I. Gilcher-Holtey (Hrsg.): Zwischen den Fronten

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Titel
Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Gilcher-Holtey, Ingrid
Erschienen
Berlin 2006: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
434 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gangolf Hübinger, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina Frankfurt an der Oder

Dieses Buch packt die widerborstigen Figuren, die man „Intellektuelle“ nennt, bei ihrem Ureigensten: der Liebe zum Kampf in Wort und Schrift. Seit ihrer Studie über Karl Kautskys intellektuelles Mandat und den vergleichenden Forschungen zur 1968er-Bewegung in den westlichen Industriegesellschaften ist Ingrid Gilcher-Holtey eine Expertin auf dem Gebiet der Intellektuellengeschichte. Knapp und bündig stellt sie in der Einleitung die „vier konkurrierenden Definitionen des Intellektuellen“ vor, in deren Rahmen der Sammelband exemplarisch die Arenen absteckt und die Kämpfer positioniert. Mit guten Gründen wird der allzu weite Begriff, der nicht zwischen Intelligenz und Intellektuellem trennt und alle künstlerisch, wissenschaftlich oder philosophisch Gebildeten zu „Intellektuellen“ erklärt, als soziologisch amorph abgewiesen. Mindestkriterium ist der öffentliche Einsatz für das Gemeinwohl im Zeichen einer ideellen Ordnung, die der Vernunft, der Wahrheit und der Gerechtigkeit verpflichtet ist. Von Denis Diderot bis Jean-Paul Sartre, von John Toland bis Beatrice Webb, von Johann Gottlieb Fichte bis Bertolt Brecht konnte das auf höchst unterschiedliche Weise geschehen.

Zum Anspruch und zu den Strategien öffentlicher Einmischung unterscheidet Gilcher-Holtey vier Grundmuster. In der französischen Dreyfus-Affäre, die eine Staatskrise mit sich brachte, ist der Typus des „allgemeinen Intellektuellen“ klassisch geworden, wie ihm Emile Zola im Namen der Opfer von Willkür und Unrecht den Maßstab verliehen hat. Davon zu unterscheiden ist mit Ralf Dahrendorf der „öffentliche Intellektuelle“, der ein kritisch engagierter Beobachter bleibt, also die Rolle von Raymond Aron gegenüber Sartre bevorzugt. Ein Sonderfall, den die Wissenskulturen des 20. Jahrhunderts geschaffen haben, ist der „spezifische Intellektuelle“. Die Forschung stellt ihn unter die Devise „Ni Marx, ni Jésus, ni Guizot, mais: ‚Mes archives, mon laboratoire, mon séminaire’“, was aber nicht einfach den in der deutschen Tradition beliebten „politischen Professor“ meint.1 Der „spezifische Intellektuelle“ hält vielmehr die allgemeine Sprecherrolle zur Verpflichtung auf verbindliche Kulturwerte für eine Anmaßung und setzt dagegen auf Herrschaftskritik durch die Macht des Wissens.2 In jüngster Zeit, und damit sympathisieren die Beiträge dieses Bandes, ist die Figur des „kollektiven Intellektuellen“ hinzugetreten. Ihr Repräsentant ist Pierre Bourdieu, der weiß, dass Politik immer auch ein dauernder Kampf um Leitideen und Ordnungssymboliken ist. Künstler/innen und Wissenschaftler/innen sind aufgerufen, ihre zum Beispiel im literarischen Feld erworbene Autorität zur Mobilisierung der Öffentlichkeit einzusetzen und auf die Verursacher/innen wachsender Ungleichheit ihr Gegenfeuer zu eröffnen.

Im analytischen Bezugsrahmen dieser Grundtypen lässt sich europäische Intellektuellengeschichte schreiben, und der Band setzt dazu Akzente. Er konzentriert sich allerdings auf Schriftsteller/innen, Literaturkritiker/innen und Verleger/innen und ausgespart bleibt der gesamte angelsächsische Raum.3 Die Beschränkung der insgesamt 15 Beiträge auf die Achse Frankreich – Deutschland, mit einem Beitrag zur Schweiz, erklärt sich aus einer zugrundeliegenden Bielefeld-Pariser Tagung, die dem Thema „Das literarische Feld – eine Welt für sich“ gewidmet war. So ist es kein Zufall, dass sich alle Fallstudien dieses Bandes ausgiebigst aus Bourdieus Werkzeugkasten bedienen. Einige Heroen der deutschen Kulturgeschichte kommen dadurch zu neuer Deutung. So kreuzt Thomas Mann als ebenbürtiger Kämpfer mit seinem Bruder Heinrich im literarischen Feld die Klingen. Im Ersten Weltkrieg trat dem Außenseiter Heinrich in Bruder Thomas Mann nicht der apolitische Künstler, sondern der intellektuelle Opportunist mit Strategien „im Sinne der Herrschenden“ entgegen (Steffen Bruendel, S. 111). Und Bertolt Brecht wird sehr subtil und werkintensiv als „spezifischer Intellektueller“ porträtiert – ein glühender Marxist zwar, aber kein Parteiintellektueller, nicht auf Okkupation der Macht aus, sondern mit den Mitteln des Theaters „auf die Schaffung von Gegenmächten im Bereich der Kultur“ konzentriert (S. 148). Für Ingrid Gilcher-Holtey hat Brecht in seinem „eingreifenden Denken“ so gelebt, wie sich Foucault und Bourdieu den spezifischen und den kollektiven Intellektuellen gewünscht haben.

Eine spannende Gegenprobe zum Mainstream der französischen Forschung liefert Hervé Serry, der das Engagement katholischer Intellektueller zwischen 1880 und 1935 an den Regeln ihres Glaubens misst. Er schildert ihre Ambitionen letztendlich als ein Scheitern in drei Phasen. Zur Dreyfus-Zeit, die für Katholiken zugleich die Zeit der Modernisten-Urteile durch den Vatikan war, konnten auch Paul Claudel oder François Mauriac die kirchliche Bevormundung nicht abschütteln; im Gegenzug fand ihre gefestigte literarische Position den Beifall von Maurice Barrès. Nach dem Ersten Weltkrieg verstärkten die katholischen Intellektuellen ihre kulturelle Autonomie; gleichzeitig lösten sie sich vom Nationalismus der Action française. Eine dritte Phase katholischer Literaturrenaissance, die Mitte der 1920er-Jahre nicht nur Frankreich erfasste, formte endgültig den „katholischen Intellektuellen“, verlieh den Protagonisten wie Charles Du Bos jedoch nicht die Kraft „zu definieren, was eine katholische Ästhetik zu sein hätte“ (S. 81). Wenn dabei von den „beiden Frankreich“ die Rede ist, hätte den Übersetzern dieses Artikels allerdings auffallen müssen, dass hier nicht etwa das laizistische dem republikanischen Frankreich in feindlichen Positionskämpfen entgegentrat (S. 65). Diese Kämpfe, politisch und geistig, führten Republikaner und Laizisten im Namen der Ideen von 1789 vielmehr gemeinsam gegen Klerikale und Monarchisten.

Nach diversen weiteren, hier nicht im Detail zu schildernden Fallstudien (u.a. zu intellektuellen Positionen nach dem Algerienkrieg, zu kommunistischen Übersetzern osteuropäischer Literatur in Frankreich und zum „deutsch-deutschen Literaturstreit“) klingt der Band mit etwas steifen Thesen aus – „die Bestimmung des Autonomisierungsprozesses des literarischen Feldes in Deutschland der letzten dreißig Jahre sollte sich auf einer Bestimmung des Verhältnisses zwischen literarischer Autonomisierung und literarischer Öffentlichkeit gründen“ (Heribert Tommek, S. 428). Dennoch ist Ingrid Gilcher-Holtey auf diesem Forschungsfeld eine anschlussfähige Demonstration des Bourdieu’schen Instrumentariums geglückt.

Anmerkungen:
1 Vgl. Noiriel, Gérard, Les fils maudits de la République. L’avenir des intellectuels en France, Paris 2005, Zitat S. 203.
2 Zum Typus des „Gelehrten-Intellektuellen“ in Unterscheidung zum „politischen Professor“ auch für die deutsche Geschichte siehe: Hübinger, Gangolf, Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen 2006, S. 227-247 (rezensiert von Roland Ludwig: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-093>).
3 Dazu jetzt: Collini, Stefan, Absent Minds. Intellectuals in Britain, Oxford 2006.

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