Im 16. Jahrhundert war die europäische Expansion im atlantischen Raum von den iberischen Mächten geprägt. Engländer und Franzosen unternahmen zwar eine Reihe von Handels-, Kaper- und Erkundungsfahrten in amerikanische Gewässer, sie sammelten und publizierten Berichte über die Neue Welt und konzipierten eigene Kolonialprojekte, doch die ersten dauerhaften englischen und französischen Siedlungen in Nordamerika – Jamestown und Quebec – entstanden erst 1607 bzw. 1608. Insofern lässt sich die Geschichte der Engländer und Franzosen in der atlantischen Welt des 16. Jahrhunderts wahlweise als Chronik des Scheiterns, als langwieriger Lernprozess oder als diskursive Vereinnahmung eines unbekannten Weltteils schreiben. All diese Perspektiven spielen in Simon Karstens’ Trierer Habilitationsschrift zwar eine Rolle; die Geschichte, die sie entfaltet, ist jedoch um einiges komplexer.
Dies liegt erstens daran, dass sich Karstens nicht auf die Handvoll bekannter Kolonialprojekte in Kanada, Virginia, Florida, Guyana und Brasilien beschränkt, welche die Historiografie bislang dominieren, sondern auch eine Reihe weniger prominenter – freilich in den Quellen auch meist schlechter dokumentierter – Unternehmungen einbezieht. Nimmt man das gesamte Spektrum kolonialer Initiativen in den Blick, erscheint nicht nur die Geschichte der Engländer und Franzosen im Atlantik, sondern auch „der Aufbau der iberischen Kolonialreiche […] wesentlich von Rückschlägen geprägt“ (S. 57).
Zweitens gilt das besondere Augenmerk des Verfassers den transnationalen Wechselwirkungen und Verflechtungen europäischer Kolonialprojekte, die sich gegenseitig beeinflussten und an denen häufig Akteure verschiedener Nationen teilnahmen. Der führende englische Kolonialpropagandist des elisabethanischen Zeitalters, Richard Hakluyt d.J., sammelte beispielsweise während seines Aufenthalts in Paris in den 1580er-Jahren gezielt Informationen über französische Handelsfahrten und Siedlungsprojekte und erlangte nicht zuletzt dadurch „eine Schlüsselposition für Wissenstransfers und für die Entstehung historiographischer Traditionen“ (S. 181). Auch in Hafenstädten wie Sevilla, Rouen oder Bristol kooperierten Handelshäuser, maritime und militärische Experten über nationale Grenzen hinweg. Um diese Verflechtungen zu unterstreichen, berücksichtigt Karstens neben England und Frankreich auch das Heilige Römische Reich deutscher Nation – nicht nur wegen des im Kontext der spanischen Eroberung zu verortenden Venezuela-Unternehmens der Augsburger Welser, sondern auch wegen des hohen Anteils, den Verleger wie Theodor de Bry an der Vermittlung zeitgenössischer Amerikabilder hatten. Aufgrund der vielfältig miteinander verschränkten Aktivitäten von Seefahrern, Kaufleuten und Publizisten unterschiedlicher Herkunft war die atlantische Welt laut Karstens bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts „zu einem multilateralen Handlungsraum geworden“ (S. 517).
Drittens misst der Autor – im Einklang mit der neueren ethnohistorischen Literatur – der Handlungsmacht indigener Akteure große Bedeutung bei: Er betont mehrfach, dass europäische Stützpunkte und Siedlungen in der Neuen Welt ohne die Kooperation lokaler indigener Gruppen nicht überlebensfähig waren, und hebt zu Recht hervor, dass sich indigene Gesellschaften oft schon zum Zeitpunkt der ersten dokumentierten Kontakte mit europäischen Händlern und Kolonisten „in einem langwierigen und komplexen Transformationsprozess“ befanden (S. 84). Ferner weist er auf die zahlreichen Fälle hin, in denen Indigene freiwillig oder gezwungenermaßen nach Europa reisten, wo sie als lebende Zeugen der Entdeckungsfahrten fungieren und zu kulturellen Vermittlern ausgebildet werden sollten. Indigene Lebensformen übten aber auch auf viele Europäer in der Neuen Welt beträchtliche Anziehungskraft aus, wie insbesondere die als truchements bezeichneten Franzosen zeigen, die als Händler, Dolmetscher und kulturelle Überläufer in Brasilien und Nordamerika in Erscheinung traten.
Viertens nimmt die Analyse der die Expansionsbestrebungen flankierenden Diskurse in dieser Studie breiten Raum ein. Karstens zufolge waren humanistische Kosmografen zwar bereit, antike Traditionen anhand neuer Informationen zu korrigieren, doch klaffte eine deutliche Lücke zwischen den Wissensbeständen der Gelehrten und jenen der Praktiker (Seeleute, Soldaten), die in der Regel nicht am humanistischen Diskurs teilnehmen konnten. „Koloniale Imaginationen“ seien zudem am Ende des 16. Jahrhunderts „sehr viel weiter fortgeschritten“ gewesen „als die praktische Umsetzung“ (S. 152). In Abgrenzung von Spanien entwickelten englische und französische Autoren eine eigene koloniale Identität, die sich aus Erzählungen über die Taten und Leistungen wagemutiger Seefahrer sowie aus der Erwartung einer glorreichen Zukunft speiste. So lässt sich etwa bei Marc Lescarbot im Jahre 1618 „eine umfassende, genuin französische imperiale Vision“ erkennen (S. 291).
Die Frage, wie das Scheitern kolonialer Projekte in den Quellen des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts erklärt und gedeutet wurde, diskutiert Karstens auf zwei Ebenen. Zum einen identifiziert er vier „Räume des Scheiterns“, denen die Autoren jeweils bestimmte Probleme zuordneten. In den Ursprungsländern der Kolonialprojekte interessierten sich die Monarchen allenfalls sporadisch für koloniale Unternehmungen, politisch einflussreiche Kreise lehnten diese ab, und die Financiers entzogen ihnen oft in kritischen Momenten die Unterstützung. Auf dem Atlantik stellten Naturgewalten und Piraten ständige Bedrohungen dar; Freibeuter- und Kaperfahrten erschienen einigen Akteuren zudem als attraktive Alternativen zum mühsamen Aufbau von Siedlungen in Amerika. In der Neuen Welt spielten Umweltfaktoren wie Klima, Nahrungs- und Wasserversorgung sowie das Verhalten lokaler indigener Gruppen eine zentrale Rolle, und innerhalb der Siedlungen wurden Macht- und Autoritätskonflikte, konfessionelle Spannungen (insbesondere in den französischen Kolonien der 1560er-Jahre), Angriffe europäischer Konkurrenten sowie die vermeintliche Illoyalität kultureller Grenzgänger als Ursachen des Scheiterns benannt. Als Argumentationsstrategien und Deutungsmuster der Autoren ermittelt Karstens zum anderen die Transzendierung konkreter Probleme durch Verweise auf den Willen Gottes, die Heroisierung von Führungspersönlichkeiten, die sich durch besondere Tugend und Tapferkeit ausgezeichnet hätten, und Schuldzuweisungen an innere Gegner wie an äußere Feinde. Eine wichtige Rolle spielte zudem die „argumentative Nutzung von Wissen als Mittel zur Ressourcengewinnung, Risikoverminderung und als Legitimationsgrundlage für den Aufbau künftiger Kolonialreiche“ (S. 488).
Die hier analysierten Dokumente liegen so gut wie vollständig ediert vor, und zu den behandelten Projekten existiert eine kaum überschaubare Spezialliteratur. Vor diesem Hintergrund besteht das Verdienst von Karstens’ Studie vor allem in ihrer Syntheseleistung: Sie bietet auf einer breiten Quellen- und Literaturbasis sowohl einen detaillierten Überblick über die gescheiterten Kolonialprojekte in der atlantischen Welt des 16. Jahrhunderts als auch eine differenzierte Darstellung der sie begleitenden Diskurse. Ihr wesentlicher Beitrag liegt darin, dass der Zeitraum zwischen 1492 und 1615 hier nicht nur als bloße Vorgeschichte der französischen und englischen Kolonialreiche in Amerika abgehandelt wird, sondern als eigenständige Epoche der atlantischen Geschichte zu ihrem Recht kommt.