U. Rosseaux: Unterhaltung, Vergnügen und Erholung in Dresden 1694-1830

Cover
Titel
Freiräume. Unterhaltung, Vergnügen und Erholung in Dresden (1694-1830)


Autor(en)
Rosseaux, Ulrich
Reihe
Struktur und Norm 27
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michaela Fenske, Institut fuer Kulturanthropologie/Europaeische Ethnologie, Göttingen

Wissenschaftliche Repräsentationen werden auch durch ihre Untersuchungsgegenstände geformt. Dies gilt für eine Kulturgeschichte der Unterhaltung in der Frühen Neuzeit, die Ulrich Rosseaux 2006 als Habilitation an der TU Dresden eingereicht und in diesem Jahr veröffentlicht hat, im besonderen Maße. Indem das Buch die Formen und Praktiken der frühneuzeitlichen Unterhaltungskultur breit darstellt, vermittelt es auch etwas von der Faszination, die dem Untersuchungsgegenstand innewohnt. Grundlage von Rosseaux Untersuchung ist die gute Quellenüberlieferung der Residenzstadt Dresden als "eines der wichtigsten urbanen Zentren im deutschsprachigen Raum" (S. 21). Der zeitliche Schwerpunkt liegt im 18. Jahrhundert, das durch tiefgreifende Veränderungen geprägt war; Rosseaux konzentriert sich vor allem auf den Wandel der Unterhaltungskultur.

Das von Rosseaux angewandte heuristische Raum-Konzept vermag diesbezüglich Wichtiges zu leisten, ermöglicht es doch, kulturelle Praktiken in ihrer Breite und vor allem in ihrer zeitlichen Veränderung zu fokussieren. Die Umsetzung des "spacial turn" in den spezifischen Untersuchungskontext bedeutet konkret "die Analyse jener sozialen Räume, die durch kulturelle Praktiken entstanden" (S. 13). Dabei werden sowohl "die Zeitstrukturen als auch die verschiedenen Arten der Unterhaltung und des Vergnügens (...) als soziale Räume (begriffen), die sich durch die Handlungen der historischen Akteure konstituierten und deren Veränderungen daher vom Wandel eben jener kulturellen Praktiken abhingen, durch die sie entstanden waren" (ebd.).

Wenig überzeugend ist in diesem Zusammenhang allerdings die konkrete Begriffsverwendung "Freiraum". Bereits auf dem Historikertag 2004, auf dem der Autor gemeinsam mit Ute Lotz-Heumann das Freiraum-Konzept vorgestellt hat, stimmten die Diskutant/innen mit Rosseaux und Lotz-Heumann zwar darin überein, dass der Freizeitbegriff für eine Analyse vormodernen Vergnügens ungeeignet ist, kritisierten aber ebenso den ersatzweise vorgeschlagenen Begriff "Freiraum" ob seiner freiheitlichen Konnotationen.1 Tatsächlich verwendet auch der Autor im Verlauf seiner Darstellung den Begriff "Freiraum" gelegentlich in diesem umgangssprachlichen Sinne (etwa S. 106: "der Freiraum der Narren"). Dabei gehört es gerade zu den bemerkenswerten Stärken von Rosseaux Studie zu zeigen, dass und wie das breite Feld der Unterhaltung durch politische und soziale Machtverhältnisse durchdrungen und geformt wurde. Von einem Freiraum im Sinne der Befreiung von herrschenden Zwängen kann mithin keine Rede sein.

Von diesem in der Begriffsverwendung angelegten Missverständnis abgesehen, zeichnet sich die Darstellung durch eine klare, kenntnisreiche und detaillierte Darstellung aus. Die Arbeit gliedert sich in sieben Teile, von denen sich neben Einleitung, Schluss und einer Einführung in frühneuzeitliche Zeitrhythmen vier wohlproportionierte Teile mit dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand beschäftigen. Im Teil III (Symbiose: Bürgerliche Hofnutzung - höfische Stadtnutzung) geht es um das Ineinander höfischer und städtischer Unterhaltungskultur. Höfische Feste, Karneval, Theater und Oper werden als vielschichtig aufgeladene Handlungsräume, als Orte ebenso der Begegnung wie der Abgrenzung der sozialen Großgruppen der Stadt Dresden dargestellt. Rosseaux zeigt, wie die ehemals exklusiven höfischen Angebote, meist in veränderter Form zunehmend auch im Bürgertum gepflegt wurden, ohne dass der Adel auf seine Partizipation verzichtet hätte. Die Verflechtung von Hof-Adel und Stadt-Bürgertum setzt sich auf dem Feld der korporativen Unterhaltungspraktiken (Kapitel 1 im Teil IV: Strukturwandel urbaner Freiräume - Von der Korporation zum Kommerz) fort. Dies gilt etwa für das Vogelschießen, bei dem der Kurfürst im 16. Jahrhundert Schützenkönig wurde oder das der Regent 1699 als Medium politischer Kommunikation nutzte. Das umfangreichste Kapitel dieses Teils ist den kommerziellen Formen gewidmet, von denen sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts insbesonders jene ausweiteten, die neue wissenschaftliche Erkenntnisse umsetzten oder zur Schau stellten. Behandelt werden: Tiervorführungen und -dressuren, Akrobatik, Körpersensationen und fremde Menschen, Wachsfigurenkabinette, Automaten und Experimente.

Mit der neuen Wahrnehmung von Natur und Landschaft im Gefolge der Rousseau-Rezeption gewann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Raum vor bzw. außerhalb der Stadt an Bedeutung: Badekuren und Sommerplaisier, Spaziergänge und Gartenfreuden, Bade- und Schwimmanstalten in der Elbe sowie das diese begleitende reichhaltige Angebot an Theater, Musik und Spiel stehen im Mittelpunkt des V. Teils (Stadtraum und Naturraum). Diese Entwicklung zur Nutzung des Naturraums mündete schließlich in die Entfestigung der Stadt Dresden im Jahre 1829, mit der sich die Stadt auch baulich dem Umland öffnete.

Den VI. Teil (Erweiterungen der Freiräume) hat Rosseaux den neuen Möglichkeiten gewidmet, und zwar den sozialen (Gesellschaften und Vereine), funktionalen (Freizeitpark), vertikalen (Ballonfahrten) sowie visuellen (Schaumedien).

Als wesentliche Ergebnisse der Studie skizziert der Autor drei Entwicklungslinien:
(1.) Wachstum und Ausdifferenzierung, was sowohl die quantitative als auch qualitative Ausdehnung der Formen und Praktiken der Unterhaltung meint; (2.) Öffnung und Kommerzialisierung, was die zunehmende Beteiligung immer größerer Teile der Bevölkerung an der Unterhaltungskultur in Gestalt einer "konsumierbaren Dienstleistung" (S. 322) benennt (kritisch angemerkt sei, dass diese Öffnung insofern relativ ist als beispielsweise, wie der Autor mit den gewählten Beispielen selbst illustriert, ökonomische Ungleichheit die Teilnahme vieler Menschen konkret erschwerte, ständische Exklusionsprinzipien mithin durch kapitalistische ersetzt werden); (3.) Permanenz und Veralltäglichung, womit die zunehmende Verschiebung der Tag- und Nachtgrenze sowie die zunehmende Lösung von saisonalen Bindungen wie Festen und Märkten gemeint ist. Am Ende der skizzierten Entwicklung sieht Rosseaux die "Konturen einer modernen Freizeitgesellschaft" aufscheinen mit neuartigen Formen des Vergnügens und der Erholung wie zoologische Gärten, Volksgärten, Rummelplätze, Bildungsreisen sowie der touristischen Nutzung der Natur.

Forscher/innen auf dem Feld der Unterhaltungskultur ist die von Rosseaux geschilderte Entwicklung nicht neu. Sie ergibt sich als Gesamteindruck aus der Fülle an wissenschaftlichen, aber auch an eher populären Einzeldarstellungen auf diesem Feld. Rosseaux gelingt jedoch unter dem analytischen Raum-Konzept eine Bündelung und Präzisierung der bislang disparaten Erkenntnisse auf neuer empirischer Grundlage. Damit hat er am Beispiel der Stadt Dresden erstmals eine Gesamtschau wesentlicher Teile der Unterhaltungskultur vor allem des 18. Jahrhunderts erarbeitet, und die Grundzüge ihres Wandels in breitere Forschungskontexte eingeordnet. Als hilfreich erwies sich dabei sicherlich, dass Rosseaux – anders als der auf das enge Themenfeld bezogene Forschungsüberblick im einleitenden Kapitel (S. 5-7) suggeriert – auf eine Literaturbasis auch aus Nachbardisziplinen zurückgreifen kann, darunter beispielsweise auch auf Studien aus der Europäischen Ethnologie. Rosseaux ergänzt die vorhandenen Forschungen immer wieder durch neue Perspektiven oder Hinweise, etwas wenn er der These von der Verbürgerlichung des Theaters im späten 18. Jahrhundert die "Verbürgerlichung des Theatergeschmacks des Hofes" (S. 130) gegenüberstellt.

Über manches hätte man gerne mehr erfahren, so zum Beispiel über die ökonomischen Seiten (und Zwänge) der Unterhaltungskultur, über die Wahrnehmungsebenen und Erlebnisweisen der historischen Akteure (die eher summarisch behandelt werden), über die hier eher unterbeleuchteten Vergnügungen der städtischen Unterschichten oder die Begegnungen von Stadt und Land, etwa auf Märkten. Ein Verweilen in manchem Raum und seine genaue Ausleuchtung wäre inspirierend gewesen. Das Fehlen dieser und anderer interessanter Aspekte mag nicht zuletzt den durch die Quellenüberlieferung gesetzten Grenzen geschuldet sein. Inwieweit das in mancher Hinsicht doch besondere, da sehr wandlungsvolle, 18. Jahrhundert hier für die Frühe Neuzeit insgesamt stehen kann, wäre ebenfalls zu diskutieren. Dass über die Untersuchung der Unterhaltungskultur neue und grundlegende Erkenntnisse über die großstädtische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts möglich sind, betont der Autor nicht nur selbst. Sein Buch illustriert dies auch anschaulich und sei daher Frühneuzeitforscher/innen ebenso empfohlen wie solchen der Unterhaltungskulturen, nicht zuletzt aber auch den an der Geschichte Dresdens interessierten Leser/innen.

Anmerkung:
1 Vgl. den Bericht von Christian Hochmuth in H-Soz-u-Kult vom 13.10.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=465> (18.10.2007).

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