Der Weg der geschichtsdidaktischen Forschung in der Bundesrepublik nach 1945 lässt sich in Anlehnung an eine Bestandsaufnahme von Michael Sauer1 übergreifend als Fortgang von einer praxisorientierten Unterrichtslehre zu einer theoretisch reflektierten und empirisch gestützten Geschichtsdidaktik beschreiben. Im Bereich der Theorie steht die weiterführende Präzisierung geschichtsdidaktischer Leitbegriffe wie „Geschichtsbewusstsein“ oder „Geschichtskultur“ im Vordergrund.2 Für den Bereich der empirischen Forschung sowie für den damit zusammenhängenden Bereich der Pragmatik (im Sinne unterrichtspraktischer Schlussfolgerungen) ist vor allem die Frage der angemessenen Operationalisierung der geschichtsdidaktischen Leitbegriffe bedeutsam geworden.3 Dabei finden, wie etwa an der empirischen Lehr- und Lernforschung zu beobachten ist, qualitative Forschungsansätze zunehmend Beachtung.4 In diesen neueren Forschungszusammenhang ist der vorliegende Sammelband zur empirischen Geschichtsdidaktik einzuordnen. Er enthält die Beiträge eines im Januar 2005 in Göttingen veranstalteten Workshops. Bei den Aufsätzen handelt es sich „in allen Fällen um vorläufige Ergebnisse aus laufenden Projekten“ (S. 19), die unterschiedliche historische Themen, Methoden und theoretische Rahmungen benutzen.
Die Erforschung des altersspezifisch variierenden historischen Denkens von Schüler/innen identifizieren die Herausgeber als ein wesentliches Desiderat der empirischen Geschichtsdidaktik (S. 8). Dieser Einsicht folgend rücken in einem ersten Schwerpunkt mit Beiträgen von Carlos Kölbl, Ruth Benrath/Michele Barricelli, Monika Pape sowie Achim Jenisch die methodischen Möglichkeiten der qualitativen Sozialforschung für die Rekonstruktion des historischen Denkens von Schüler/innen in den Vordergrund. Dies wird an Kölbls Überlegungen zur Hypothesen- und Theoriebildung in der empirischen Erforschung des Geschichtsbewusstseins deutlich. Kölbl liefert einen „exemplarische[n] Einblick“ (S. 30) in den forschungspraktischen Einsatz der dokumentarischen Methode (Ralf Bohnsack) für die Auswertung von Daten, die im Rahmen eines Forschungsprojektes zum Geschichtsbewusstsein junger Migranten mittels Interview, Gruppendiskussion und teilnehmender Beobachtung erhoben wurden. Kölbl greift in seinem Beitrag auf transkribierte Daten einer Gruppendiskussion zurück, in der sich Schüler/innen mit Migrationshintergrund (Klasse 9) über eine bevorstehende Klassenfahrt nach Auschwitz äußerten. Als vorläufiges Ergebnis stellt Kölbl heraus, dass sich für die jungen Migrantinnen das „Fehlen eines Geschichtsbezugs auf Auschwitz als identitätskonstitutiv“ erweise (S. 47): Auschwitz fungiere im Verständnis der Mädchen nicht als Ort der nationalsozialistischen Massenvernichtung, sondern „als Ort, zu dem man hinfahren kann, dessen Besuch man sich allerdings leisten können muss“ (S. 37). Dies zeige, wie voraussetzungsvoll ein „identitätskonstitutiver Umgang mit der NS-Geschichte“ (S. 47) im Falle von jungen Migrantinnen sei.
Benrath und Barricelli konzentrieren sich in ihrer „Mikrostudie“ (S. 58) auf die „Mechanismen narrativer Sinnbildung“ (S. 51) im Umgang mit dem Nationalsozialismus. Ihre in wesentlichen Hinsichten ebenfalls der dokumentarischen Methode folgende Analyse einer mit einem Jugendsachbuch über Anne Frank befassten Gruppendiskussion von Schüler/innen einer 7. Gymnasialklasse rückt wesentliche Faktoren der historischen Sinnbildung in den Blick (z.B. historische Identität, Konsensfähigkeit der Sinnbildung). Das Geschichtsbewusstsein von Grundschulkindern sowie die Vorstellungen von Schüler/innen einer 9. Jahrgangsstufe über historischen Wandel sind Gegenstand der Beiträge von Pape und Jenisch. Sie konzentrieren sich darauf, den methodischen Nutzen qualitativer Erhebungsinstrumente darzulegen (Kinder- und Schülerzeichnungen, Interviews).
Die folgenden drei Beiträge (Matthias Proske/Wolfgang Meseth, Monika Waldis u.a., Andreas Körber) sind dem Bereich der Unterrichtsforschung zuzuordnen. Dabei wenden sich Proske/Meseth (S. 131, 128) mittels audiovisueller Dokumentation und Analyse der Unterrichtskommunikation von zwei gymnasialen Grundkursen dem Geschichtsunterricht über den Nationalsozialismus zu. Sie heben besonders die „Nicht-Passung der Aneignungsformen der Schüler/innen und der Vermittlungsabsichten des Lehrers“ hervor (S. 150). Der Beitrag von Waldis u.a. greift auf Ergebnisse eines schweizerischen Forschungsprojekts zurück („Geschichte und Politik im Unterricht“), in dem in Anlehnung an internationale Schulleistungsstudien mittels Videodaten sowie begleitender Befragungen das unterrichtliche Lehren von Geschichte untersucht sowie Strukturmerkmale „guten Unterrichts“ herausgearbeitet werden sollen. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die Darstellung des Forschungsdesigns der Studie.
Körber geht in einer im Rahmen des Forschungsprojekts „FUER Geschichtsbewusstsein“5 entstandenen Einzelfallanalyse der Frage nach, inwieweit Grundoperationen des Geschichtsbewusstseins (rekonstruktives und dekonstruktives historisches Denken) im Geschichtsunterricht empirisch zu beobachten sind. Die Auswertung videografierter Unterrichtsstunden einer 8. Klasse legt für Körber eine „Hypothese über das denkende Verhalten der Schüler“ im Unterricht nahe (S. 211): Bei den Schüler/innen sei in Fällen nicht eindeutiger Klärung des jeweiligen Erkenntnisziels durch den Unterrichtenden ein „Übergewicht des Re-Konstruktiven Denkens“ zu beobachten. Insofern liege die Schlussfolgerung nahe, „dass in theoretischer wie praktischer Ausbildung der Lehrer wie auch im Unterricht selbst auf die gedankliche Trennung der beiden Modi“ stärker Wert gelegt werden müsse (S. 212).
Den Abschluss des Bandes bilden zwei Beiträge, die Themen der internationalen Lehr- und Lernforschung in den Mittelpunkt stellen. Martina Langer-Plän und Helmut Beilner erläutern mittels qualitativer Inhaltsanalysen transkribierter Interviews, die mit Geschichtsstudenten/innen und Schüler/innen geführt wurden, die „Funktion und de[n] Stellenwert historischer Begriffe“ für den Aufbau von Geschichtsbewusstsein (S. 218). Für die „schwach strukturierte Domäne“ Geschichte sei es typisch, dass diese „keine zentralen Begriffe besitze, wie etwa die Natur- und Wirtschaftswissenschaften“ (S. 223). Eine Untersuchung schulischer Lehrpläne zeige zudem, dass es „bislang keinen systematischen und strukturierten Zugang zu historischen Begriffen“ gebe. Die eigenen empirischen Untersuchungen bestätigten diese Beobachtungen. Dies sei insofern problematisch, da für das historische Lernen ein „deutlicher Zusammenhang zwischen Begriffsverstehen und Textverständnis“ (S. 232) zu unterstellen sei.
Hilke Günther-Arndt setzt sich abschließend mit der geschichtsdidaktischen Relevanz der kognitivistischen wie situationistischen „Conceptual-Change-Forschung“ auseinander. Eine wesentliche These dieser Forschungsansätze sei, dass Schüler/innen und Geschichtslehrer/innen Geschichte konzeptuell anders verstünden. Deshalb bestehe auch für Schüler/innen wenig Anlass, den „theoriebezogenen historischen Erklärungen“ (S. 260) der Lehrer/innen zu folgen. Aus Sicht der empirischen Geschichtsdidaktik liege ein wesentliches Ziel darin, herauszufinden, „in welcher Weise lebensweltliche Konzepte das Verstehen und Erklären von historischen Sachverhalten erschweren und ob und wie durch Unterricht Schüler/innenvorstellungen im Sinne wissenschaftlich angemessener Konzepte beeinflusst werden“ könnten (S. 266).
Welche Relevanz hat der Band insgesamt für die Belange der allgemeinen Geschichtswissenschaft? Eine Stärke liegt darin, dass die Beiträge einen facettenreichen Einblick in die Vielfalt insbesondere der qualitativ ausgerichteten empirischen Geschichtsdidaktik ermöglichen. Die Autor/innen führen anschaulich vor, wie geschichtsdidaktische Leitbegriffe „operationalisiert und ‚kleingearbeitet’ werden“ können, damit sie „für Lehr- Lernprozesse handhabbar und zugleich empirisch überprüfbar werden“ (S. 8). Für Leser/innen mit schulischem oder universitärem Lehrinteresse ist daher beispielsweise die von Körber auf den Geschichtsunterricht bezogene Hypothese bezüglich des „Übergewichts des rekonstruktiven Denkens“ („natürlicher Positivismus“ im Denken jugendlicher und erwachsener Probanden) aufschlussreich. Ebenso instruktiv sind die von Langer-Plän und Beilner erarbeiteten Einblicke in die bisherige defizitäre Praxis der historischen Begriffsbildung (Lehrpläne, Unterricht). Für Leser/innen, die sich für methodische Fragen vor allem der qualitativen Sozialforschung interessieren, bieten beispielsweise die Ausführungen von Kölbl („Nutzen der dokumentarischen Methode für die Theoriebildung“) auch inhaltlich wichtige Einsichten und Anregungen. Allerdings fällt der Blick in die „Werkstatt der empirischen Forschung“ (S. 19) nicht in allen Beiträgen so reichhaltig aus. So werden in den Beiträgen von Pape, Jenisch oder Waldis u.a. die konkreten Vorstellungen zur Geschichte von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nur sehr knapp angesprochen. Gleichwohl ist der Sammelband aus allgemeinhistorischer Sicht insofern nützlich, als er aufschlussreiche empirische Belege für die grundsätzliche Bedeutung einer adressatenorientierten Vermittlung historischen Fachwissens unter verschiedenen medialen Bedingungen liefert. Dies dürfte für die unter Verbesserungsdruck stehende universitäre Lehre ebenso relevant sein wie für die einem starken Konkurrenzdruck ausgesetzten Berufsfelder der außeruniversitären Geschichtskultur.
Der bereits aus Sicht der empirischen Lernforschung formulierte kritische Hinweis auf die mangelnde Präzision historischer und geschichtsdidaktischer Begriffe bildet auch den konzeptionellen Ausgangspunkt für das „Wörterbuch Geschichtsdidaktik“. Mitherausgeber Hans-Jürgen Pandel konstatiert einen minimalen „Theoriefortschritt in der Geschichtsdidaktik“ (S. 13). Es sei erforderlich, „Begriffe zu präzisieren und Leerformeln zu tilgen“ (ebd.). Das Wörterbuch stelle einen Grundbestand geschichtsdidaktischer Begriffe zusammen, der „im Sprachgebrauch von Geschichtslehrern und Geschichtsdidaktikern“ zu finden sei (S. 9). Die Herausgeber betonen nachdrücklich, dass das Wörterbuch als ein „vorläufige[r] Katalog“ reflexiver, klassifikatorischer und empirischer Begriffe gemeint sei. Objektsprachliche Begriffe der Geschichtswissenschaft seien hingegen nicht aufgenommen worden. Als Adressaten des Wörterbuchs betrachten die Herausgeber vor allem schulische und universitäre Berufsanfänger.
Welche Leistungen bietet der „vorläufige Begriffskatalog“ dem angeführten Rezipientenkreis? Die Leser/innen können sich anhand kurzer Artikel über Begriffe aus schulischen Lehr- und Lernzusammenhängen (z.B. „Stationenlernen“, „Lehrervortrag“, „Portfolio“, „Klausuren“) sowie über geschichtsdidaktische und -theoretische Begriffe informieren (z.B. „Multiperspektivität“, „Geschichtskultur“, „Geschichtsbewusstsein“, „Kausalität“, „Verstehen/Erklären“). An die einzelnen Artikel schließen sich unterschiedlich umfängliche Literaturhinweise für ein vertiefendes Studium an.
Im Sinne der von den Herausgebern (S. 14) eingeforderten konstruktiven Kritik sind einige redaktionelle und inhaltliche Schwächen zu nennen. So werden für die Auswahl und Zusammenstellung der Begriffe keine weiterführenden, systematischen Begründungen genannt. In einzelnen Fällen ist zudem die geschichtsdidaktische Relevanz der Begriffsauswahl fraglich (z.B. „Kultusministerkonferenz“). Zur Verbesserung und Angleichung der inhaltlichen Qualität der einzelnen Artikel wären differenziertere redaktionelle Vorgaben wünschenswert gewesen.6 Dazu hätte unbedingt eine wechselseitige Bezugnahme der Artikel gehört (z.B. von „Kausalität“ und „Verstehen/Erklären“). Insofern darf man der Bewertung der Herausgeber (S. 10) folgen und weitere „terminologisch[e] Präzisierungen“ einfordern.
Für die Zielgruppe der Berufsanfänger/innen ist das Wörterbuch insgesamt als brauchbare, vorbereitende Hinführung zu einschlägigen Lehr- und Handbüchern sowie originären geschichtsdidaktischen Forschungsbeiträgen zu qualifizieren. Für Allgemeinhistoriker/innen, die bereits über ein geschichtsdidaktisches Grundwissen verfügen, hat das Wörterbuch hingegen einen begrenzten Gebrauchswert; die Leistungen und möglichen Anregungen der Geschichtsdidaktik für die übrige Geschichtswissenschaft macht es schon wegen der Kürze der Artikel kaum deutlich.
Anmerkungen:
1 Sauer, Michael, Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht heute. Eine Bestandsaufnahme und ein Plädoyer für mehr Pragmatik, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 55 (2004), S. 212-232, hier S. 217.
2 Die von Sauer (S. 219) konstatierte (theoretische) „Beruhigung“ der Geschichtsdidaktik – im Vergleich zur exponierten Theorieorientierung der „kritisch-kommunikativen Geschichtsdidaktik“ der 1960er und 1970er-Jahre – wird in der Profession kontrovers diskutiert. Vgl. etwa: Kuss, Horst, Wie und wozu wird Geschichte gelernt? Fragestellungen geschichtsdidaktischer Forschung. Ein Bericht, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 32 (2004), S. 17-30, hier S. 17f.; Pandel, Hans-Jürgen, Postmoderne Beliebigkeit? Über den sorglosen Umgang mit Inhalten und Methoden, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 50 (1999), S. 282-291, hier S. 285ff.
3 Vgl. etwa den Hinweis von: Kölbl, Carlos, Geschichtsbewusstsein im Jugendalter. Grundzüge einer Entwicklungspsychologie historischer Sinnbildung, Bielefeld 2004, S. 91, auf die „mangelhafte forschungsmethodische Fundiertheit“ empirischer Untersuchungen zur zentralen Kategorie des Geschichtsbewusstseins.
4 Ähnliches lässt sich für die geschichtsdidaktische Entwicklung von Kompetenzmodellen des historischen Lernens sowie für die Diskussion um eine multiethnisch ausgerichtete Geschichtsdidaktik verzeichnen.
5 Vgl. etwa: Schreiber, Waltraud, Reflektiertes und (selbst-)reflexives Geschichtsbewusstsein durch Geschichtsunterricht fördern – ein vielschichtiges Forschungsfeld der Geschichtsdidaktik, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 1 (2002), S. 18-43, hier S. 27; Hasberg, Wolfgang; Körber, Andreas, Geschichtsbewusstsein dynamisch, in: Körber, Andreas (Hg.), Geschichte – Leben – Lernen. Bodo von Borries zum 60. Geburtstag, Schwalbach 2003, S. 177-200, hier S. 187ff.; Schreiber, Waltraud u.a., Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell, Neuried 2006, S. 17, S. 55.
6 Vgl. beispielsweise die redaktionelle Konzeption für das von Georg Weißeno herausgegebene „Lexikon der politischen Bildung“, Bd. 1: Didaktik und Schule, Bd. 2: Außerschulische Jugend- und Erwachsenenbildung, Bd. 3: Methoden und Arbeitstechniken, Schwalbach 1999. Das laut Verlagsankündigung demnächst erscheinende „Wörterbuch Politikdidaktik“ war für eine vergleichende Gegenüberstellung leider noch nicht verfügbar.