Die Beschäftigung mit dem Thema Flucht und Vertreibung hat in letzter Zeit Konjunktur. Ein Millionenpublikum nahm Anteil am Schicksal der vor dem Ansturm der Roten Armee aus Ostpreußen nach Bayern flüchtenden Gräfin Lena von Mahlberg im ARD-Zweiteiler „Die Flucht“. Zahlreiche Besucher interessierten sich für die Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“ im Bonner Haus der Geschichte oder besuchten die Ausstellung „Erzwungene Wege“ der politisch umstrittenen Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin. Jahrzehntelang war das Interesse an dieser Thematik in Gesellschaft, Politik und historischer Forschung weitaus geringer, wie der Regensburger Historiker Manfred Kittel in seiner kürzlich erschienenen Studie feststellt, die den provokanten Titel „Vertreibung der Vertriebenen?“ trägt. Kittel geht in seiner Studie zum einen der Frage nach, inwieweit die millionenfache Opfer fordernde Flucht und die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa in der westdeutschen Gesellschaft angemessen gewürdigt und erinnert worden sind, zum anderen stellt er die Frage nach dem Stellenwert des deutschen Ostens in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik.
Der zentrale Untersuchungszeitraum der elf, eher kurze Kapitel umfassenden Studie erstreckt sich von der Endphase der Ära Adenauer bis zum Beginn der Ära Kohl, die durch Rückblicke in die 50er-Jahre und – vor allem im letzten Kapitel – durch Ausblicke bis in die Gegenwart ergänzt werden. Die Arbeit basiert neben der Verarbeitung großer Literaturmengen und einschlägigen Archivmaterials auf der Auswertung zahlreicher Zeitungen und Zeitschriften. Darunter befinden sich diverse Vertriebenenpublikationen, die teilweise erstmals systematisch analysiert worden sind.
Die Studie lässt sich grob in zwei Teile gliedern. Die Kapitel II bis VI/VII behandeln die erinnerungspolitischen Entwicklungen der 60er-Jahre bis zum Antritt der Regierung Brandt, die restlichen Kapitel nehmen die sozial-liberale Ära der 70er-Jahre bis zur Wende im Jahr 1982 in den Blick.
Während das Schicksal der Vertriebenen im öffentlichen Bewusstsein der 50er-Jahre noch einen bedeutenden Platz einnahm, wandelte sich dies zu Beginn der 60er-Jahre (Kapitel II). Parallel dazu nahm die bis dahin stark vernachlässigte Relevanz von NS-Verbrechen deutlich zu. Die mediale Berichterstattung über den Ausschwitz- und den Eichmann-Prozess trugen erheblich dazu bei. Als Wendepunkt im „Vertriebenendiskurs“ markiert Kittel den Bau der Mauer und die Krise um Berlin. Die starren Fronten des Kalten Krieges begannen langsam zu bröckeln, die Supermächte tasteten sich vorsichtig an eine Détente-Politik heran. Vor diesem Hintergrund wurde das starre Festhalten der Bundesrepublik an ihren alten Rechtspositionen bezüglich der deutschen Ostgebiete zunehmend problematisch. Vernunft und Zeitgeist verlangten einen Verzicht auf diese Gebiete als Akt der Sühne und Wiedergutmachung für die menschenverachtenden Verbrechen der Nazizeit (Kapitel III). Die links-liberale Presse und große Teile von Funk und Fernsehen leisteten diesem Denken Vorschub. Sie forderten dazu auf, die „Realitäten“, sprich die „Oder-Neiße-Linie“, als Grenze anzuerkennen. Die Springer-Presse hielt entschieden dagegen und beschwor das Beispiel Elsass-Lothringen. Allerdings erwies sich die Unterstützung durch die rechte Springerpresse für die Sache der Vertriebenen in der Phase der Studentenbewegung eher als kontraproduktiv. Die damals diskutierte Einrichtung einer Zentralstelle für die Erfassung von Vertreibungsverbrechen hatte in diesem politischen Klima keine Realisierungschance. Die aus politischer Rücksichtnahme weitgehend unterbliebene juristische Verfolgung dieser Taten hält Kittel aus heutiger Sicht für einen Skandal der Rechtsgeschichte (Kapitel IV). Die Auseinandersetzung mit dem Leid der vor dem Ansturm der Roten Armee flüchtenden Deutschen hatte in den 60er- und 70er-Jahren keine Konjunktur.1
Im Gegensatz zu den Medien hielten sich die Politiker in den 60er-Jahren mit öffentlichen Verzichtsappellen gegenüber den Vertriebenen weitgehend zurück. Dies galt für alle demokratischen Parteien, deren Unterschiede in der Vertriebenenpolitik laut Kittel nur gradueller Natur waren. Schon Adenauer hielt die deutschen Ostgebiete für verloren, redete in der Öffentlichkeit aber ganz anders. Denn einerseits galten die Millionen von Vertriebenen als wichtiger Wählerblock, den alle Parteien umwarben, andererseits dienten die deutschen Ostgebiete gegenüber dem Ostblock als völkerrechtliches Druckmittel (Kapitel V). Auch wenn die Anliegen der Vertriebenen in den 60er-Jahren zunehmend weniger Gehör fanden, so war dieses Jahrzehnt im Vergleich zu den folgenden trotzdem noch so etwas wie der „Spätsommer der ostdeutschen Erinnerungskultur“ (Kapitel VI). Der sich in den Medien bereits deutlich abzeichnende Stimmungswandel schlug im politischen und gesellschaftlichen Leben noch nicht voll durch. Nach dem Bundesvertriebenengesetz war die Sicherung des ostdeutschen Kulturguts eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern. Zu diesem Zweck wurde an den westdeutschen Schulen die so genannte Ostkunde eingeführt. Es gab zahlreiche historische Kommissionen, Akademien und Werke, die sich auf mehr oder minder wissenschaftlicher Basis mit dem deutschen Osten und seiner Kultur beschäftigten. Zahlreiche Straßen, Plätze und Autobahnraststätten(!) wurden symbolisch nach ostdeutschen Städten und Regionen benannt. Der hehre erinnerungspolitische Anspruch wurde allerdings nur mit vergleichsweise geringen finanziellen Mitteln untermauert. Insgesamt gelang es laut Kittel nur sehr bedingt, die geistige und kulturelle Substanz des deutschen Ostens dem gesamten Volk zu erhalten.
In den Jahren der Großen Koalition zeichnete sich der unter Bundeskanzler Brandt dann definitiv vollzogene Paradigmenwandel in der deutschen Ostpolitik bereits deutlich ab (Kapitel VII). Die so genannte Anerkennung der Realitäten führte zu einer massiven Entfremdung zwischen der SPD und dem Bund der Vertriebenen und in deren Folge zu einer Polarisierung der jeweiligen Positionen (Kapitel VIII). Von Seiten der Bundesregierung gab es Bestrebungen, den als reaktionär und rechtslastig verdächtigten BdV zu spalten. Viele Heimatvertriebene und deren Kinder, die mittlerweile im Westen fest etabliert waren, zeigten sich durchaus bereit, die neue Ostpolitik mit zu tragen. Prominente Vertreter dieser Gruppe waren z. B. Günter Grass und Gräfin Dönhoff. Ihnen lagen weniger die verlorenen Territorien als vielmehr die Bewahrung der ostdeutschen Geschichte und Kultur am Herzen. Das gespannte Verhältnis zwischen der sozial-liberalen Regierung und den Vertriebenenfunktionären führte zu spürbaren finanziellen Einschränkungen. Kittel spricht hier einerseits von einer gezielten Austrocknung der Vertriebenenarbeit vor allem unter Kanzler Schmidt, andererseits ging aber auch die Teilnehmerzahl an Heimattagen und Vertriebenenkundgebungen integrations- und altersbedingt spürbar zurück. Für die Anliegen der Vertriebenen war es schädlich, dass sie nicht nur zwischen die Fronten der ostpolitischen Kämpfe von SPD/FDP und CDU/CSU gerieten, sondern sich für sie auch instrumentalisieren ließen.
Die de facto Anerkennung des territorialen Status quo im Zuge der neuen Ostpolitik führte in den 70er-Jahren zu einer raschen und konsequenten Abkehr von der in den späten 60er-Jahren praktizierten, weitgehend sinnentleerten Symbolpolitik. Dies war gut und richtig. Falsch war aber aus Sicht des Autors, dass man sich im Zuge eines vorauseilenden Gehorsams gegenüber den neuen Vertragspartnern aus dem Osten dazu hinreißen ließ, die Erinnerung an die Jahrhunderte währende deutsche Geschichte und Kultur in Ostmitteleuropa sowie an die Schrecken von Flucht und Vertreibung zu verdrängen oder gar zu verleugnen (Kapitel IX). Der deutsche Osten verschwand bis auf weiteres aus dem politischen und gesellschaftlichen Bewusstsein der Bundesrepublik (Kapitel X).
In seinem Schlusskapitel fasst Kittel die Ergebnisse seiner sehr materialreichen, gut lesbaren und teilweise spannenden Studie zusammen. Dabei stellt er noch einmal heraus, dass er die Vertriebenenpolitik für einen kontinuierlichen Verdrängungsprozess hält, der nicht zuletzt der umfassenden Westintegration der Bundesrepublik geschuldet ist. Kittel sieht ein Versäumnis darin, dass die Vertreibungsverbrechen bis heute nie Gegenstand größerer gesellschaftlicher Debatten geworden sind. Er hält es für an der Zeit, dieses Thema gesellschaftlich aufzuarbeiten und dem historischen deutschen Osten einen angemessenen Platz in der deutschen Erinnerungskultur einzuräumen. Kittel macht kein Hehl daraus, dass er die Hauptstadt Berlin als einen geeigneten Erinnerungsort dafür ansieht. Darüber mag man geteilter Meinung sein. Das Buch bietet aber auf jeden Fall diverse Anregungen für weitere Forschungen und wichtige Anstöße für lebhafte Diskussionen.
Anmerkung:
1 Vgl. Merridale, Catherine, Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939 bis 1945, Frankfurt 2006.