Musik erfreut sich wachsender Beliebtheit als Thema der DDR-Forschung. Im Fokus von Überblicksdarstellungen stehen jedoch meist Musikstile der Popularmusik (bspw. Mrozek1) mit den dazugehörigen sozialen Gruppen wie Heavy Metal (Zaddach2/Okunew3), Punk und New Wave (Lipp4), Jazz und Blues (Kaldewey5/Rauhut6). Musikrichtungen und Gruppen also, deren Akteure sich entweder bewusst in Opposition zur gewünschten Jugend- und Kulturpolitik der SED positionierten oder/und die bis zur Rehabilitierung und Förderung einzelner Musikstile (wie etwa des Jazz und Heavy Metal) von Jugend- und Kulturfunktionären als „das Andere“ verstanden und entsprechend gegängelt oder gar verfolgt wurden. Arbeiten zur kulturellen Massenarbeit der DDR sind seltener zu finden, hier laufen aktuell literatur- und musikhistorische Forschungsprojekte (bspw. Jahn7/Funke8/Bruhn9).
Juliane Brauers Studie widmet sich dieser Lücke für die SBZ/DDR sowie den westlichen Besatzungszonen und der Bundesrepublik von 1945 bis 1973. Sie möchte „die Musik- und die Geschichtswissenschaft über Fragestellungen und Methoden aus dem Forschungsfeld Emotionsgeschichte in einen Dialog […] bringen“ (S. 352). Dabei verbindet sie die Geschichte der Gefühle, der Historischen Zukunftsforschung und Historischen Anthropologie mit musikwissenschaftlicher Liedanalyse und setzt diese gekonnt in den geschichtlichen Kontext der Zeit. Ihre Studie zielt erstens auf die zeitgenössischen Zukunftsentwürfe, zweitens das Singen als Emotionspraktik und drittens die staatlichen Konzepte und Planungen von Erziehung von Emotionen (S. 17). Dem Ansatz Ute Freverts folgend, welche auch den Forschungsbereich Geschichte der Gefühle am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung leitet, an dem die Studie als Habilitationsschrift entstanden ist, versteht Juliane Brauer die Emotionsgeschichte als Geschichte der Praktiken (S. 22). „Emotion“ definiert Juliane Brauer „als historisch wandelbar und kulturspezifisch“, als körperlich und verhandelbar (S. 21). Emotionen als „Vermittlerinstanz zwischen Körper/Geist und Gesellschaft“ seien damit eine „zentrale Dimension von Erfahrung und Erkenntnis“ (S. 22). Dem Singen nähert sie sich über die Idee der Praktik in einem methodischen Dreieck: Erstens betrachtet sie Lieder als musikalische Produkte, die individuell gewachsen, in eine bestimmte musikalische Form gegossen und kulturell geprägt sind, zweitens versteht sie Singen als Emotionspraktik („Lieder werden durch ihren Gebrauch soziale Realität“, S. 23) sowie als Emotionsarbeit (gemeinsames Singen als „spezifische kulturelle Wahrnehmung, Deutung und Einverleibung von Emotionen“, S. 23).
Juliane Brauer folgt dem Konzept der Emotionspraktik von Monique Scheer in der Kombination mit den emotives von William Reddy (S. 354) und bettet diese in das Konzept von „Herrschaft als sozialer Praxis“ (Thomas Lindenberger) ein. Genauer untersucht sie „Praktiken, die auf die Vermittlung, Mobilisierung und Aushandlung von Zeitgefühlen zielten“ (S. 350). Diese ermittelt die Autorin unter anderem durch ausführliche Text- und Musikanalysen ausgewählter Lieder sowie eine breite quantitative Auswertung von Liederbüchern, -heften, -blättern aus Schulbüchern, Zeitschriften und Zeitungen überwiegend aus den Jahren 1945 bis 1977. In der Gesamtzahl ergibt dies ein umfangreiches Sample von 2.800 Liedern (S. 25). Für erziehungspolitische Aspekte zieht Juliane Brauer Material überwiegend aus den FDJ- und SED-Beständen des Bundesarchivs, aus Kreis- und Stadtarchiven sowie aus dem Stais-Unterlagen-Archiv hinzu. Ihrer Arbeit liegt eine breite Quellenrecherche in insgesamt 13 Archiven zugrunde – vom Privatarchiv über regionale und Parteiarchive bis hin zu zentralen staatlichen Archiven.
Emotionspraktiken und Gefühlserziehung versteht Juliane Brauer als zentral für das Verständnis der DDR als „modernes Zeitregime“ und knüpft damit an Aleida Assmanns Überlegungen zum "Zeitregime der Moderne" (2013) an (S. 205). Zukunft bildet den Horizont der Untersuchung. Im Ergebnis arbeitet sie sechs „Zeitgefühle“ heraus, die chronologisch den Verlauf der Arbeit strukturieren. Die ersten beiden Kapitel Neues fühlen und Zukunft fühlen umreißen die Jahre 1945 bis 1951. Eine besondere Stärke dieser Abschnitte und damit der Arbeit generell ist die deutsch-deutsche Perspektive, auch im Hinblick auf Kontinuitäten und Brüche mit nationalsozialistischen, jugendbewegten und arbeiterbewegten Gesangserziehungen bzw. -traditionen. Die ersten beiden Kapitel konzentrieren sich auf Kontinuitäten und Neuanfänge und geben so teilweise frappierende Einblicke in die ost- wie westdeutschen postnazistischen Gesellschaften. Hier und folgend diskutiert sie unterhaltsam die deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte anhand gegenseitiger (mal kritischer, mal neidvoller) Beobachtungen gegenseitiger jugendpolitischer Erfolge und Misserfolge. Leider ist diese Perspektive nicht aus dem Titel der Arbeit zu erkennen, weshalb sie hier gewürdigt sei.
Die weitere Arbeit widmet sich hauptsächlich der DDR. Der emotionsgeschichtliche Zugang wird besonders in den Kapiteln Patriotisch fühlen (1952–1961) und Vertrauen fühlen (1961–1965) deutlich. Besonders gelungen ist ihr die Argumentation von postuliertem Vertrauen und praktiziertem Misstrauen im Umfeld der Jugendkommuniqués von 1961 und 1963 sowie des „Kahlschlagplenums“ 1965. Sie entwirft hier ein Panorama nicht nur der Gefühlserziehung bzw. -regulation von Kindern und Jugendlichen in den 1960er-Jahren der DDR, sondern zeichnet die Konjunkturen und Spannungsverhältnisse von Vertrauen und Misstrauenspraktiken, Patriotismus, Verantwortung, Fortschrittsglauben und Zukunftsversprechen nach. An den Konzepten „Vertrauen“ und „Misstrauen“ ließen sich Dynamiken stabiler und instabiler Interaktion erklären und damit Aushandlungsprozesse von „Herrschaft als sozialer Praxis“ beschreiben (besonders S. 218f.) – Dynamiken, die die DDR als politisch-gesellschaftliches Gefüge über die 1960er-Jahre hinaus kennzeichneten (hierzu bspw. Lenski10). Hier wird ein Nachteil der chronologischen Aufreihung der „Zeitgefühle“ sichtbar: Vertrauen und Misstrauen wurden nicht nur in den 1960er-Jahren verhandelt (wie sie auf S. 308 beschreibt). In der chronologischen Aufreihung wird jedoch eine abgeschlossene Abfolge statt eines zeitlichen Nebeneinanders suggeriert. Ein zentraler Begriff dieses Abschnitts ist der des „Zukunftsversprechens“ (in Anlehnung an Dorothee Wierlings „Glücksversprechen“, S. 204), das für die Mobilisierung und Integration der Jugendlichen in das Projekt Sozialismus sorgte.
Im Abschnitt Authentisch fühlen (1960–1973) widmet sich Juliane Brauer der FDJ-Singebewegung. Ihre 60-seitige Beschreibung dieser von den Hootenannies über die Gründung des Oktoberklubs bis hin zu den Weltfestspielen der Jugend und Studenten 1973 bedient eine Forschungslücke, welche sich aus dem oben skizzierten Fokus auf oppositionelle Jugendkulturen ergibt. Sie arbeitet anschaulich das Neue an den sogenannten „DDR-konkreten“ Liedern der Singebewegten heraus: Die Jugendlichen schrieben ihre Lieder selbst, die Singeklubs boten vielen von ihnen niedrigschwellige, moderne Freizeitangebote sowie die Möglichkeit, der eigenen zustimmenden Haltung zur DDR und zum Sozialismus Ausdruck zu verleihen – sie waren „herrschaftsstabilisierende Räume“ (S. 308). Auch die vielen stilistischen Einflüsse auf das Singeklublied aus der Arbeiterbewegung über die deutschen Volks- und Massenlieder bis hin zu Folk-, Beat- und Schlagerelementen diskutiert die Autorin nicht zuletzt in detailreichen Liedanalysen. Lediglich die Einflüsse dezidiert russisch-sowjetischer Folklore, des sowjetisch geprägten Sozialistischen Realismus und des Agitprop-Theaters der Weimarer Republik bleiben meines Erachtens etwas unterrepräsentiert.
Im letzten Abschnitt Selbstbewusstsein fühlen. Das Jahr 1973 beschreibt Juliane Brauer überzeugend die Ansprüche und Realitäten zu den Weltfestspielen der Jugend und Studenten zwischen jugendlicher Zustimmung und divergierenden ästhetischen Vorstellungen über „zeitgemäße“ Jugendlieder am Beispiel des Weltfestspiel-Liedwettbewerbs sowie Misstrauens- und Überwachungspraktiken während des Festivals.
So überzeugend und grundlegend Juliane Brauers Studie ist, so problematisch sind meines Erachtens ihre Argumente für den Endpunkt der Studie (1973): Die nachlassende Euphorie der Jugendlichen für die Singebewegung nach den Weltfestspielen der Jugend und Studenten habe an der Verschiebung des Zeithorizontes von den Zukunftsversprechen einer sozialistischen Gesellschaft der 1950er-Jahre hin zur postulierten Ankunft im Alltag des „real existierenden“ Sozialismus in den 1970ern gelegen: „Das Ankommen im sozialistischen Alltag bedeutete für die Jugendlichen, dass es keine Zukunftserwartungen, keine Träume von einem besseren Leben mehr gab, wie in den Fünfzigerjahren, dass kein (selbst)kritisches Abarbeiten an der Realität mehr nötig war, wie in der ‚DDR-Konkret‘-Bewegung. Der Staat verlangte von ihnen stattdessen ein zustimmendes Funktionieren.“ (S. 346) Mit dieser Bewertung der Singebewegung verlängert Juliane Brauer bestehende Werturteile der Geschichtswissenschaft an einer Stelle, wo die Chance zur Gesamtsicht bestanden hätte.12 Zwar erreichte die Popularität der Singebewegung zu den Weltfestspielen 1973 ihren Höhepunkt und flaute danach ab. Lutz Kirchenwitz, Zeitzeuge und Chronist der Singebewegung, hat diese Entwicklung ebenso wie die Ausdifferenzierung der Singebewegung in den 1970er-Jahren beschrieben.11 Sein Narrativ der „Krise der Singebewegung“ ab Mitte der 1970er-Jahre ist jedoch stark biographisch geprägt: Er gehört zu den ersten Jahrgängen der Singebewegung und trat Anfang der 1980er aus dem aktiven Klubleben aus. Obwohl Juliane Brauer Lutz Kirchenwitz an anderer Stelle problematisiert, bezieht sie sich in ihrer zeitlichen Eingrenzung stark auf ihn (S. 344f.). Auch das Argument der Verschiebung des Zeithorizontes stimmt nicht mit den Liedern und Erfahrungen späterer Singeklubmitglieder überein. Zwar ist im Repertoire der 1970er-Jahre durchaus eine Ankunft in der Gegenwart des „real existierenden“ Sozialismus zu beobachten: Die „DDR-konkreten“ Lieder spiegeln die Gegenwart pragmatisch-ironischer und unterscheiden sich so von den euphorisch-utopischen Liedern der 1960er. Doch verschwand die Zukunft als Bezugspunkt nie aus den Programmen und Diskussionen der Singeklubs. Keineswegs war mit dem „real existierenden“ Sozialismus „der Zukunftstraum ausgeträumt [...] und wurde von keinem neuen ersetzt.“ (S. 319). Die Motivation vieler Singebewegter, sich mittels selbstgeschriebener Lieder an der Gegenwart abzuarbeiten, funktionierte weiterhin wesentlich durch das Vertrauen in und die Hoffnungen auf eine zukünftige bessere sozialistische Gesellschaft – in der DDR und in der Welt. Mit Glasnost und Perestrojka Mitte der 1980er-Jahre wurde diese Zukunft als Bezugspunkt noch stärker aktiviert, gerade weil sich die Gegenwart vor den Erwartungen so negativ abzeichnete. Wäre die zeitliche Eingrenzung der Studie forschungspragmatisch begründet worden, wäre dies angesichts des immensen Quellenumfangs völlig nachvollziehbar und ausreichend gewesen. So erweckt die Studie den Eindruck, dass sich sowohl das Engagement der FDJ-Singebewegten als auch das „DDR-konkrete“ Lied nach 1973 nicht mehr entwickelt hätten.
Abschließend kann festgehalten werden, dass Juliane Brauer mit ihrer Studie eine quantitativ sehr breit aufgestellte wie qualitativ tiefenanalytisch überzeugende Arbeit zur Emotions-, Musik- und Zeitgeschichte beider deutscher Staaten zwischen 1945 bis 1973 vorgelegt hat. Über die Lieder einen Einblick in Emotionspraktiken, Gefühlserziehungen und Zukunftsvorstellungen zu gewinnen, ist ihr gelungen. Sie schafft damit eine wertvolle und dabei sehr angenehm zu lesende grundlegende Darstellung für zukünftige Arbeiten in diesem Forschungsbereich. Das Hauptverdienst der Arbeit ist es, das Genre des politischen Liedes sichtbar zu machen und so die DDR-Musikgeschichtsschreibung jenseits der Forschung zu Subkulturen zu bereichern.
Anmerkungen:
1 Bodo Mrozek, Jugend, Pop, Kultur. Eine transnationale Geschichte, Berlin 2019.
2 Wolf-Georg Zaddach, Heavy Metal in der DDR. Szene, Akteure, Praktiken, Bielefeld 2018.
3 Nikolai Okunew, Red Metal. Die Heavy-Metal-Subkultur der DDR, Berlin 2021.
4 Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR. Akteure – Konfliktfelder – musikalische Praxis, Münster 2021.
5 Helma Kaldewey, A People’s Music. Jazz in East Germany, 1945–1990, Cambridge 2020.
6 Michael Rauhut, Ein Klang – zwei Welten. Blues im geteilten Deutschland, 1945 bis 1990, Bielefeld 2016.
7 Annika Jahns, Die vergessene DDR-Literatur. Der ,Zirkel schreibender Arbeiter‘ als Schreibraum und Erinnerungsgemeinschaft, Link zum Projekt: https://verbund-dut.de/teilprojekte/literatur/ (22.04.2022).
8 Rebecca Franke, Die „Sammlung Kratschmer-Würtz“ und die Jugendlyrik der DDR, Link zum Projekt: https://verbund-dut.de/teilprojekte/jugendlyrik/ (22.04.2022).
9 Cornelia Bruhn, Lieder für den Sozialismus. Akteure, Alltag und Utopie der FDJ-Singebewegung (1966–1990), Link zum Projekt: https://www.imre-kertesz-kolleg.uni-jena.de/graduate-school/members/cornelia-bruhn (22.04.2022).
10 Katharina Lenski, Geheime Kommunikationsräume? Die Staatssicherheit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Frankfurt am Main 2017, hier besonders der Abschnitt zu „Vertrauen und Verantwortung im System des Misstrauens“, S. 513f.
11 Lutz Kirchenwitz, Folk, Chanson und Liedermacher in der DDR. Chronisten, Kritiker, Kaisergeburtstagssänger, Berlin 1993, hier S. 58–66.
12 Dorothee Wierling klassifiziert die Singebewegung als „immer perfektere Inszenierungen des Jugendlebens“ (Dorothee Wierling, Die Jugend als innerer Feind: Konflikte in der Erziehungsdiktatur der sechziger Jahre, in: Hartmut Kaelble / Jürgen Kocka / Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart 1994, S. 404–425, hier S. 419), Stefan Wolle den späteren Oktoberklub als „staatsfromm bis zur Peinlichkeit“ (Stefan Wolle, Traum von der Revolte. Die DDR 1968, Berlin 2008, S. 63).