Genauigkeit nervt. Rezensent:innen, die Tippfehler und Verschreiber auflisten, mögen zwar Recht haben, schreiben aber meistens am Punkt vorbei. Auch sonst ist Genauigkeit in der Wissenschaft eine ambivalente Sache. Für Außenstehende erscheinen manche disziplinären Praktiken der Genauigkeit geradezu skurril, und dass sie historisch kontingent sind, versteht sich von selbst. Dennoch sollte man Genauigkeit als epistemische Tugend keineswegs geradeheraus belächeln, sondern nach ihren Voraussetzungen, Funktionen und Implikationen fragen. In einem facettenreichen Bild von Genauigkeit in der Geschichte und Gegenwart ausgewählter Disziplinen liegt die Stärke dieser „Enzyklopädie“. Sie wirft zumeist gut geschriebene Schlaglichter auf die Herstellung und Darstellung von möglichst exaktem Wissen – und auf dessen Grenzen. Genauigkeit wird in den Kontext von Irrtümern, Störungen und Ungenauigkeiten gesetzt, weil erst diese es ermöglichen, Genauigkeit zu erkennen bzw. zu erreichen (Einleitung, S. 11).
Die 47 Beiträge selbst sind Miniaturen, vielfach mit Originalität und Witz verfeinert. Jeder dieser Texte könnte auch einen für sich stehenden Essay abgeben. Schon die Titel bringen dies zum Ausdruck: „Auf einen Blick“, „Autopsie und Augenlust“ bis hin zum „Zufall in Konserve“ verheißen nicht nur Belehrung, sondern auch akademisches Schreiben mit Unterhaltungswert. Vielfach wird elementar Wichtiges verhandelt: „Wie es eigentlich gewesen“ von Mitherausgeber Mario Wimmer rekonstruiert die Ursprünge und Wirkungen eines legendären geschichtswissenschaftlichen Axioms. Ein Schlüsselartikel ist „Genauigkeit“ von Markus Krajewski, ebenfalls Mitherausgeber, dessen Text man vor allen anderen lesen sollte.
Die Einträge sind im Schnitt ein Dutzend Druckseiten lang und wie das ganze Buch in Layout und Typografie ansprechend gestaltet. Das beginnt beim Schutzumschlag und der Titelillustration, die einen Stammbaum aller Wissenschaften und Künste aus der „Encyclopédie“ von Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d’Alembert zeigt. Das frühneuzeitliche Bild wissenschaftlicher Genauigkeit ist allerdings verkleinert und in den Farben so verfremdet, dass man jenseits des abstrakten Willens zur Systematisierung nichts mehr erkennt. Es symbolisiert den Wunsch nach Genauigkeit, verweigert sich aber genauer Betrachtung.
Abbildungen illustrieren manche Vorgänge und bekräftigen in schöner Anschaulichkeit die Argumente des jeweiligen Artikels – wobei sie manchmal leider fehlen, kurioserweise gerade beim Eintrag „Perspektive“. Vorbildlich visualisieren hingegen Lisa Cronjäger und Mitherausgeberin Antonia von Schöning ihr Thema der Diagramme („Auf einen Blick“): Dort können die Leser:innen durch entsprechende Farbreproduktionen nachvollziehen, warum Florence Nightingales berühmte Infografik von 1858 ihre Forderungen nach besserer Krankenpflege im Krieg visuell plausibel verstärkte. Demgegenüber produzierte die Werbeagentur Russell T. Gray 1939 nicht mehr nachvollziehbare Beziehungen zwischen Produkten und Verkaufsbranchen. Das Diagramm zeigt ein beinahe undurchdringliches Dickicht von schwarzen Linien; in der verkleinerten Reproduktion (S. 23) verdichten sich die Linien zu einem schwarzen Knäuel. Aber vermutlich war es auch schon im Original grafisch nicht mehr lesbar. Man könnte von einem informationellen Scheitern durch zu viel Exaktheit sprechen. Doch gegen oder jedenfalls ohne die Intention ihrer historischen Urheber erzählt die mutmaßlich missglückte Grafik etwas anderes: Werbung beschleunigt Interaktionen zwischen Produkten und ihren Adressaten in womöglich unüberschaubarer, im Detail nicht mehr nachvollziehbarer Weise. Das visuelle Rauschen, so die beiden Verfasserinnen, wird selbst zur Botschaft (S. 23).
Die Einträge des Bandes folgen einem einheitlichen Muster: Sie beginnen bei einem historischen Fallbeispiel und entwickeln von dort aus ihr Argument. Die Ansatzpunkte sind dabei oft ausgesprochen skurril. Felix Lüttge eröffnet seinen Text über das „Sezieren“ beispielsweise mit einer 1884 publizierten US-amerikanischen Regierungsbroschüre, einer Anleitung zur richtigen Konservierung und Beschreibung gestrandeter Wale. Lüttge zitiert deren vollständigen Titel geradezu genüsslich: „Suggestions to the Keepers of the U.S. Lifesaving Stations, Light-houses, and Light-ships; and to Other Observers, Relative to the Best Means of Collecting and Preserving Specimens of Whales and Porpoises“ (S. 441). Von dort aus geht es über die Pathologie des 19. Jahrhunderts weiter zum exakt normierten Telegrammstil bis hin zur Pariser Polizei. Auch sie übersetzte Körperzeichen zu Fahndungszwecken in exakte Ziffern. Man erkannte aber bald die praktische Wertlosigkeit solcher Verschlüsselungen: Die Exaktheit war für die Kriminalisten vor Ort nicht zu entschlüsseln.
Die epistemischen Parallelführungen zwischen Geistes- bzw. Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften sind ein roter Faden der „Enzyklopädie“. Wiederholt geht es um technikaffirmative Methoden der genauen Messung und Datenerfassung, die Grundlage auch geisteswissenschaftlicher Analysen sind. Wie die Naturwissenschaften haben die Geistes- und Sozialwissenschaften aber lernen müssen, dass das Streben nach letzter Genauigkeit manchmal den Erkenntnisgewinn behindern kann und Ungenauigkeit produktiv zu dulden ist. Für das Buch ist diese fachübergreifende Einsicht eine perspektivische Prämisse, und für die Einzelartikel bleibt sie darstellerisch eine Herausforderung. Denn die drei Herausgeber:innen – Markus Krajewski, Antonia von Schöning und Mario Wimmer – zielen erklärterweise (nur) auf „Funktionen und Wirkungen von Genauigkeit in den Geisteswissenschaften“ (S. 9). Auch der Entstehungskontext verortet den eigenen, kollektiven Standpunkt „ausgehend von der Medienwissenschaft im Verbund mit Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ (S. 541). Der Forschungszusammenhang ist ein in Basel und Zürich angesiedeltes Projekt (https://www.genauigkeit.ch), dessen Ergebnisse hier in unkonventioneller Weise präsentiert werden.
Diese Erläuterungen machen transparent, warum und welche Disziplinen prominent mit mehreren Artikeln vorkommen. Verschiedenen Ausschnitten der überaus gut vertretenen Kunstgeschichte widmen sich insbesondere die Einträge „Exemplifikation“, „Expressive Präzision“, „Farbtreue“, „Mythologische Genauigkeit“, „Passgenauigkeit“, „Pentimenti“, „Perspektive“, „Pointure“, „Polimentvergolden“, „Präzisionismus“, „Snapshot“, „Strenge Kunstwissenschaft“ und „Zufall in Konserve“. Der anschauliche Artikel „Elektrizitätszähler“ von Jonas Schädler überschreitet ebenso wie „Wetterprognose“ von Manuel Kaiser eigentlich die Selbstbeschränkung des Bandes auf Medien, Praktiken und Darstellungsweisen geisteswissenschaftlicher Genauigkeit. Demgegenüber gibt es keinen einzigen Artikel zur Jurisprudenz als dogmatischem Fach.1 Auch die Theologie fehlt (siehe aber eine Erwähnung auf S. 357, im Beitrag „Philologie“). Trotz der Erklärung, dass es eine Beschränkung auf die Geisteswissenschaften gibt – oder gerade deswegen –, vermisst man Autor:innen aus den Naturwissenschaften bzw. Einträge über diese. Ingenieur- und Naturwissenschaften sind ebenso wie die Medizin zweifellos historisch wichtig gewesen: erst für die Entstehung und dann für die in der Moderne gebrochene Ideologie von Genauigkeit.
Dennoch gibt es vielfach Artikel, die Schnittstellen zwischen den Disziplinen wunderbar sichtbar machen. Man erfährt viel über den Willen zur Genauigkeit, seine oftmals paradoxen Folgen und Repräsentationsformen: Statt Evidenz zu fördern, wird das Gegenteil erreicht. Exaktheit hat immer ihren Preis, sie produziert blinde Flecken. Erhellend sind die Rekurse auf belletristische Literatur, die Malika Maskarinec in ihrem Artikel „Beschreiben“ vornimmt. Nicht nur in Thomas Manns „Zauberberg“ wird der Mythos der Genauigkeit vorgeführt (im doppelten Sinne). Die Fixierung auf Norm und Abweichung, auf normiertes Fieber-Messen gerät zu einem leeren Ritual (S. 43). Die Gäste des Sanatoriums werden sechsmal am Tag je sieben Minuten lang auf ihre Körpertemperatur hin geprüft; eine „Kultur der Genauigkeit“ (S. 44) wird zelebriert, die als „Scharlatanerie“ in Wahrheit aber nur dazu dient, die Aufenthalte zu verlängern.
Zu fragen ist schließlich nach der Genauigkeit, mit der die Einträge selbst arbeiten. Einige der zitierten Websites wurden zuletzt im Dezember 2020 aufgerufen (S. 71), andere noch im Januar oder Februar 2021 (S. 353, S. 395). Sie stimmen also in ihrer Genauigkeitsnorm (fast) überein, während man das von den sonstigen Belegen nicht sagen kann. So halten es manche Autor:innen eher ungenau und geben bei einigen Werken als Fundstelle „Ohne Paginierung“ (S. 419) oder „unpag.“ (S. 538) an. So weiß man, dass man auf den bezifferten Seiten des Buches nicht suchen muss, sondern nur auf denen, die nicht paginiert sind. Freilich hätte es auch für diese Seiten die bibliografische Norm einer fiktiven Ersatz-Paginierung gegeben, die genauer gewesen wäre. Rätselhaft exakt ist der datierende Beleg, den Ralph Ubl in seinem Artikel über „Pointure“ für das „Dictionnaire de la langue française“ gibt (S. 369): „(1873/1873)“. Systematisch ungenaue Belege verwenden Gernot Waldner und Dominique Laleg, was somit Vorsatz und Motiv haben muss. Waldner schreibt über „Die Unmöglichkeit des Protokollsatzes“ und ist selbst ein unzuverlässiger Protokollant. In seinen „Nachweisen“ erscheinen 24 Titel, davon werden im Text aber nur 22 verwendet, einer davon mit abweichender Jahreszahl (Naess 1937 / Naess 1938). Wäre eine Veränderung der Überschrift zu „Weiterführende Literatur“ eine Umetikettierung, die den Einwand der Ungenauigkeit in der Bibliografie ausräumen würde? An keiner der Fundstellen wird ferner eine Seitenzahl angegeben. Auch bei Laleg sind sämtliche 16 Referenzen aus der Sekundärliteratur, davon zehn Bücher, im Text ohne Seitenzahl zitiert. Sind solche vagen Belege nur aus Sicht eines Juristen-Rezensenten anstößig ungenau? Lalegs Anschauungsobjekt im Beitrag „Perspektive“ ist übrigens das „Bedroom Ensemble“ von Claes Oldenburg (1963), dessen Pointe darin liegt, dass es die Perspektive selbst zum Thema macht – und welches Kunstwerk der Artikel nicht zeigt. Der Künstler wird bei seiner letzten Erwähnung im Text zu „Olbenburg“ umbenannt, wobei nicht auszuschließen ist, dass nach der bibliografischen Ungenauigkeit auch hier ein subversives Spiel mit orthografischer Genauigkeit getrieben wird. Ohnehin könnte man das als Rezensent nicht ernsthaft kritisieren, denn wer will im vorliegenden Kontext schon als pedantisch gelten (siehe oben)?
Alle Artikel sollen laut Vorgabe der Herausgeber:innen mit Empfehlungen enden (S. 12). Manche Verfasser:innen haben das so interpretiert, dass sie den Leser:innen die Lektüre jener Texte nochmals ans Herz legen, mit denen sich ihr Eintrag ohnehin beschäftigt (S. 291, S. 349, S. 479). Andere schicken uns zu den Schauplätzen ihrer Erzählungen und deren Protagonisten („Reisen Sie nach China“, S. 490). Ich bin dieser Aufforderung in einem Fall gefolgt und in den 8. und 9. Wiener Gemeindebezirk spaziert (17. Jänner 2022, 2 °C, strömender Regen). Dort habe ich mir wie empfohlen markierende Plaketten auf früheren Wohnorten von Kurt Gödel angesehen und bin trotz weiterer Hinzuziehung einer Karte des Kurt Gödel Research Center in der Theorie und Geschichte der wissenschaftlichen Genauigkeit nicht vorangekommen. Oder war dies exakt die Lektion des Artikels „Unvollständigkeit und Fiktion“, nämlich dass zwischen angeordneter Methode und tatsächlicher Erkenntnis nicht immer genaue Zusammenhänge bestehen?
Anmerkung:
1 Jannis Lennartz, Dogmatik als Methode, Tübingen 2017.