K. Otto: Berlins verschwundene Denkmäler

Cover
Titel
Berlins verschwundene Denkmäler. Eine Verlustanalyse von 1918 bis heute


Autor(en)
Otto, Kirsten
Anzahl Seiten
448 S., 120 Abb.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefanie Endlich, Berlin

Mit diesem Buch liegt die erste „Verlustanalyse“ für Denkmäler vor, die auf Berliner Stadtgebiet seit 1918 bis in die Gegenwart zerstört, verändert oder umgesetzt wurden. Tatsächlich gab es solche Untersuchungen bisher nur für einzelne Denkmäler, so für das Revolutionsdenkmal von Ludwig Mies van der Rohe, für das Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal von Reinhold Begas oder für das Lenin-Denkmal von Nikolai Tomski. „Nicht nur eine quantitative, sondern insbesondere eine qualitative und systematische Untersuchung zu den Ursachen der Veränderung an und der Beseitigung von Denkmälern sowie deren Folgen für das kollektive Gedächtnis bildet ein Desiderat der Forschung“, konstatiert Kirsten Otto in ihrer Einleitung (S. 13). Ihr Ansatz war, die Hintergründe und Abläufe der Zerstörungen zu untersuchen, die durch politische Umbrüche oder Krieg verursacht wurden, und dabei „die gesamte Denkmallandschaft Berlins“ (S. 17) in den Blick zu nehmen, also eine ganze Werkgattung, das gesamte Stadtgebiet und alle Geschichtsetappen seit 1918, deren Anfänge auch jeweils mit erinnerungspolitischen Paradigmenwechseln verbunden waren. Dieses Vorhaben war mutig und konnte nur in jahrelanger Recherche- und Analysearbeit bewältigt werden. Dem Buch liegt die Dissertation der Autorin zugrunde, die sie 2016 am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin verteidigt hat.

Kirsten Otto hat zunächst eine Datenbank erstellt, in der sie die bestehenden und, soweit möglich, die nicht mehr vorhandenen Denkmäler erfasst hat. Ihre Auswertung ergab, dass „von etwa 900 ursprünglich gesetzten Denkmälern gegenwärtig etwa ein Drittel nicht mehr aufgestellt, der größte Teil davon vernichtet ist“ (S. 15). Ein weiterer Teil sei an einen anderen Standort umgesetzt oder deutlich verändert worden. Aus rund 300 nicht mehr vorhandenen Denkmälern wählte sie 117 aus, zu deren Verlust sie Ursachen, Ablauf und Folgen näher untersuchte. Mit diesem Vorgehen nimmt sie, wie sie zutreffend vermerkt, einen „Perspektivwechsel“ gegenüber bisherigen Forschungen vor: Sie blickt „nicht auf die Errichtung, sondern auf die Entfernung aus dem öffentlichen Raum“ und erwartet daraus „wesentliche Erkenntnisse zur erinnerungspolitischen Bedeutung von Denkmälern sowie zu deren grundlegenden Funktions- und Wirkungsweisen“ (S. 18). Dabei unterstreicht sie, dass sie den Kontext der Denkmalserrichtungen grundsätzlich nicht behandelt, da diese Thematik bereits vielfach erforscht sei. Sie verzichtet damit auf Ausführungen zu den Entstehungsgeschichten, Initiatoren und Ikonographien der Denkmäler, zu den historischen Persönlichkeiten oder Ereignissen, denen sie gewidmet sind, und zu den Künstlern.

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Der erste behandelt auf 240 Seiten die Verlustgeschichten vom Ende des Ersten Weltkrieges bis in die Gegenwart. Zu den großen Etappen – Weimarer Republik, Nationalsozialismus, die Zeit der deutschen Teilung und die Jahrzehnte nach 1990 – fügt sie mit dem Zweiten Weltkrieg und der Besatzungszeit noch zwei weitere für die Denkmallandschaft einschneidende Zäsuren hinzu. Im zweiten Teil des Buches geht es darum, die analysierten Entwicklungen aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu systematisieren.

Der erste Teil bietet einen hervorragenden Überblick zum Thema und interessante Einblicke in dessen Komplexität. Hintergründe und Abläufe des Verlusts der Denkmals-Beispiele werden anhand von Archivalien, Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen, Bestandslisten, Katalogen und Buchpublikationen rekonstruiert. Die Fülle von Informationen wird zu spannenden Geschichten zusammengefügt und bietet Einsichten in die jeweiligen gesellschaftspolitischen Zusammenhänge. Die Abbildungen sind ein regelrechter Schatz für Interessenten der Denkmals- und Erinnerungskultur. Nach jedem zeitbezogenen Kapitel wird ein Resümee gezogen, das die teils disparaten Erkenntnisse der einzelnen „Denkmalschicksale“, so die Autorin, in klare Thesen überführt.

Die Weimarer Republik brachte für die Denkmallandschaft keine wesentlichen Verluste. Die Revolutionsereignisse verursachten einige Beschädigungen durch Straßenkämpfe und Anschläge; eine programmatische Beseitigung der Denkmäler für Monarchen wurde diskutiert, aber nicht realisiert. Die erinnerungspolitischen Anstrengungen der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg konzentrierten sich auf die Errichtung neuer Gefallenendenkmäler. Das NS-Regime organisierte gleich nach der Machtübernahme eine radikale erinnerungspolitische Säuberung. Abgeräumt wurden Denkmäler, deren moderne Formensprache als „entartet“ galt, und Standbilder für Persönlichkeiten, die aus rassistischen oder politischen Motiven nun als „innere Feinde“ betrachtet wurden. Hinzu kam die Translokation von Denkmälern, die Albert Speers Stadtumbauplänen im Wege standen; dies wurde oft zur manipulativen Auf- oder Abwertung einzelner Denkmäler genutzt. Im Zweiten Weltkrieg erlitt die nach der Phase der Säuberungen bereits reduzierte Denkmallandschaft weitere Verluste: zunächst durch Einschmelzung vieler Metallskulpturen für die Rüstungsproduktion, von der auch neu errichtete NS-Denkmäler – allerdings nicht deren Sockel – betroffen waren, dann durch Bombardierungen und schließlich durch Straßenkämpfe.

In den Jahren der alliierten Besatzung kam es vor allem durch Diebstähle und mutwillige Zerstörungen zu Verlusten. Die Kontrollratsdirektive Nr. 30 vom Mai 1946 hatte die Beseitigung aller Denkmäler „militärischen und nationalsozialistischen Charakters“ angeordnet, was auch mehr oder weniger befolgt wurde. Von kommunistischer Seite geforderte weitaus umfassendere Abräumungsprogramme im Zeichen der neuen Zeit wurden vom Magistrat teils beschlossen, aber angesichts der materiellen Not nicht realisiert. Nach Gründung der DDR veranlasste die SED die Demontage einer großen Zahl von als reaktionär empfundenen preußischen Denkmälern, deren Material auch in die Reparationsleistungen für die Sowjetunion einging. Gerade für Berlin-Mitte bedeutete das die Zerstörung, Einlagerung oder Versetzung vieler Standbilder von Herrschern und Generälen. Ein Abschnitt des Buches ist der nächtlichen Zertrümmerung des Stalin-Denkmals in der damaligen Stalinallee gewidmet, die erst im Herbst 1961 erfolgte, verbunden mit der Straßenumbenennung in Karl-Marx-Allee. In West-Berlin hingegen blieben die meisten Denkmäler erhalten. Nur jene Standbilder der Siegesallee aus dem Kaiserreich, die in der NS-Zeit nicht repräsentativ umgesetzt worden und im Krieg verschont geblieben waren, wurden nach der Alliierten-Verordnung zur Einebnung der Allee 1950 im Schlosspark Bellevue vergraben. 1978 grub man sie wieder aus und brachte sie ins Lapidarium, 2009 in die Zitadelle Spandau. Ein weiteres Kapitel widmet sich den ost-westlichen Denkmals-Tauschgeschäften „zwischen den Fronten des Kalten Krieges“. Das Kapitel zur Zeit nach dem Mauerfall schließlich behandelt die konfliktreichen Debatten um die Abräumung ideologiebeladener politischer Denkmäler im Ostteil der Stadt, die konsequent nur beim Lenin-Denkmal in Friedrichshain und beim Betriebskampfgruppen-Denkmal im Volkspark Prenzlauer Berg vollzogen wurde.

Im zweiten Teil des Buches wird auf 133 Seiten die „Verlustanalyse“ kulturwissenschaftlich reflektiert und vertieft, um so zu „allgemeingültigen Aussagen zu den Umgangsmöglichkeiten mit Denkmälern zu gelangen“ (S. 20). Interessant in diesem Teil ist die systematische, konkrete, mit jeweiligen Pro- und Kontra-Argumenten versehene Beschreibung von Formen des Umgangs nach der Entfernung der Denkmäler, vom „Schleifen“ über Aufbewahren, Verbergen, Vernichten, Material-Recyceln bis hin zum Umgang mit Relikten, Sockeln und leer geräumten Standorten sowie deren vereinzelter Revitalisierung. Enttäuschend hingegen ist die Entwicklung und Definition eines Denkmaltyps, der all diesen Ausführungen zugrunde gelegt wird, aber allgemeine Geltung beansprucht. „Denkmäler bestehen aus drei wesentlichen Komponenten: einem Kunstwerk, einem Sockel und einem Ort für Rituale.“ (S. 277) Sie werden, so die Autorin, zur Ehrung vorbildhafter Personen und zur Erinnerung an Ereignisse wie militärische Siege oder ehrenhafte Niederlagen errichtet, um identitätsstiftend das jeweilige „Herrschaftsgedächtnis“ zu verewigen (S. 266). Ihr Standort müsse bedeutsam und für Rituale geeignet sein (S. 269). Wesentlich für ihr Funktionieren seien dauerhafte Materialien, Symmetrie-Achsen, allegorische Begleit-Figuren und narrative Szenen am Sockel, was auch die Ursache für ihre Gleichförmigkeit sei (S. 271). Der Sockel gebe die Form des Erinnerns vor: „Durch seine Höhe ist die Blickrichtung der Rezipienten schräg nach oben, Kopf in den Nacken, als typische Betrachtungshaltung bedingt.“ (S. 282)

Der hier entwickelte Grundtypus entspricht etwa den preußischen und kaiserlichen Monarchen- und Feldherrenstandbildern, die im Zentrum der „Verlustanalyse“ stehen. Die Definition eines solchen Denkmalstyps erfordert eine präzise zeitliche Kontextualisierung. Diese fehlt jedoch, obwohl das Buch den Zeitraum bis in die Gegenwart behandelt. Für „allgemeingültige Aussagen“ zum Umgang mit Denkmälern (S. 20) ist sie kaum brauchbar. Dass sich durch bürgerschaftliche und gesellschaftskritische Initiativen bereits seit den 1980er-Jahren auch Erinnerungskultur und Memorialkunst wesentlich verändert haben, spricht Kirsten Otto in ihrem Buch nicht an. Auch der Denkmalsbegriff selbst hat sich durch neue Konzepte, Medien, Materialien und Partizipationsideen gewandelt und vor allem erweitert. Diese konzeptorientierten Formen sind nicht mehr neu, sondern längst – auch im Bereich der nationalen Denkmäler – etabliert, vor allem beim Gedenken an NS-Opfer wie auch an Opfer des Stalinismus und der DDR-Repression. In der anfangs genannten Datenbank der Autorin sind sie vermutlich nicht enthalten, denn keines dieser Denkmäler wird erwähnt, obwohl auch hier Vandalismus und Verluste zu verzeichnen wären. Problematisch ist daher vor allem der nicht nur statische, sondern auch hermetische Charakter der konstruierten Typologie. Die reale Denkmalsentwicklung ist immer und in jeder Hinsicht prozesshaft. Alle Denkmäler, auch die in der Analyse behandelten, haben zeitbedingte Merkmale, die ihren je nach Kontext und künstlerischer Gestaltung eher reaktionären oder eher innovativen Charakter zum Ausdruck bringen. Mies van der Rohes Revolutionsdenkmal von 1926 auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde, dessen Demontage ab 1933 Kirsten Otto beschreibt, passt etwa gar nicht in das hier vorgestellte Denkmals-Korsett.

Problematisch ist schließlich auch die Grundthese des zweiten Teils, Denkmäler seien „keine autonomen Kunstwerke“ (S. 263 und S. 393f.). Die Autorin begibt sich damit in die Arena einer jahrzehntelangen Debatte um Autonomie der Auftragskunst von der Renaissance bis zur Kunst am Bau und Memorialkunst der Gegenwart. Diese Debatte ist jedoch nur dann sinnvoll zu führen, wenn der Autonomiebegriff, den man selbst verwendet, auch definiert wird. Das ist hier nicht der Fall; der Hinweis auf Heideggers Unterscheidung zwischen dem „Zeug“, das dem Menschen dienstbar sein soll, und dem „Werk“, das keinem unmittelbaren Zweck dient (S. 263), ist dabei wenig erhellend. So gilt die Empfehlung für dieses Buch speziell der „Verlustanalyse“ selbst und denjenigen Kapiteln im Theorie-Teil, die die konkreten Entwicklungen beschreiben.