F. Grüner u.a. (Hrsg.): "Zerstörer des Schweigens"

Cover
Titel
"Zerstörer des Schweigens". Formen künstlerischer Erinnerung an die nationalsozialistische Rassen- und Vernichtungspolitk in Osteuropa


Herausgeber
Frank, Grüner; Heftrich, Urs; Löwe, Heinz-Dietrich
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
XVII, 552 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfram von Scheliha, Hohen Neuendorf

Obwohl der Zweite Weltkrieg in den Staaten Osteuropas im Zentrum der öffentlichen Erinnerung steht, spielte die Vernichtung von Juden, Sinti und Roma – eigentlich ein integraler Bestandteil der deutschen Kriegsführung und Besatzungsherrschaft – dort bis 1990 kaum eine Rolle. Die Erinnerung an die deutschen Genozide wurde deshalb vor allem durch deren künstlerische Verarbeitung bewahrt. „Die Kunst ist Zerstörer des Schweigens“ – diese These des Komponisten Dmitri Schostakowitsch ist Leitgedanke des vorliegenden Sammelbandes, der 28 Beiträge zu einem im Oktober 2003 in Heidelberg abgehaltenen, interdisziplinär und komparatistisch angelegten Symposium dokumentiert. Die Thematik eröffne, so die Herausgeber, ein spannendes Forschungsfeld, das grundlegend neue Erkenntnisse erwarten lasse. Der Band, der für künftige Forschungen Orientierungshilfen und Anregungen bieten soll, gliedert sich nach Disziplinen bzw. künstlerischen Genres in vier Teile.

Den Anfang macht der Bereich „Geschichte, Politik und Kultur“. David Crowe gibt einen Überblick zu erinnerungspolitischen Problemen und Kontroversen in Hinblick auf den Genozid an den Roma. Die drei übrigen Beiträge befassen sich mit der Sowjetunion: Ilja Altman skizziert die Darstellung des Holocaust in Literatur und Publizistik; Heinz-Dietrich Löwe untersucht die Presseberichterstattung dazu. Mitherausgeber Frank Grüner widmet sich der Erinnerung an den deutschen Massenmord an den Kiewer Juden in Babi Jar: Vor allem die Debatte um das 1961 publizierte Gedicht „Babi Jar“ von Jewgeni Jewtuschenko und dessen musikalische Bearbeitung in Schostakowitschs 13. Symphonie trugen dazu bei, die offizielle sowjetische Erinnerungspolitik zu hinterfragen.

Teil II enthält elf weitere Abhandlungen zu literarischen Themen. Lilia Antipow analysiert Samuil Galkins (nie aufgeführtes) Drama „Aufstand im Ghetto“. Es zeichnet das Bild eines spezifisch sowjetisch-jüdischen Heldentums, das Analogien zum Heroismus der Stalingrad-Kämpfer herstellen sollte. Edith Clowes beschäftigt sich wiederum mit der literarischen Verarbeitung von „Babi Jar“ durch Jewtuschenko und andere Dichter. Dem Motiv „Hass“ in der Literatur geht Horst-Jürgen Gerigk am Beispiel von Michail Scholochows Erzählung „Die Wissenschaft vom Hass“ und von Ilja Ehrenburgs Gedicht „Hass“ eindrucksvoll nach. Christoph Garstka zufolge ist die Beschäftigung der Dichter Boris Sluzki und Alexander Galitsch mit dem „jüdischen Thema“ (wie Garstka es nennt) auch als Angriff gegen den Antisemitismus in der Sowjetunion zu deuten. Holocaust und Stalinismus stellten sich so als „miteinander korrespondierende Auswüchse des allgemeinen Bösen“ dar (S. 150). Die Frage nach der Verarbeitung der Judenverfolgung in der sowjetischen Gitarrenlyrik, vor allem bei Alexander Galitsch, wird von Jekaterina Lebedewa vertieft. Etwas aus der Reihe fällt der Beitrag von Wolf Moskovich. Er untersucht die sprachlichen Folgen des Holocaust für das Jiddische und konstatiert, dass mit der Ermordung der Juden auch die demographische Basis der jiddischen Sprache vernichtet worden sei, dass aber auf der anderen Seite gerade in der NS-Zeit eine Vielzahl von neuen Worten entstanden sei, da das Jiddische in den Ghettos und KZs als Geheimcode gedient habe.

In Bezug auf Polen diskutiert Henrieke Stahl Tadeusz Różewiczs lyrische Deutung der Beziehung von Paul Celan zu Martin Heidegger nach Auschwitz. Tschechische Gedichte zur NS-Problematik interpretiert Urs Heftrich. Er hebt hervor, dass dort kaum nationaler Hass gegen die Deutschen geschürt wurde, und führt dies darauf zurück, dass die tschechischen Dichter in der europäischen Kultur verwurzelt gewesen seien und deshalb das enge völkische Denken abgestreift hätten. Bereits im Prag der 1930er-Jahre war der Nationalsozialismus Thema, etwa im „Entfesselten Theater“ von Voskovec und Werich (V + W). Jiří Pešek zeigt, dass die derb humoristischen Stücke von V + W auch in der Nachkriegszeit populär waren, weil sie zugleich als Kritik an der kommunistischen Diktatur gelesen werden konnten. Pešek befasst sich auch mit dem seit Ende der 1950er-Jahre sehr beliebten Prager „Ampel-Theater“ von Jiří Suchý. Dieser habe sich in seinen Stücken darum bemüht, Deutsche und Nationalsozialisten voneinander zu trennen. Bettina Kaibach arbeitet das Tragikkonzept in Jiří Weils Roman „Mendelssohn ist auf dem Dach“ heraus, dessen Held durch Kooperation mit den Nazis als Unschuldiger schuldig wird. Die Literatur-Sektion schließt mit einem Beitrag über die Erinnerung an die NS-Vernichtungspolitik in dem Roman „Die Sanduhr“ von Danilo Kiš, dem Sohn eines ungarischen Juden und einer Montenegrinerin.

Der dritte große Themenkomplex, „Film und Musik“, beginnt mit einem Aufsatz von Brigitte Flickinger über den Holocaust im sowjetischen Film. Die kinematografische Bearbeitung des Zweiten Weltkrieges in der Hochzeit des stalinistischen Personenkultes stellt Lars Karl anhand der Filme „Die Stalingrader Schlacht“ (1949) und „Der Fall von Berlin“ (1950) dar. Den Umgang mit dem Holocaust in der Tschechoslowakei analysiert Veronika Ambros am Beispiel des Films „Die weite Reise“ von Alfréd Radok (1949/50). Wolfgang Schlott beleuchtet das schwierige polnisch-jüdische Verhältnis im Zusammenhang mit der Debatte über Andrzej Wajdas Filme „Korczak“ (1990) und „Karwoche“ (1995). Dieser Problematik widmet sich auch Christine Müller in ihrem Artikel über die beiden Nachkriegsfilme „Die letzte Etappe“ (1948) von Wanda Jakubowska und „Grenzgasse“ (1949) von Aleksander Ford.

Das Thema „Musik“ wird mit einem Aufsatz von Kiril Tomoff eröffnet. In der Kriegszeit hätten die Komponisten ihre Aufgabe in einem „Kampf der Kulturen“ gesehen: Die (sowjetische) Zivilisation kämpft gegen die NS-Barbarei. Resultate dieser Bemühungen waren eine Fülle von Kriegsliedern, aber auch Orchesterwerke wie die 7. („Leningrader“) Symphonie von Schostakowitsch. Auch Dorothea Redepenning wirft einen Blick auf die sowjetischen „musikalischen Kommentare zur nationalsozialistischen Aggressionspolitik“ und zeigt, dass dabei auf eine musikalische Benennung des Feindes weitgehend verzichtet wurde: Es fehlen Dissonanzen, die Opfer werden in ihrem Edel-Sein gezeigt. Matthias Stadelmann betrachtet schließlich aus Sicht eines Historikers das symphonische Schaffen von Dmitri Schostakowitsch. Er arbeitet heraus, dass die offiziell kritisierten Symphonien 8, 9 und 13 nicht als politisch subversive Kunstwerke angelegt, sondern musikalischer Ausdruck der Seelenverfassung des Komponisten waren, die freilich dem Regime nicht genehm war.

Der vierte Abschnitt des Bandes beschäftigt sich mit der bildenden Kunst und der musealen Darstellung. Eleonora Jedlińska stellt Werke von Koji Kamoji, Mirosław Bałka und Artur Żmijeski als Beispiele für den künstlerischen Umgang mit dem Holocaust in Polen vor. Mit der polnischen Kunst nach 1990 beschäftigt sich auch Catharina Winzer. Sie betont, dass Mirosław Bałkas und Zbigniew Liberas Werke „nicht direkt die ‚polnische Situation’ kommunizieren [...], sondern exportabel und universalisierbar sind“ (S. 475). Eva Pluhařová-Grigienė zeigt vier Grundmuster in der tschechoslowakischen Lidice-Ikonographie: Lidice als Sinnbild der sozialistischen Heimat, als Widerstandssymbol, als Friedenssymbol und als Symbol zur Verortung des Feindes. Im Hinblick auf die museale Darstellung schildern Silvio Peritore und Frank Reuter den Weg zur Realisierung der ständigen Ausstellung in der Gedenkstätte Auschwitz über den Völkermord an den Sinti und Roma. Piotr Piotrowski schließlich befasst sich mit der Debatte um die künstlerische Gestaltung der Auschwitz-Gedenkstätte.

Der Band besteht aus einer Ansammlung von qualitativ guten Einzelbeiträgen, die sich allerdings manchmal im Detail verlieren und den Blick für den großen Zusammenhang des Themas vermissen lassen. Nicht immer ist der rote Faden erkennbar, und wenn Theaterstücke nicht aufgeführt, Texte nicht gedruckt und Kinofilme abgesetzt wurden, dann bleibt die Frage offen, inwieweit hier die Kunst als „Zerstörer des Schweigens“ in die Gesellschaft hineingewirkt hat. Ein Vergleich der Erinnerungskulturen einzelner Länder – hauptsächlich werden die Sowjetunion, Polen und die ČSSR behandelt – findet entgegen der Ankündigung fast gar nicht statt. Auch der interdisziplinäre Ansatz ist noch ausbaufähig: Die einzelnen Fächer bleiben in den Abschnitten des Bandes weitgehend unter sich, die Ergebnisse werden nicht zusammengeführt. Wahrscheinlich wäre es günstiger gewesen, die Beiträge nach Ländern, Einzelthemen oder Zeitabschnitten zu gliedern. Dann hätte bei der Endredaktion vielleicht auch manche Wiederholung ausgemerzt werden können. Recht ärgerlich ist, dass Bałkas „Seifenkorridor“ (S. 447, S. 460) und Liberas „Lego Concentration Camp“ (S. 466, S. 529) gleich zweimal kurz hintereinander abgebildet werden, jeweils in ziemlich schlechter Qualität. Trotz dieser Kritik – als Sammlung guter Einzelbeiträge wird das Buch bei weiteren Forschungen zum Thema sicherlich nützlich sein.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension