Moderne angesehen wird.

Zunächst wird die Perspektive des Zentralstaates eingenommen, der bestrebt war, die Weite des Landes kontrollierbar zu machen, sie zu „territorialisieren.“ Als Fallbeispiele dienen die beiden größten auf dem Landwege operierenden Infrastrukturen des Russischen Imperiums, die Post und die Eisenbahn, daneben auch die Flusswege, Straßen und Telegraphenverbindungen. Neben ihrem unmittelbaren funktionalen Nutzen bestand ihre Bedeutung für den Verfasser darin, dass im Zuge ihres Aufbaus der Raum vermessen, in geometrische Einheiten aufgegliedert und mit einer Infrastruktur durchzogen wurde. Dass bei dieser Durchdringung des Raumes auch der Begriff der Geschwindigkeit eine zentrale Rolle spielte, liegt auf der Hand.

In einer detaillierten und spannenden Beschreibung des Postwesens, die vom alten Botenwesen über die Schaffung eines regelmäßigen Postverkehrs im siebzehnten Jahrhundert bis hin zu der Ausweitung des Postnetzes im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert reicht, steht eben die zeitliche Disziplinierung im Mittelpunkt. Selbst wenn diese häufig mehr Anspruch als Wirklichkeit war: Bereits im Jahr 1737 wurde es unter Androhung der Todesstrafe untersagt, Kuriere aufzuhalten. Auch legte man in den Folgejahrzehnten die zu leistende Geschwindigkeit immer genauer fest und bestrafte die Kuriere mit Geldbußen für Verspätungen.

Wichtiger noch erscheint allerdings eine grundsätzliche Entwicklung, die mit dieser Präzisierung Hand in Hand ging: Die Kutscher fuhren ihre Strecken ab, ganz gleich, ob es Briefe zu transportieren gab oder nicht. Indem die Postfahrten von ihrem eigentlichen Auftrag abgekoppelt wurden, erhielten sie einen Eigenwert. Erst die so gewährleistete regelmäßige Durchmessung des Raumes konnte laut Cvetkovski den Raum „entqualifizieren“, oder, wie er es an anderer Stelle ausdrückt: „glätten“. Die Bewegung wurde geometrisiert und einem abstrakten zeitlichen Schema unterworfen. Die Regeln, nach denen der Raum erschlossen wurde, blieben auf längere Sicht auch nicht ohne Einfluss auf die Mitreisenden. Nicht zuletzt anhand von Reiseberichten gelingt es dem Verfasser nachzuzeichnen, wie Kontinuität, Gleichmäßigkeit, Berechenbarkeit zu allgemeinen Kategorien wurden, mit denen Mitreisende ihre Raumerfahrung erfassten.

Ähnliche staatliche Zielvorstellungen wie bei der Post waren auch bei dem Ausbau der Eisenbahn leitend, die das Ideal eines raumgreifenden Verkehrsnetzes noch sinnfälliger vermitteln konnte. Spätestens die Kommunikations- und Transportschwierigkeiten im Krimkrieg hatten den Netzausbau als „unmittelbares Macht- und Herrschaftsinstrument“ ins Zentrum staatlicher Bestrebungen gerückt. Allerdings wurde dieses Ziel nicht konsequent verfolgt. Aufgrund einer zwischen staatlichen und privaten Lösungen schwankenden Finanzierungspolitik erreichte das Eisenbahnnetz bis zum 20. Jahrhundert nie eine Größe, die dem Ausmaß des Russischen Imperiums gerecht gewesen wäre. Auch waren einer breiten Nutzung der Bahn Grenzen gesetzt, da es an befahrbaren Zufahrtswegen mangelte und die Fahrtkosten im europäischen Vergleich sehr hoch waren.

Zuletzt aber war die Entwicklung der Eisenbahn immer von einer grundsätzlichen Diskussion über den Nutzen schnellen Transports für Russland begleitet, die deutlich macht, dass das neue Geschwindigkeits- und Beschleunigungsparadigma keineswegs von allen geteilt wurde. Die Meinung, die russischen Bedingungen seien mit einer auf schnellen Transport ausgerichteten Infrastruktur überhaupt nicht vereinbar, war weit verbreitet. Diese Skepsis fand sich um so mehr in den dörflichen Regionen, wo die Bewegungen der Menschen kaum mit den neuen Vorstellungen von der Überwindung des Raums durch schnelle Transportwege vereinbar waren. Die Straße wurde hier, wie Cvetkovski anhand russischer Sprichwörter darlegt, grundsätzlich als etwas gesehen, das außerhalb der eigenen Lebenswelt lag, und die Weite des Raums blieb meist mit dem „Schlechten“ und „Gefährlichen“ assoziiert. Raum war somit nichts, was es zu überwinden galt, und entsprechend misstrauisch stand man auch der schnellen Fortbewegung gegenüber: „Was gut ist, ist nicht schnell“, lautete ein Sprichwort, „was gut ist, ist mit Weile“.

Auf der anderen Seite zeigt Cvetkovski an der Geschichte der Eisenbahn überzeugend, dass die für die Moderne typische „Effektisierung, Verdichtung und Homogenisierung“ das Weltbild einer immer breiteren Menschengruppe maßgeblich prägte. Dies brachte eine Verschiebung der Dimensionen mit sich: Wo ursprünglich Raum und Ort als Einheit wahrgenommen wurden, spielte die zeitliche Dimension eine immer größere Rolle in der Beschreibung der Wirklichkeit, ja der Moskauer Ökonomieprofessor Aleksei Lwow stellte im Jahr 1856 sogar fest, im Zeitalter der Eisenbahnen müssten Entfernungen nicht mehr in Raum- sondern in Zeiteinheiten dargestellt werden.

Gleichzeitig änderte sich auch das Verhältnis von Staat und Bevölkerung in diesem Prozess. Der Wunsch nach beschleunigter Fortbewegung, der ursprünglich von der Obrigkeit ausgegangen war, wurde im Falle der Eisenbahn immer mehr von ihren Nutzern geäußert, denen der Transport zu langsam ging. Was als staatliches Disziplinierungsprojekt mit dem Ausbau des Postsystems begonnen hatte, wurde den Herrschenden also zunehmend aus der Hand genommen, ja konnte sich als Anspruch gegen sie selbst wenden.

So entsteht insgesamt ein durchaus ambivalentes Bild. Während neue Zeitvorstellungen immer mehr das Bewusstsein großer Teile der Bevölkerung beeinflussten, blieb die dörfliche Bevölkerung nur wenig davon betroffen. Dabei ging es nicht nur um graduelle Meinungsverschiedenheiten. Es handelte sich vielmehr um ein Aufeinandertreffen inkompatibler Weltbilder. Diesen Konflikt in einer neuen Art herausgearbeitet zu haben, die auf Deutungsmuster wie „fortschrittlich“ oder „rückständig“ völlig verzichtet, ist ein Verdienst des Buches.

Die in großen Zügen eindrucksvolle und überzeugende Studie hat ihre Schwächen in der begrifflichen Kleinbestimmung. Obwohl auch auf theoretischer Ebene ehrgeizig, ringt sie doch mitunter um klare Begriffe, wenn es um die abstrakte Bestimmung der behandelten Dimensionen geht. Insgesamt krankt die Begrifflichkeit an einer mangelnden Trennschärfe zwischen definitorischen und metaphorischen Elementen. Der erfahrbare Raum etwa erhält im Laufe der Diskussion eine ganze Reihe von Adjektiven so unterschiedlicher Provenienz wie „konkret“, „organisch-widerständig“, „rau“, „spröde“ oder „existenziell gegeben“, deren analytischer Wert nicht immer einsichtig ist. Hier hätte es vielleicht weitergeführt, stärker auf die Sprache der Quellen zurückzugreifen und sie in einer Analyse zu erschließen.

Auch lässt sich der Verfasser an einigen Stellen zu einer bildhaften Sprache hinreißen, die bei genauerem Hinsehen begriffliche Ungenauigkeiten bis hin zu handfesten Kategorienfehlern enthält, etwa wenn die Zeit „gewissermaßen den Raum überrennt“, der Raum als „Bedingung“ und die Zeit als „Mittel“ definiert oder die Bahngleise als „Träger von Geschwindigkeit“ bezeichnet werden. Ebenso wenig ist einzusehen, warum Reisende, die ein von der Eisenbahn vermitteltes Zeitregiment internalisierten, sich damit gleich „die Struktur der beschleunigten Fortbewegungsmittel selbst“ zu eigen machten – zurückhaltendere, aber sorgfältigere Formulierung hätten an solchen Stellen mehr Klarheit gebracht. Dennoch ist Cvetkovski eine wichtige und gut lesbare Pionierstudie gelungen, die ein neues Thema über eine weite Zeitspanne differenziert behandelt, ohne dabei den roten Faden zu verlieren.

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