Die Geschichte von Opposition und Widerstand in der SBZ/DDR zählt gemeinhin zu jenen historischen Themen, die in den letzten Jahren besonders intensiv erforscht wurden. Dabei wird allerdings oft übersehen, dass sich die Forschungen zum einen thematisch auf die 1950er- und späten 1980er-Jahre und zum anderen auf relativ wenige Gruppen und Einzelpersonen beschränkten. Im Fokus stehen zudem häufig zentrale Ereignisse (1953, 1956, 1989), das konkrete widerständige, politisch-programmatische Handeln und die Reaktionen des SED-Staates, dabei zumeist wiederum konzentriert auf das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und die politische Strafjustiz. Die eher neben der empirischen Forschung geführten methodischen, theoretischen und begrifflichen Debatten haben sich überdies, soweit sie überhaupt „heruntergebrochen“ wurden, weitgehend auf die fünfziger bzw. achtziger Jahre bezogen.
In jüngster Zeit ist dieser Forschungsstand mehrfach kritisch konstatiert worden. An unterschiedlichen Forschungseinrichtungen sind neue Konzepte entwickelt worden, künftig Opposition, Widerstand und widerständiges Verhalten stärker aus der Gesellschaft heraus erklären, stärker als gesellschaftliches Interaktionsverhältnis zu erfassen und zu analysieren und so letztlich neue Bausteine für eine DDR-Gesellschaftsgeschichte zu liefern, ohne dass dabei das Besondere von Opposition und Widerstand in der kommunistischen Diktatur verloren gehe.1
Diese Um- und Neuorientierung der Oppositionsforschung hat mit der Studie von Babett Bauer einen kräftigen Anstoß erhalten. Aus einer system- und handlungstheoretischen Perspektive (Schütz/Luckmann, Luhmann, Bourdieu) argumentierend, versucht Bauer, individuelle Lebenserfahrungen aufgreifend, unterschiedliche Widerstandsmuster zu beschreiben, zu analysieren und zu typologisieren. Methodisch innovativ und anregend für die DDR-Forschung, bemüht sich die Autorin, Gesellschafts-, Politik- und Alltagsgeschichte mit individuellen Erfahrungen und individuell erfahrenen Erlebnissen zu einer Gesamtschau auf die DDR-Gesellschaft analytisch zusammen zu denken. Das klingt nicht nur sehr anspruchsvoll, sondern wird von Babett Bauer auch sehr anspruchsvoll auf einem hohen Niveau umgesetzt.
Die ersten fünf Kapitel der Arbeit (S. 11-92) sind dem Umstand zu danken, dass die Autorin diese beeindruckende Studie als Dissertation einreichte und so den üblichen Anforderungen Rechnung zu tragen hatte. Sie erklärt zunächst ihr Forschungsanliegen, geht dann auf die Quellen ein, erläutert anschließend ihre wissenschaftstheoretischen Bezugnahmen sowie die Methode ihrer eigenen empirischen Quellenerhebung (Oral History), skizziert die DDR-Gesellschaft aus systemtheoretischer Sicht und beruft sich dabei auf das Paradigma der Organisationsgesellschaft. Abschließend beschreibt sie das Wirken des MfS als politisches Instrument der SED-Herrscher. Das alles geschieht zwar überzeugend und kohärent, ist aber leider auch weitgehend überflüssig und offenbar dem Charakter der Arbeit als Dissertation geschuldet. Doch zeigen die folgenden fast 400 Seiten anschaulich, methodisch und theoretisch überzeugend, dass die Autorin anders als viele andere ihre methodischen und theoretischen Vorüberlegungen nicht nur vorgeschoben, sondern tatsächlich auch ein- und umgesetzt hat. Denn anders als in vielen anderen Graduierungsschriften zeigen die Kapitel 6 bis 8 auf eine sehr beeindruckende Weise, dass die Autorin den Forschungsstand produktiv zu nutzen, ihre vorgestellten Methoden anzuwenden und die von ihr bevorzugten Theorien analytisch einzusetzen weiß.
Den Kern der Studie bildet das Kapitel 6. Darin entwickelt Bauer fünf Typen, die unterschiedliche Sozialisationsmuster, Gesellschaftswahrnehmungen und Handlungsstrategien erfassen und verschiedene widerständige Verhaltensweisen charakterisieren. Die empirische Grundlage für Babett Bauers Studie bilden neben MfS-Unterlagen vor allem dreißig narrative Erinnerungsinterviews. Sie führte Gespräche mit zwanzig Frauen und zehn Männern, von denen etwa die Hälfte über einen Hochschulabschluss verfügte, die anderen fast durchweg mindestens Facharbeiterabschlüsse besaßen. Die Alterskohorte erweist sich als relativ breit und umfasst Geburtsjahrgänge zwischen 1933 und 1968. Die Interviewten stammen ausschließlich aus Sachsen, vorwiegend aus dem Chemnitzer Raum. Diese Beschränkung ist methodisch und empirisch einleuchtend. Bauers Studie bleibt – wiederum methodisch und theoretisch überzeugend dargelegt – keine regionalhistorisch argumentierende, sondern eine interpretatorisch auf die gesamte Gesellschaft zielende Arbeit.
Die fünf Typen, die Bauer entwickelt, sind am erfahrungsgeschichtlichen Horizont orientiert. Typus I ist familienbiographisch geprägt; Erfahrungen in und mit der NS-Diktatur bilden den Referenzrahmen: die SBZ/DDR wird als neue Diktatur empfunden, die Abkehr vom kommunistischen System ist im Elternhaus vorherbestimmt worden, der Ausstieg aus dem System ist zumeist radikal: die Flucht. Typus II beinhaltet ebenfalls ein frühes Diktaturbewusstsein, und ähnlich wie bei Typus I dominiert eine christliche/kirchliche Prägung. Typus II hat aber oft eine andere generationelle Prägung, weshalb diesem Typus zumeist jene entstammen, die in der DDR nonkonform oppositionell leben, denken und handeln. Anders als Typus I sucht dieser Typ nach widerständigen Gruppenzusammenhängen. Typus III und IV sind ideologisch und politisch eher ans System gebunden, erfahren Ausgrenzungen, ohne diese als systemtypisch zu deuten und versuchen auf unterschiedliche Weise, vom System wieder aufgenommen zu werden. Typus V schließlich umfaßt jene, die den Charakter des SED-System relativ früh erkennen und zu demonstrativen Oppositionsakten neigen. Während Typus III und IV Bindungskräfte an das System kennzeichnen, sind solche bei den anderen drei Typen nicht feststellbar. „Das in den Typen I, II und V erkennbar artikulierte, seit der Kindheit und frühen Jugend vorhandene Diktaturbewusstsein für die DDR findet sich bei den Typen III und IV nicht.“ (S. 442) Wesentlich für die Typen III bis V scheint, dass sie stark generationsabhängig sind, während I und II zwar auch generationell geprägt, aber davon nicht dominiert werden.
Babett Bauers Typen-Modell ist auch deshalb interessant, weil die Autorin wagemutig genug ist, eine Generalisierung auf einer dann doch relativ schmalen empirischen Basis zu versuchen. In Kapitel 7 und 8 fasst die Autorin ihre Ergebnisse zusammen, setzt die Typen ins Verhältnis zueinander und fragt – etwas unentschlossen – nach dem Platz der „Typen“ in der heutigen Gesellschaft. Das Buch lebt von der anschaulichen, zuweilen aber ausufernden Beschreibung der fünf Typen in Kapitel 6 und der kontrastierenden Typenzusammenfassung in Kapitel 7.
Babett Bauer hat ihrem Buch ein Motto vorangestellt, das nicht nur klug gewählt ist, sondern auch eine denkbare prinzipielle Kritik vorweg nimmt. Sie zitiert aus Jurek Beckers Roman „Der Boxer“ (1976) folgende Passage: „’Hör zu,’ sagt Aron diesmal, ‚du behauptest, du hast meine Geschichte aufgeschrieben, und ich behaupte, daß du dich irrst, es ist nicht meine Geschichte. Im günstigsten Fall ist es etwas, was du für meine Geschichte hältst.’“ Ja, Oral History muss man schon mögen, um das Buch restlos überzeugend zu finden. Denn so sehr die Typenbildung intellektuell anregend ist, so ermüdend ist der über 300 Seiten lange Hauptteil (Kapitel 6) auch. Jeder Typenbildung immanent ist der Umstand, dass die empirische Beweisführung, zumal auf Oral History fußend, eine Sowohl-als-auch-Stimmung innewohnt, die nicht immer Beliebigkeit ausspart und so letztlich komplexe Lebensentwürfe banalisiert. Mit anderen Worten: Auch wenn „uns“ nicht interessieren mag, ob die historisch handelnden Subjekte sich in „unseren“ Entwürfen noch wiederfinden können, die Hauptfrage jeder Typenbildung bleibt dann doch, ob sie in ihrer Einfachheit noch die Komplexität gesellschaftlichen Daseins abzubilden in der Lage ist. Erkenntnistheoretisch haben Typen dies ja nur begrenzt im Sinn, und zugleich wollen sie gerade unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten Allgemeines im Besonderen freilegen. Das ist Babett Bauer freilich gelungen. Wer sich denn durch ihre – Kritik sei erlaubt – zuweilen umständliche Sprache durchgearbeitet hat, der wird mit vielen neuen Einsichten, Kenntnissen und vor allem Erkenntnissen belohnt.
Babett Bauers Studie ist hervorzuheben und zu würdigen nicht wegen etwaiger neuer grundlegender empirischer Einsichten, sondern wegen ihres Theorie- und Methodenbewusstseins, das viele neue Anregungen bietet und als wegweisend gelten kann. Trotz vieler Kritik- und Nachfragepunkte im Einzelnen, stellt das Buch von Babett Bauer einen der wichtigsten Beiträge zur Oppositions- und Widerstandsgeschichte überhaupt dar.
Anmerkungen:
1 Am ZZF Potsdam ist ein Projekt entwickelt worden, das offenbar unter „Oppositionsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte“ firmiert. Unklar ist gegenwärtig, ob dieses Projekt aus finanziellen Gründen am ZZF Potsdam auch durchgeführt werden kann, vgl. Florath, Bernd; Gehrke, Bernd; Hürtgen, Renate, Klein, Thomas, Perspektiven künftiger Oppositionsforschung – ein Beitrag zur Diskussion, in: Deutschland Archiv 40(2007) 2, S. 301-306 (Zitat S. 302). In der Forschungsabteilung der BStU ist vom Verfasser ein Projekt unter dem Titel „Widerstand im Alltag – Alltag des Widerstandes“ konzipiert worden, das ähnliche Ziele verfolgt, vgl. dazu die knappe Projektskizze auf der Homepage: www.bstu.bund.de. Dieses Projekt basiert wiederum u.a. auf einem Datenerhebungsprojekt, das seit längerem betrieben wird, vgl. dazu: Kowalczuk, Ilko-Sascha; Teske, Regina, Unbekannter Widerstand. Politische Gegnerschaft in der DDR 1949 bis 1989 – Ein Datenprojekt, in: Deutschland Archiv 37(2005) 5, S. 839-845.