Wenn man sich in der Forschung auf Neuland begibt und unbekanntes Terrain kartiert, gerät man immer in die Gefahr, dass die Pionierarbeit nicht unbedingt gewürdigt wird, dass vielmehr die groben Striche und die wenig detaillierte Ausarbeitung bemängelt wird, anstatt dass goutiert wird, dass die Arbeit überhaupt gemacht wurde. Wenn man Forschungsthemen erneut bespricht, die schon häufig bearbeitet wurden, dann gelten die Ergebnisse unter Umständen selbst dann als voraussagbar, wenn sie so noch nicht formuliert worden sind.
In gewissem Sinne hat sich Grischa Vercamer mit seiner Habilitationsschrift beiden Herausforderungen gestellt. Zum einen ist der Vergleich zwischen England, dem Reich und Polen ganz sicher Neuland, zum anderen sind die Geschichtsschreiber, die er für seine Untersuchung herangezogen hat, für ihre jeweiligen Reiche ganz zentral und standen daher schon häufig im Mittelpunkt von Untersuchungen. Dass es dem Verfasser an Mut nicht mangelt, wird auch durch die immer wieder offene Darlegung seiner Methoden belegt – mit allen Unsicherheiten, die sich daraus ergeben.
Vercamer möchte, wie schon bei einer von ihm mitveranstalteten Tagung des Deutschen Historischen Instituts in Warschau als Ziel gesetzt1, untersuchen, wie sich die Herrschaftspraxis in der Geschichtsschreibung reflektiert. Der Untertitel macht dabei deutlich, dass dies natürlich nur vor dem Hintergrund der Herrschaftsvorstellungen geschehen kann. Praktiken, die nicht mit den klerikal-kirchlichen Vorstellungen von guter Herrschaft übereinstimmen, können nicht gut wegkommen, selbst wenn sie effektiv gewesen sein sollten.2 Die Untersuchung dieser Wechselwirkung stellt Vercamer vor den Hintergrund einer kritischen Betrachtung nationaler Meistererzählungen über die jeweiligen Länder im 12. Jahrhundert, etwa den administrativen Fortschritt im England des 12. Jahrhunderts, die polnischen Sukzessionsstreitigkeiten und die Wiederbelebung des Kaisertums durch Barbarossa im Reich. Dass solche etablierten Narrative zum Teil unsere Erkenntnismöglichkeiten beschränken, ist inzwischen „common sense“ der Forschung, muss aber natürlich auf jeden Fall dargelegt werden.
Im Grunde genommen hat Vercamer sein hochgestecktes Ziel letztlich nur anhand von wenigen Beispielen durchexerziert. Polen ist, mangels anderer Quellen eigentlich zwangsläufig, mit Gallus Anonymus und Vincenz Kadlubek vertreten, England bei einer weitaus größeren Auswahl mit Wilhelm von Malmesbury (nicht den bekannteren Gesta regum Anglorum, sondern seiner Historia Novella) und Roger von Howden, das Reich mit Otto von Freising/Rahewin und der Historia Welforum. Über diese Auswahl ließe sich nun trefflich streiten, aber sie ist ein wenig durch die polnischen Quellen vorgegeben, deren Hintergrund und Darstellungsabsichten Vercamer offenbar in den Quellen aus den anderen beiden Ländern möglichst genau gespiegelt sehen wollte. Die Historia Welforum fällt wegen ihrer Konzentration auf die süddeutschen Welfen und der Unsicherheit über den Verfasser etwas heraus. Vielleicht wäre Otto von St. Blasien hier eine bessere Wahl gewesen.
Ein solcher Quellenvergleich über drei Länder will gründlich vorbereitet sein und so ist es wenig verwunderlich, dass die Einleitungskapitel ein gutes Drittel des Textes ausmachen – der Anhang mit der genauen Dokumentation der in die Untersuchung eingeflossenen Quellenstellen ab S. 355 sei hier nicht mitgerechnet. In der Einleitung (S. 1–62) führt der Verfasser in das Thema ein, stellt die verwendeten Theorien zur Herrschaft vor, benennt die Vorstellungsgeschichte als Grundlage seines Vorgehens und erläutert seine Arbeitsweise mit Quellendatenbanken und der Auswahl aussagekräftiger Belege anhand von Statistiken zu den jeweiligen bearbeiteten Themen.
Im zweiten Kapitel wird die Auswahl der Quellen begründet (S. 63–120) und im dritten Kapitel auf dem Stand der Forschung die Kenntnisse über Herrschaftsstrukturen im 12. Jahrhundert im jeweiligen Reich referiert (S. 121–162).
Die eigentliche Analyse der ausführlichsten Quellenstellen findet sich dann in Kapitel 4, dem Kernstück der Arbeit. Vercamer hat neun Tätigkeitsfelder identifiziert, die er jeweils in den einzelnen Chroniken – so vorhanden – betrachtet und analysiert: Der Fürst/Herrscher als Richter (S. 165–179), Verwalter (S. 180–194), Politiker/Diplomat (S. 195–212), Gesetzgeber (S. 213–216), Repräsentant von Herrschaft (S. 217–232), Krieger/Heerführer (S. 233-247), frommer Herrscher (S. 248–258) und schließlich sein Habitus/seine Gewohnheiten (S. 257–274). Manches Ergebnis ist dabei nicht überraschend. Dass der Fürst als Verwalter etwa in den englischen Chroniken überdurchschnittlich häufig angesprochen wird, mag man natürlich mit dem bekannten administrativen Vorsprung Englands erklären (S. 182–188, S. 193), man kann aber auch anführen, dass gerade Roger von Howden, der am stärksten vom Durchschnitt abweicht, eben auch die Methode anwandte, Urkunden in extenso zu zitieren. Dass die polnischen Chroniken gerade den Krieger überdurchschnittlich betonen, mag mit der tatsächlichen Durchsetzung eines Hegemonialanspruchs zu tun haben (S. 246), kann aber eben auch damit zusammenhängen, dass die beiden polnischen Chroniken am Anfang der polnischen Überlieferung stehen und gerade Gallus in einer Origo Gentis die Durchsetzung der Polen gegen andere gentes geradezu als Motiv abarbeiten muss.3 Unterschiede in der Beurteilung der Tätigkeiten als gut oder schlecht bemerkt man natürlich vor allem bei den Kategorien wie Politiker/Diplomat (S. 209–213) oder in Bezug auf die Gewohnheiten (S. 270–273), wobei den Anekdoten, wenig überraschend, ein deutlich breiteres Spektrum zwischen gut und schlecht zukommt als den kurzen Zuschreibungen von Herrschereigenschaften.
Im fünften Kapitel (S. 275–342) versucht Vercamer sich vorsichtig an einer Synthese, in Bezug auf die Herrschaftsvorstellungen und ihren Zusammenhang mit narrativen Schreibstrategien. Für die englischen Chroniken sieht Vercamer eine Bestätigung der in Kapitel 3 aufgeführten England eigenen Herrschaftsstrukturen (S. 296f.) und narrative Strategien (nüchtern-deskriptiv), die dies unterstützen. Mir scheint, dass dieses Bild bei Berücksichtigung weiterer englischer Quellen wie etwa Heinrich von Huntingdon doch stark revidiert werden müsste. Gerade auch die wenig starke Stellung der Earls, die Vercamer konstatiert, wird geradezu durch Wilhelm von Malmesbury selbst widerlegt, dessen Gesta regum Anglorum zu großen Teilen Hinweise gibt, wie gerade die Zusammenarbeit von König, Bischöfen und Großen erfolgreiche Herrschaft ausmacht.4
Für die polnischen Chroniken konstatiert Vercamer einen sehr starken Zusammenhang zwischen den von der Forschung herausgearbeiteten Strukturmerkmalen Polens und der Darstellung der Chroniken (S. 323–325), betont aber auch, dass wir hier massiv von der Quellenlage beeinflusst werden, da Gallus und Vincent fast alleine dastehen. Diese Aporie wird sich wohl nicht lösen lassen. Es wäre auch die Frage zu stellen, inwieweit die Schwerpunktsetzung von Gallus und Vincent nicht eben auch durch die Absicht der Begründung einer Kommunität und der Identitätsstiftung gelenkt wird, die für das Reich und England so nicht gilt.
Auch für das Reich sieht Vercamer einen starken Zusammenhang zwischen der in den Quellen sichtbaren Strukturen und denen, die die Forschung herausgearbeitet hat (S. 338–341), wie etwa der speziellen Stellung des Kaisertums. Auch dieses Ergebnis wäre wohl an anderen Quellen noch zu überprüfen, zumal die Historia Welforum als identitätsstiftende Familiengeschichte bei vielen der angeführten Strukturen doch eher nur zufällig Informationen liefert.
So ist die Rezensentin jetzt doch an dem Punkt angekommen, an dem sie die mangelnde Detailfülle bei der „Kartierung“ der Forschungslandschaft bemäkelt. Deshalb sei zum Schluss noch einmal betont, dass es sich, wie Vercamer selbst bescheiden bemerkt, um eine „Pilotstudie“ handelt, dass also keinesfalls alle Fragen beantwortet werden sollen, was wohl auch ein hoffnungsloses Unterfangen wäre. Insofern kann man der Studie nur wünschen, dass sie breit rezipiert wird und sich andere die Methodik der Gewichtung der „relevanten“ Aussagen zu eigen machen, um das von dem Verfasser betretene Neuland weiter zu bearbeiten. Die vergleichende Geschichtswissenschaft kann davon nur profitieren.
Anmerkungen:
1 Norbert Kersken / Grischa Vercamer, Macht und Spiegel der Macht. Herrschaft in Europa im 12. und 13. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Chronistik (Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien 27), Wiesbaden 2013.
2 Etwa die Praxis der Polygynie als Herrschaftsinstrument vgl. dazu Jan Rüdiger, Der König und seine Frauen. Polygynie und politische Kultur in Europa (9.–13. Jahrhundert) (Europa im Mittelalter, Band 21), Berlin, Boston 2015, vor allem S. 210–264.
3 Alheydis Plassmann, Origo gentis. Identitäts- und Legitimitätsstiftung in früh- und hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 7), Berlin 2006, hier S. 161–166.
4 Alheydis Plassmann, Bedingungen und Strukturen von Machtausübung bei Wilhelm von Malmesbury und Heinrich von Huntingdon, in: Norbert Kersken / Grischa Vercamer (Hrsg.), Macht und Spiegel der Macht. Herrschaft in Europa im 12. und 13. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Chronistik (Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien 27), Wiesbaden 2013, S. 145–171, vor allem S. 292–320.