Das vermutlich bedeutendste Einzelereignis der europäischen Expansion in Amerika war die Eroberung der Stadt Tenochtitlán-Mexiko unter der Führung von Hernán Cortés in den Jahren 1519-21, denn es markiert den Schnittpunkt zweier Welten und Epochen. In diesem langjährigen Krieg gegen die Mexica (Azteken) verstand es Cortés, sich der Unterstützung zahlreicher indianischer Verbündeter (Totonaken, Tlaxcaltecen und andere) zu versichern, ohne die er seine militärischen und politischen Ziele nicht hätte erreichen können. Dank umfassender Bemühungen während der letzten Jahrzehnte verfügen wir inzwischen über eine große Bandbreite an Quellen für die Erforschung dieser Ereignisse. Aber die Chronik des Bernal Díaz del Castillo, die „Wahrhaftige Geschichte der Eroberung Neu-Spaniens“ gilt neben den Cortés-Berichten an Kaiser Karl V. und dem 12. Buch der „Allgemeinen Geschichte der Dinge Neu-Spaniens“ von Sahagún weithin als die wichtigste erzählende Einzelquelle zu diesen Geschehnissen. Trotz ihrer Bedeutung lag sie aber bisher nicht in einer Form vor, die den Anforderungen an eine moderne kritische Edition entspricht. Dass diese Lücke nun durch José Antonio Barbón Rodríguez geschlossen wurde, ist eine kleine wissenschaftliche Sensation. Die Ausgabe wurde in lebenslanger Kleinarbeit vorbereitet und konnte in diesem Umfang nur dadurch zur Veröffentlichung gebracht werden, dass die beiden wichtigsten mexikanischen Bildungsinstitutionen, nämlich der Colegio de México (Colmex) und die Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM), wie auch der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) hierbei kooperierten.
Als Cortés seine Unternehmung mit der Landung an der mittelamerikanischen Küste begann, sagte er sich vom königlichen Statthalter auf Kuba los und handelte damit praktisch auf eigene Rechnung. Andere Conquistadorenführer waren schon für weniger hingerichtet worden. 1 Cortés stand also unter erheblichem Erfolgs- und Rechtfertigungsdruck, von dem seine schon erwähnten Berichte an Karl V., die schon während des Kriegszuges entstanden, ein beredtes Zeugnis ablegen. Doch seine Version des Geschehens blieb nicht unwidersprochen: Insbesondere Fray Bartolomé de Las Casas erhob schwerste Vorwürfe. Die Eroberungen in Las Indias (Amerika) und also auch diejenige Mexikos, so der Dominikaner, seien „niederträchtig, tyrannisch und hinsichtlich jeden Rechts – natürlich, göttlich und menschlich – verdammt, abscheulich und verflucht“. 2 Um ihren Ruf am spanischen Hof hiergegen zu verteidigen und sich ihren Anteil an der Beute zu sichern 3, schrieben außer Cortés noch einige weitere Conquistadoren Mexikos ihre „Erinnerungen“ nieder: Erhalten haben sich die kurzen Schriften der Hauptleute Bernardino Vázquez de Tapia, Andrés de Tapia sowie des später in den geistlichen Stand getretenen Fray Francisco de Aguilar OP.
Die Chronik des Bernal Díaz del Castillo stellt in diesem Rahmen einen besonderen Fall dar. Zum einen übertrifft sie die übrigen Conquistadoren-Berichte bei Weitem an Umfang und Anschaulichkeit. Zum anderen und für die Beurteilung des Quellenwertes erheblicher: Sie ist zugleich die Augenzeugenchronik, die mit dem größten zeitlichen Abstand zum Geschehen entstand, nämlich erst 57 Jahre später. Erst im hohen Alter von über 70 Jahren – als kaum einer der Conquistadoren Mexikos mehr lebte - entschloss sich Díaz del Castillo zu schreiben und erschuf ein geradezu „homerisches“ Werk über menschliche Größe und Schwäche. 4 Als er die Feder niederlegte, lebten nur noch vier seiner ehemaligen Kameraden. War dies ein Zufall, oder wollte Díaz del Castillo es ausnutzen, dass seiner Darstellung nun kaum noch jemand würde widersprechen können? Keiner der anderen Berichte erwähnt je seinen Namen, während er wiederum behauptet, bei allen wichtigen (und vielen unwichtigen) Ereignissen dabeigewesen zu sein. Ähnliche Merkwürdigkeiten kulminieren letztlich in der spannenden Frage: War Bernal Díaz der, für den er sich ausgibt? Ist seine Historia verdadera tatsächlich so wahrhaftig – oder ein geniales Konglomerat aus Geschichte und autobiografischer Fiktion?
Als Bernal Díaz seine Chronik 1568 beendet hatte, herrschten unter König Philipp II. Zeiten publizistischer Repression. Er selbst gibt vor, den Bericht nur für seine unmittelbaren Nachkommen verfasst zu haben. Der erste Druck erschien jedenfalls erst 1632, also lange nach dem Tod des greisen Autors. Erhalten haben sich aus der Zeit bis dahin mehrere Manuskripte seines Werks, von denen das Ms. Remón durch gewisse Interpolationen von Merzedariermönchen die Bedeutung des Feldpriesters Olmedo aufwertet, der dem selben Orden angehörte. Das Ms. Guatemala hingegen gilt allgemein als das authentischste und scheint weitgehend von Bernal Díaz´ eigener Hand geschrieben. Es ist daher eben dieses Ms. Guatemala, auf das sich die meisten neueren Ausgaben aus gutem Grund stützen.
Ein großes Publikationsproblem bestand von Anfang an im Umfang der Historia verdadera: Obwohl aufgrund der fesselnden Schreibweise und des packenden Gegenstands zahlreiche populäre Editionen erschienen (sogar auf deutsch 5), sind diese meist gekürzt. Die letzten wissenschaftlich nennenswerten waren diejenige von Joaquín Ramíres Cabañas (México, Editorial Pedro Robredo, 1939 6) und Carmelo Sáenz de Santa María (Madrid, CSIC, 1982 7), die sich bereits “edición crítica” nennt, es aber eigentlich nicht ist. Sie hat gleichwohl eine Stärke: Sie bietet nämlich zweispaltig einerseits eine “wiederhergestellte” Urfassung des Ms. Remón und andererseits das Ms. Guatemala. Weicht letzteres von ersterem ab, so ist die entsprechende Passage kursiv gedruckt. Ferner ist die Vorstudie dieser Ausgabe zu loben, die sehr übersichtlich, knapp und klar die Geschichte der verschiedenen Manuskripte und Editionen darlegt. Aber es gibt eben auch noch weitere Manuskripte, und eine wirklich kritische Ausgabe dieses zentralen Werks zur Eroberung Mexikos in einem Band stand bisher noch aus.
Diese schmerzliche Lücke vermochte Barbón Rodríguez mit seiner meisterlichen Neuausgabe auf der Grundlage des Ms. Guatemala nun endlich zu schließen. Was die vorherigen Editionen trotz ihrer sonstigen Vorzüge an wissenschaftlicher Akribie zu wünschen übrig ließen, macht Barbón nun mehr als wett. Er bietet nicht nur den bisher fehlenden kritischen Apparat auf Grundlage des Ms. Guatemala (S. 1-848), sondern auch eine Studie zur Biografie des Bernal Díaz del Castillo (S. 3-41), eine sehr ausführliche zu den Manuskripten inklusive Facsimileproben (S. 43-111), zur Grammatik (113-141), zur Einordnung in den historiografischen Kontext (S. 143-230) und zu Indigenismen in der Sprache des Díaz del Castillo (S. 231-251). Doch damit nicht genug: Das anschließende Glossar (S. 253-489) mit ausführlichen Erklärungen und Verweisen sucht auch in kritischen Ausgaben seinesgleichen. Dasselbe gilt für das folgende umfangreiche Personen- (S. 493-724) und Ortsregister (S. 725-814). Da Bernal Díaz in seiner Darstellung vor allem die Leistungen der Mannschaften betont, ist seine Historia verdadera die erste Adresse, wenn man Einzelschicksale und Details über sonst fast nirgends erwähnte Teilnehmer der Conquista Mexikos sucht – eine regelrechte Fundgrube. Barbón nennt stets Kapitelangaben wie Seiten und gibt unbeeindruckt von dem teilweise erheblichen Mehraufwand die Zusammenfassung der unter den Verweisen zu findenden Informationen. 8 Indianer werden gesondert aufgeführt, was bei entsprechenden Fragestellungen sehr hilfreich sein kann, da ihre Namen nach der christlichen Taufe oft denen der Conquistadoren verwirrend ähnelten oder sogar völlig glichen.
Anschließend bietet Barbón im vorliegenden Band noch die Transkriptionen von Dokumenten zu Bernal Díaz del Castillo und seinen Nachkommen (S. 815-1064). All diese durch eine einem Lebenswerk gleichkommende Fleißarbeit geschaffenen Zusammenstellungen werden zweifellos den folgenden Historikergenerationen zur Conquista Mexikos eine reichhaltige und verlässlich erarbeitete Quelle sein.
In seiner Studie zur Lebensgeschichte des Bernal Díaz del Castillo greift Barbón ein umfangreiches und für das Verständnis des Werks wichtiges Thema auf. Und hier gelingt es ihm, Bernal Díaz erstmals eine wirklich bedeutende biografische Lüge nachzuweisen: Es stimmt nämlich nicht, dass er an der Expedition unter Grijalva 1518, die unmittelbar vor Cortés die Küste Mexikos erkundete, teilgenommen hat (S. 12), wie er behauptet (cap. VIII-XVI , S. 25-40). Das ist eine bedeutsame Entdeckung, die beweist, dass der Historia verdadera nicht so bedingungslos zu trauen ist, wie Historiker dies bislang oft tun. Leider problematisiert Barbón diese Entdeckung nicht weitergehend – was ihn freilich sehr gut zu weiteren 500 (gewiss spannenden) Seiten verführt haben könnte, die den Rahmen dieser bereits hochambitionierten Ausgabe vermutlich endgültig gesprengt hätten. Er lenkt hiermit aber die Aufmerksamkeit wieder auf alte, wichtige Forschungsfragen, z. B.: Warum hat ausgerechnet Bernal den Brief der Truppe an den Kaiser nicht unterschrieben wie praktisch alle anderen Conquistadoren, und behauptet trotzdem, es getan zu haben? 9 Und schließlich, provokant: War er überhaupt ein Augenzeuge der Conquista? 10
Fazit: Die umfassende aber dennoch peinlich genaue Arbeitsweise ebenso wie die scharfsinnigen Studien der Neuausgabe der Historia verdadera verlangen uneingeschränkten Respekt. Dass dieses Kompendium von insgesamt über 1900 Seiten, dank Dünndruck in einem einzigen festen Band, nur etwas mehr als 100 Euro kostet, muss für den Interessierten als Glücksfall betrachtet werden. Schade nur, dass die Distribution, vermutlich als Resultat aus dem Gemeinschaftsunternehmen so vieler verschiedener Institutionen, zu verhindern droht, dass dieses Werk die Verbreitung in den Universitäts- und Privatbibliotheken findet, die sie ohne jeden Zweifel verdient hat. Die zweispaltige Präsentation von Sáenz de Santa María wird weiterhin nützlich sein, doch die übrigen Editionen der Historia verdadera sind nun wissenschaftlich obsolet geworden. Hut ab und danke für diese prachtvolle Ausgabe, Herr Barbón!
Anmerkungen:
1 Beispielsweise 1514 Exekution Vasco Núñez de Balboas durch Pedrarias Dávila, dem Statthalter von Tierra Firme, mit dessen Flotte vermutlich auch Bernal Díaz del Castillo in die Neue Welt kam.
2 Las Casas, Bartolomé de, Obras completas, hrsg. von Ramón Hernández, Lorenzo Galmés u.a., Madrid 1988-98 (14 Bd.e), Bd. 10: "Tratados de 1552", 1992, S. 32 (Übersetzung FH).
3 Meist erhofften sie sich eine Encomienda, d.h. die Verfügungsgewalt über eine festgelegte Anzahl Indianer bestimmter Orte.
4 Ramíres Cabañas, Introducción, in: Díaz del Castillo, Bernal: Historia verdadera de la Nueva España, hrsg. von Joaquín Ramíres Cabañas, México 1939 (2 Bd.e), Bd. 1, 1939, 24. Facsimile unter (abgerufen am 09.06.2007):
Band 1: http://www.cervantesvirtual.com/servlet/SirveObras/01715418982365098550035/index.htm und
Band 2: http://www.cervantesvirtual.com/servlet/SirveObras/05819511922437539832268/index.htm.
5 Die neueste Übersetzung ist: Díaz del Castillo, Bernal: Die Eroberung von Mexiko, hrsg. u. bearbeitet von Georg A. Narciß, Frankfurt am Main, 6. Auflage 1988.
6 Vgl. Anmerkung 4.
7 Díaz del Castillo, Bernal: Historia verdadera de la Nueva España, hrsg. von Carmelo Sáenz de Santa María, Madrid 1982.
8 Eine Kostprobe:
„Solís Casquete, Pedro
CLXXIV.............634-08
CLXXIX.............662-02
CCV....................780-02
Soldado de Cortés. En la expedición a las Hibueras se le ahogó el caballo por lo cual ´hazía bramuras ... e maldeçía a Cortés e su viaje´. ´Era algo arrebataquistiones; murió de su muerte en Guatimala´.” (S. 671)
9 Carta del ejército de Cortés al emperador (Okt.1520), in: Martínez, José Luis (Hg.), Documentos cortesianos, México D.F. 1992-93 (3 Bd.e), Bd. 1, 1993, 156-163; Díaz del Castillo: Historia verdadera, cap. LIV, 2005, 132.)
10 Díaz del Castillo wäre nicht der Einzige, der sich eine Conquistadoren-Biografie angedichtet hat: Ein bekannter Fall ist der angebliche Augenzeugenbericht eines "anonymen Conquistadors", der mit großer Wahrscheinlichkeit vom Venezianer Alonso de Ulloa geschrieben wurde, der nie in Mexiko gewesen ist. (Vgl. Gómez de Orozco, Federico, in: 'Conquistador anónimo', Relación de algunas cosas de la Nueva España, hrsg. von Jorge Gurría Lacroix, México D.F. 1961 24-31). - Viele der sich zu Díaz del Castillo ergebenen Fragen stellt: Brooks, Francis J., Motucuzoma Xocoyotl, Hernán Cortés, and Bernal Díaz del Castillo: The construction of an arrest, in: Hispanic American Historical Review 75, 2 (1995), 149-183.