T. Kohl (Hrsg.): Konflikt und Wandel um 1100

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Titel
Konflikt und Wandel um 1100. Europa im Zeitalter von Feudalgesellschaft und Investiturstreit


Herausgeber
Kohl, Thomas
Reihe
Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik 36
Erschienen
Berlin 2020: de Gruyter
Anzahl Seiten
VI, 238 S.
Preis
€ 89,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eugenio Riversi, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bonn

Der Ausdruck „Konflikt und Wandel um 1100“ stellt eine neue Beschreibung der Phänomene und Prozesse dar, die das 11. und das beginnende 12. Jahrhundert in zentralen Regionen des nachkarolingischen Europas charakterisierten. Diese allgemeine und neutralere Formulierung zielt darauf ab, die inzwischen umstrittenen, aber noch immer resistenten Deutungsparadigmen des Investiturstreits und der Feudalisierung (mutation féodale) zu relativieren, deren prägender Einfluss auf führende nationale Forschungstraditionen der Mediävistik – die deutsche und die französische – nach wie vor zu spüren ist. Dieses ambitionierte Ziel verfolgte Thomas Kohl bereits in seiner jüngst veröffentlichten Habilitation: „Streit, Erzählung und Epoche. Deutschland und Frankreich um 1100“.1 Der vorliegende Sammelband ergänzt und erweitert diesen vergleichenden Ansatz, indem er nicht nur weitere Untersuchungen aus diesen Gebieten präsentiert, sondern ein im Titel nicht erwähntes glorreiches drittes Deutungsparadigma und eine dritte Makroregion hinzufügt: die Kommunalisierung bzw. Norditalien. Und eigentlich durchdringt auch ein viertes Deutungsparadigma alle Beiträge: das der Kirchenreform.

Zwischen dieser Landschaft verkrusteter Kategorien auf der einer Seite und dem Fluss der damaligen Wandlungsprozesse auf der anderen, wählt Kohl als heuristisches Medium den Begriff „Konflikt“, der in einem üblich gewordenen, ebenso breiten wie flexiblen anthropologischen Sinn verwendet wird. Einerseits erweist sich der Begriff explizit als angemessen, weil „die Zeit um 1100 außergewöhnlich konfliktreich“ (S. 5) gewesen sei, andererseits eignet er sich auch implizit, um ein Skalenspiel (jeu d’échelles) zum Investiturstreit zu entwickeln, der der übergeordnete Bezugspunkt des Bandes bleibt.

Dementsprechend ist der erste Beitrag, von Claudia Zey, eine wissenschaftliche Bilanz zu diesem Makrokonflikt. Zey betont zunächst die Forschungsschwerpunkte der letzten 20 Jahre: die anspruchsvollen und kontroversen Deutungen von Johannes Fried zu Canossa und von Gerd Althoff zu Päpsten und Gewaltanwendung, sowie die Studien zu Publizistik und Kommunikation. Sie weist dann auf die neue Tendenz hin, einzelne Regionen zu analysieren, oft im Rahmen einer Dialektik zwischen Zentrum und Peripherie: ein Bereich, der „noch etliche blinde Flecken“ (S. 29) zeigt, vor allem für die Zeit „nach 1100“, die bisher verhältnismäßig vernachlässigt wurde (S. 30–31). Diese Schlussüberlegungen Zeys rechtfertigen das breite Feld der folgenden Untersuchungen.

Die Reihe der drei Beiträge zu „deutschen“ Regionen eröffnet Tobie Walthers Aufsatz über den Investiturstreit am Oberrhein bis 1100, anhand des Beispiels der Bischöfe von Straßburg und Basel. Walther zeigt, dass die lokalen konfliktgeladenen Situationen um die Bischöfe zwar vom Investiturstreit beeinflusst wurden, aber – sieht man genauer hin – die Kontrahenten oft gegenseitig Kontakte aufnahmen, die nicht den modernen Vorstellungen von harten politischen Fronten oder strengen Obedienzen entsprechen: Also eine deutlich komplexere Situation als die Gegenüberstellung zweier Parteien. Das verdeutlicht auch der nächste Beitrag zum Bistum Augsburg. Christof Paulus kontextualisiert darin die Darstellung des Investiturstreits und der Bistumsgeschichte in den Annales Augustani zwischen 1076 und 1084 und zeigt, wie die anonymen Autoren durch die Schilderung einer verworrenen, gespaltenen Situation eine Parteinahme vermieden. Paulus bestätigt so mit einer tiefen Textanalyse die wiederkehrende Beobachtung einer breiten sozialen Grauzone – für den Autor ein „dritter Weg“ (S. 69) – in vielen lokalen Kontexten während des Investiturstreits. Methodisch in die gleiche Richtung – obwohl weniger prägnant in den Ergebnissen – geht Denis Drumms Analyse des Hirsauer Geschichtsverständnisses zu Beginn des 12. Jahrhunderts: Er kontextualisiert die überlieferten Quellen zu diesem zentralen Ort der Kirchenreform und vor allem das Idealbild des Abtes Wilhelm, vermeidet einige „Zirkelschlüsse“ (S. 85) der Forschung und weist auf die Gegenwarts- bzw. sogar Zukunftsorientierung der Geschichtsdarstellungen hin, die weniger aussagekräftig für die Rekonstruktion der Geschehnisse des 11. Jahrhunderts und für die allgemeine Meistererzählung der Kirchenreform sind.

Die nächsten vier Beiträge beziehen sich auf Italien, wobei die ersten beiden thematisch breiter angelegt sind. Nach einem Überblick über die italienische Forschungstradition zum Themenkomplex Kommune – Feudalisierung – Kirchenreform betont Nicolangelo D’Acunto die Bedeutung eines Fallbeispiels, das schon von Cinzio Violante, Karl Bosl und Hagen Keller hervorgehoben wurde: Mailand. Er fasst die dortige konfliktgeladene Situation in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts zusammen und kontrastiert sie mit Pisa: Der Investiturstreit sei demnach keine alleinige und direkte Ursache für die Entstehung der Stadtkommunen, habe jedoch einige Voraussetzungen begünstigt, vor allem durch die Schwächung der herkömmlichen Reichsstrukturen in spätsalischer Zeit. Auf diese Änderungen in den Herrschaftsstrategien der salischen Könige konzentriert sich Alessio Fiore in seinem Beitrag. Waren die Herrscher zwischen 1040 und 1070 noch auf regionale Vermittler angewiesen, entwickelte Heinrich IV. später Strategieansätze, um direkte Kontakte mit den lokalen Akteuren aufzunehmen. Allerdings verhinderte seine Niederlage im Krieg ihre Umsetzung, obwohl der allgemeine Konflikt ihm als Katalysator für diese Veränderungen – vor allem die Zerstörung der alten Vermittlungsinstanzen – diente. Diese Strategien wurden von Heinrich V. wieder aufgenommen und weiterentwickelt, insbesondere da das Erbe Mathildes von Canossa ihm eine starke Machtbasis in Norditalien bot. Die direktere Kontrolle des Kaisers über Burgen und Fiskalgüter, sein Druck auf Städte sowie die Wiederbelebung einiger Markgrafschaften stießen jedoch auf starken Widerstand und scheiterten.

Die anderen Beiträge zu Italien bearbeiten spezifischere Themen. Christoph Dartmann betrachtet die subjektive Wahrnehmung der mailändischen Konflikte im Geschichtswerk von Landulf Iunior und zeigt, dass dieser so wichtige Chronist zwar die Konflikte seiner Zeit erlebte, sich aber nicht wirklich „für Grundsatzfragen nach dem rechten Lebenswandel des Klerus oder dem Verhältnis zwischen Päpsten und Kaisern“ interessierte (S. 131). Die Darstellung seiner eigenen Streitfälle wird zu einer Momentaufnahme der damaligen tiefen Veränderungen der Institutionen und der einschlägigen Ordnungsvorstellungen. Katrin Getschmann widmet ihren Beitrag dem interessanten Fall des Klosters San Sisto in Piacenza. Anhand einer genauen Analyse kann sie zeigen, dass in der Vergangenheit die Quellenlage zum konfliktgeladenen Austausch der weiblichen Gemeinschaft mit Mönchen nicht richtig gedeutet wurde, da man unreflektiert die Kategorie der Kirchenreform anlegte und die Interessenlage nicht genau schilderte.

Die letzten drei Beiträge des Bandes, zu französischen Kontexten, stellen ebenfalls die Deutungsparadigmen infrage. Zunächst betrachtet Jean-Hervé Foulon in einem Aufsatz über die Normandie die Konflikte, die in den Jahrzehnten um 1100 entstanden, weil sich eine Liturgie der Abteinsetzung entwickelte. Foulons ausführliche Analyse zeigt, dass die üblicherweise verwendeten Deutungskategorien der Kirchenreform bzw. des Investiturstreits diese Konflikte nicht erschöpfend erklären können. Auch Thomas Kohls Beitrag relativiert die Auswirkung der Exkommunikation auf die Herrschaftsausübung: So war das bewährte bischöfliche Mittel der Konfliktführung – die Exkommunikation – bereits vor der Exkommunikation Heinrichs IV. und dem Investiturstreit nicht so wirkmächtig, wie es sich die damaligen Kanonisten vorstellten. Zuletzt beschäftigt sich Charles West mit der frühen Überlieferung der Texte zum morgenländischen Schisma (1054) in zwei Handschriften aus lothringischen Klöstern: St. Laurentius in Lüttich und St. Arnulf in Metz. West stellt die Querverbindung zwischen konkreten Interessen der religiösen Gemeinschaften, die zur Kopie der Handschriften geführt haben sollen, und zentralen Ideen der Kirchenreform bzw. des Reformpapsttums her, die in diesen Texten vermittelt werden.

Trotz der Heterogenität der Beiträge gelingt es dem Sammelband, durch konkrete Beispiele die Unzulänglichkeit einer unreflektierten Verwendung der geläufigen Deutungsparadigmen zu beweisen. Ihm fehlt jedoch ein synthetisierender Schluss. Dieser hätte zunächst abstrahierend die sich teilweise überschneidenden Aspekte der verschiedenen Ansätze zusammenfassen und strukturieren können, dann von der Bearbeitung dieser konkreten Ansätze ausgehend Hinweise zur methodischen Weiterentwicklung der Untersuchungen geben können, und zuletzt eine erste, der Komplexität gerecht werdende Deutung entwerfen können, für die die allgemeinen Kategorien von Konflikt und Wandel sowie von bedrohten Ordnungen alleine nicht ausreichen. Zum Beispiel könnte man – um ein von Foulon verwendetes Wort aufzugreifen – den Investiturstreit als ein „Epiphänomen“ (S. 176) interpretieren, das einerseits auf verbreiteten Figurationen bzw. Interdependenzketten fußte – zum Beispiel den häufig angespannten Beziehungen um die Bischöfe – (ohne darauf reduziert zu werden), und das andererseits wechselseitig als Auslöser auf diese spannungs- bzw. konfliktgeladenen Figurationen wirkte, zum Beispiel durch eine folgenschwere Politisierung der Auseinandersetzungen.

Anmerkung:
1 Thomas Kohl, Streit, Erzählung und Epoche: Deutschland und Frankreich um 1100, Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 67, Stuttgart 2019; vgl. dazu die Rezension von Julia Exarchos, in: H-Soz-Kult, 09.09.2020, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-29407 (27.04.2021).

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