Cover
Titel
Gerhoch von Reichersberg, Opusculum de aedificio Dei. Die Apostel als Ideal
Weitere Titelangaben
Edition, Übersetzung und Kommentar


Herausgeber
Becker, Julia
Reihe
Klöster als Innovationslabore 8
Erschienen
Regensburg 2020: Schnell & Steiner
Anzahl Seiten
936 S.
Preis
66,00 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhold Rieger, Evangelisch-Theologische Fakultät, Universität Tübingen

Die Neuedition von Gerhochs von Reichersberg bedeutender Reformschrift De aedificio Dei von 1128/29 mit Übersetzung verschafft der seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anwachsenden Forschung zu Gerhoch und zur Theologie der Regularkanoniker eine neue Grundlage, kann aber auch der Lehre in Geschichtswissenschaft und Theologiegeschichte dienen. Denn sie stellt einen Text zur Verfügung, der, obwohl in seiner Zeit kaum auf Resonanz gestoßen, dennoch ein kirchliches und soziales Reformpotenzial in sich birgt, das nicht nur theologische, sondern auch kirchenrechtshistorische und sozialgeschichtliche Aufmerksamkeit verdient. Es geht dem Regularkanoniker Gerhoch um nichts weniger als um die Forderung einer radikalen Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Kirche und weltlicher Macht nach dem Ideal des Lebens der Apostel.

Die Edition entstand im Rahmen des Projekts „Klöster im Hochmittelalter: Innovationslabore europäischer Lebensentwürfe und Ordnungsmodelle“, das von der Heidelberger und der Sächsischen Akademie der Wissenschaften getragen wurde.

Die Notwendigkeit einer Neuedition ergab sich daraus, dass der Text bisher nur in einer mangelhaften Ausgabe in Patrologia Latina (PL) und in einer lückenhaften Edition in den Monumenta Germaniae Historica (MGH) zugänglich war. Die Neuedition bietet den Text der ältesten erhaltenen Handschrift aus dem 12. Jahrhundert. Obwohl deren Schreibweise weitgehend wiedergegeben wird, wurde davon abweichend eine Großschreibung von „deus“ und von Eigennamen vorgenommen. Der Haupttext ist im ersten Band ediert, die Auctoritates im zweiten Band. Diese finden sich in der Handschrift auf dem Rand und werden deshalb von der Herausgeberin Julia Becker als „Randglossen“ bezeichnet, obwohl sie ebenfalls von Gerhoch stammen, also seine eigenen Marginalien sind.

Der Edition sind vier Apparate beigegeben, die in der Einleitung als „textkritisch“ bezeichnet werden. Dies gilt jedoch nur für den ersten. Er weist „Varianten“ aus der jüngeren Handschrift des 15. Jahrhunderts und den Editionen in PL und MGH nach. Dabei handelt es sich aber nicht um echte Varianten, da diese Handschrift eine Abschrift der älteren ist und die Editionen sich entweder auf diese oder auf die jüngere Handschrift stützen. Die erhebliche Mühe, die die Kollation gekostet hat, hätte sich die Bearbeiterin in fast allen Fällen sparen können. Dass z.B. „sepe“ in PL mit „saepe“ wiedergegeben wird, ist unerheblich und kommt in vergleichbaren Fällen ungezählte Male vor. Verlesungen der früheren Editoren sind nicht der Erwähnung wert. Es hätte genügt, im Falle von Konjekturen oder Emendationen Vergleiche heranzuziehen und in der Einleitung auf die Eigenheiten der älteren Editionen hinzuweisen.

Eine Hilfe wäre gewesen, die Spalten der Edition in PL anzumerken, so dass die neue Edition auch mit Zitationen in der Forschungsliteratur aus PL hätte benutzt werden können. Wenn einem Lemma im Text eine Fußnotenziffer anhängt, wird diese im Apparat fälschlicherweise ebenfalls wiedergegeben. Im zweiten Apparat zu den Zitaten hätte man sich auch Angaben zu Anspielungen, besonders auf Bibelstellen, gewünscht. Der dritte Apparat zu den Autoritäten, den sog. „Glossen“, weist Fehler auf: So wird das im Text den Seitenwechsel in der Handschrift andeutende „/“ durch „…“ ersetzt, und die Angaben der jeweiligen Seite, auf der die Marginalie endet, stimmen nicht. Um die „Glossen“ im zweiten Band aufzufinden, die dort in der Reihenfolge nach ihrem Ort in der Handschrift mit Angabe des Folium und der Seite abgedruckt sind, hätte die Folium-Angabe im ersten Apparat deutlich hervorgehoben werden sollen.

Der vierte Apparat, der aus Fußnoten besteht, soll ein „kommentierender Sachapparat“ sein, bleibt allerdings viele Erläuterungen schuldig (z.B. zu Band 1, 122,20; 152,19; 154,11.24 usw.). Die Wiederholung von biographischen Angaben über Personen (z.B. „Augustinus (354–430), Bischof von Hippo Regius (seit 396–430), Kirchenlehrer“, eine Angabe, die mindestens 60mal vorkommt) ist überflüssig, da es in Band 2 ein Personenregister gibt. Erhellend wäre es gewesen, im Sachkommentar auf die vielen biblischen Motive als allegorische Subtexte bei Gerhoch hinzuweisen, z.B. Gen 19,17–23 (Lot in Zoar), Gen 31,31–34 (Rahel), 1 Sam 6 (Bundeslade bei den Philistern), Neh 3 (Tore des neuen Jerusalem), Apg 5,3 (Petrus und Hananias), Apg 10 (Petrus und die unreinen Tiere). Ein Abkürzungsverzeichnis zu den Apparaten fehlt.

Die Übersetzung ist eine große Leistung, da die Sprache Gerhochs nicht einfach ist. Dennoch sollen Beispiele für Probleme angeführt werden: Warum „angelus“ (Band 1, 122,20) mit „Bischof“ übersetzt wurde, hätte erläutert werden sollen (vgl. Band 1, 298,19). „Inserte“ (Band 1, 130,11) mit „inseriert“ zu übersetzen, ist unpassend. „Hostia“ (Band 1, 132,12) ist eher mit „Opfer“ als mit „Hostie“ zu übersetzen. Die Wiedergabe von „in idipsum“ mit „an Gott“ (Band 1, 149,23.26; 151,3; 157,8 usw.) ist inkonsequent und keine Übersetzung, sondern eine Interpretation, die jedoch durchaus Anhalt an Gerhoch hat. Biblische Namen hätten konsequent in der heute gebräuchlichen Form wiedergegeben werden sollen (z.B. „Segor“ mit „Zoar“; „Ozia“ mit „Usija“; „Iesus“ mit „Josua“), wie es richtig in anderen Fällen geschah (z.B. „Bet-Schemesch“ für „Bethsamis“). Denn im Personen- und im Ortsregister sucht man unter diesen Formen.

Die Einleitung der Herausgeberin und Bearbeiterin Julia Becker umfasst in Band 1 fast 100 Seiten und führt nach biographischen Angaben zu Person und Werk Gerhochs und zum Forschungsstand in das edierte Werk ein. Entstehungszeit und -ort, Konzeption, Sprache und Stil, Quellen und Vorlagen werden ebenso thematisiert wie die Bedeutung des Textes in seinem Zeitkontext und sein innovativer Charakter, den Julia Becker in den von Gerhoch im Text und an seinem Rand angeführten Belegen aus Autoritäten, besonders aus kirchenrechtlichen Quellen, sieht. Die Zuordnung der Marginalien zum Haupttext veranschaulicht sie an zwei Beispielen, die anhand der hervorragenden Abbildungen von Handschriftenseiten (dank der Bild-Kompetenz des Verlags Schnell & Steiner!) nachvollzogen werden können. Verwirrenderweise sind die Abbildungen in Band 1 in falscher Reihenfolge nummeriert: Auf Abb. 1 folgen Abb. 7–12, dann erst Abb. 2–6, schließlich Abb. 13. Der vorletzte Abschnitt der Einleitung beschreibt die Handschriften, die den Text Gerhochs überliefern, und erläutert die Editionskriterien. Der letzte Abschnitt bringt Abbildungen und Quellen- und Forschungsliteraturverzeichnisse.

Der Anhang im zweiten Band der Edition bietet eine Übersicht über den Inhalt der Kapitel, denen die Autoritäten, die in der Handschrift als Marginalien zu finden sind, zugeordnet werden. Dabei unterliefen einige Fehler: Dem Kapitel 6 müsste fol. 6v zugeordnet werden, dem Kapitel 7 fol. 7r, dem Kapitel 8 zusätzlich zu fol. 8v noch fol. 7r.v. und fol. 9r usw. Eine weitere Übersicht ermöglicht den Vergleich der Kapiteleinteilung mit der in PL. Darauf folgen ein Bibelstellenverzeichnis, Personen-, Ortsregister und ein ausführliches Wortregister zum lateinischen Text. Der „Index Initiorum“, der den Band abschließt, soll mit Zitatanfängen auf die Autoritäten hinweisen, die im zweiten Band abgedruckt sind. Allerdings erschließt sich der Zweck des Index nicht, denn bis auf wenige Fälle sind diese Initia nicht geläufig. Ein Autoritätenregister mit Namen und Werktiteln wäre hilfreicher gewesen und ist ein Desiderat der Edition.

Der neu edierte Text und seine Übersetzung ermöglichen in hervorragender Weise eine vertiefte Beschäftigung mit Gerhoch von Reichersberg und seiner wichtigen Reformschrift, auch wenn einige der zur Verfügung gestellten Hilfsmittel Mängel aufweisen und verbesserungs- oder ergänzungsbedürftig sind. Die äußere Gestaltung der beiden Bände durch den ästhetisch erfahrenen Verlag ist sehr ansprechend.

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