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Titel
Flaschenkinder. Säuglingsernährung und Familienbeziehungen in Deutschland und Schweden im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Limper, Verena
Reihe
Kölner Historische Abhandlungen
Erschienen
Köln 2021: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
532 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Neumaier, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Essen stillt nicht nur Hunger. Es ist überdies Ausdruck kultureller und sozialer Prägungen. Die historische Forschung hat diesen Zusammenhang diskutiert und herausgearbeitet, wie neben materiellen Bedürfnissen über das Essen soziale Ordnungen, Geschlechterrollen, Klassenstrukturen oder kulturelle Repräsentationen hergestellt wurden.1 Dabei blieb die Säuglingsphase (die ersten zwölf Lebensmonate) dezidiert ausgespart. Diesem Desiderat wendet sich Verena Limpers hervorragende Dissertation zu und fragt, wie sich „das Leben von Säuglingen und den Familien, die sie aufzogen und ernährten“ veränderte und welche Faktoren dazu beitrugen (S. 10f.). Limpers Untersuchungszeitraum spannt sich dabei über das gesamte 20. Jahrhundert und deckt geografisch Deutschland und Schweden ab.

Die Ernährung von Säuglingen war (und ist) insofern ideologisch aufgeladen, als die Frage „Stillen oder Flasche“ nicht nur auf der Basis medizinischer Kriterien entschieden wurde. Stets beeinflussten sie gesellschaftliche Vorstellungen zu Eltern-Kind-Beziehungen, sozialen Klassenlagen sowie Milieuzugehörigkeiten und Ansichten über Geschlechterrollen genauso wie die Expertenmeinungen von Kinderärzt:innen, Psycholog:innen und Ratgeberautor:innen oder die wirtschaftlichen Interessen von Lebensmittelkonzernen. Analytisch differenziert Limper zwischen den drei Perspektiven Wissensproduktion, Wissensvermittlung und Wissensanwendung und arbeitet ihre Bedeutung für die Verbreitung von Flaschennahrung schlüssig heraus. Als Hintergrundfolie dient die generelle Entwicklung der Stillquote. Zunächst stieg sie in beiden Ländern bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts an – auch, aber nicht nur, weil das Stillen gegenüber der Flaschennahrung als die „sichere“ Alternative galt und gestillte Kinder eine geringere Sterblichkeit aufwiesen. Erst Anfang der 1950er-Jahre war die Stillquote rückläufig und erreichte gegen Mitte der 1970er-Jahre ihren Tiefstand, als gut die Hälfte der Säuglinge mit Flaschenmilch ernährt wurde. Mittlerweile unterschied sich die Säuglingssterblichkeit von gestillten und mit der Flasche ernährten Kindern kaum noch. Gleichwohl entschieden sich in den 1970er-Jahren deutsche und schwedische Mütter wieder verstärkt für das Stillen, was sich allein mit physischen Gesundheitsrisiken nicht erklären lässt, wie Limper fundiert anhand von drei empirisch gesättigten Kapiteln darlegt.

Der erste Abschnitt „Produktion und Materialisierung von Wissen“ diskutiert, wie Wissenschaftler:innen versuchten, auf der Basis jeweils neuester naturwissenschaftlicher und medizinischer Erkenntnisse die Flaschennahrung zu optimieren, und Lebensmittelkonzerne daraus marktreife Produkte entwickelten. Im zweiten Kapitel analysiert Limper den Einfluss der Ratgeberliteratur auf das Ernährungswissen und wie darin zum Beispiel das Stillen als „‚Pflicht‘ der Mutter in eine ‚objektiv‘ bessere Option übersetzt“ wurde (S. 326). Gegenüber den vorangegangen chronologisch strukturierten Kapiteln legt das abschließende analytisch aufgebaute Kapitel „Anwendung und Aneignung von Wissen“ dar, wie die Wissensproduktion und Wissensvermittlung von Familien rezipiert und in konkrete soziale Praktiken überführt wurde. So bedienten sich Familien der Flaschennahrung zum Zufüttern, damit ihre Kinder bei der Gewichtszunahme die medizinisch vorgegebene Normkurve erreichten. Überdies fiel die Verantwortung für die Säuglinge über den gesamten Untersuchungszeitraum in den Verantwortungsbereich der Mütter – selbst wenn sich Männer ab den 1970er-Jahren zunehmend an Geburtsvorbereitungskursen beteiligten und während der Geburt im Kreißsaal anwesend waren.

Limpers Arbeit ist allerdings nicht nur an die Geschlechter- und Kindheitsgeschichte, sondern auch an die Sozial- und Familiengeschichte, die Medizin- und Körpergeschichte sowie die Wissenschafts- und Technikgeschichte und nicht zuletzt die Konsumgeschichte anschlussfähig. So diskutiert Limper unter anderem, wie die Bakteriologie an der Wende zum 20. Jahrhundert auf eine Pasteurisierung und Sterilisierung der Kuhmilch hinwirkte und wie das die daraus gewonnene Säuglingsnahrung veränderte. Schließlich ließen sich so Hygienestandards umsetzen (Abtötung von Keimen) und die Haltbarkeit der Milch verlängern. Parallel wurden die Körper der Säuglinge wissenschaftlich vermessen und so die kalorischen Nahrungsbedürfnisse bestimmt. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen bekamen die Säuglinge die entsprechende Menge an Flaschennahrung über die neu eingeführten zylindrischen Glasflaschen mit Maßeinteilung zugeführt. Als Experten traten zunächst insbesondere männliche Ärzte, Bevölkerungsstatistiker und Chemiker in Erscheinung, die bis zur Jahrhundertmitte mit ihrem in Universitäten, Kliniken und Laboren hergestellten Wissen die Körpervorstellungen und die Ernährungsmeinungen zu Säuglingen prägten. In den 1930er-Jahren kamen Säuglingsfürsorge- und Mütterberatungsstellen als weitere Orte der Wissensproduktion hinzu, die fortan über Kinderernährung berieten. Zugleich traten in dieser Zeit erstmals Expertinnen, wie Sozialarbeiterinnen und Kinderärztinnen, in Erscheinung.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts veränderte sich die ernährungswissenschaftliche Lehrmeinung, wie die chemischen und physikalischen Merkmale der Flaschennahrung idealerweise auszusehen hatten. Anfangs sollten die Eigenschaften der als Säuglingsnahrung vorgesehenen Kuhmilch an die der Muttermilch angeglichen werden. Ab den 1930er-Jahren sollte sich die Flaschennahrung wiederum ähnlich wie die Muttermilch verdauen lassen. In dieser Phase verbreitete sich zusehends industriell produzierte Flaschenmilch, die mit abgekochtem Wasser angemischt werden musste; zunächst in flüssiger Form und nach dem Zweiten Weltkrieg als Trockenpulver.

Zur massenweisen Verbreitung von Flaschennahrung ab den 1950er-Jahren trug schließlich ein neues Netzwerk aus Lebensmittelkonzernen, Pädiatrie und Krankenhäusern bei. Gerade letztere prägten die Auseinandersetzung um die Säuglingsnahrung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, da um 1950 mehr als 90 Prozent der Kinder in Krankenhäuser geboren wurden. In Krankenhäusern wurde die Flaschennahrung nicht nur beworben, unter anderem mit Probepäckchen, die den Eltern mit nach Hause gegeben wurden. Vielmehr wurden die Babys auch damit gefüttert, da sich dies besser in die Krankenhausabläufe einpasste und die dort über weite Teile des 20. Jahrhunderts praktizierte Trennung von Mutter und Kind den Aufbau einer funktionierenden Stillbeziehung erschwerte.

Limper verweist noch auf einen weiteren zentralen Faktor, der zum Rückgang der Stillquote beitrug: die zunehmende Erwerbsquote von Müttern. In Schweden war dies politisch gewollt, sodass die Flaschennahrung als „Emanzipationsmittel für Mütter“ galt (S. 175). In Deutschland kam es hingegen zu einer konträren Bewertung, da die durch Flaschenmilch ermöglichte Berufsarbeit von Müttern mit Säuglingen das Male-Breadwinner-Modell und die darauf aufbauenden familienpolitischen Leistungen herausforderte. So bekam in Westdeutschland der Ehemann die familienpolitischen Leistungen ausgezahlt; in Schweden gingen sie demgegenüber direkt an die Mütter. Demnach stand in Deutschland die Flaschennahrung quer zum politischen Geschlechterrollenleitbild, zumal in Westdeutschland bis 1976/77 im BGB die Hausfrauenehe festgeschrieben war.

Nachdem zunächst medizinisches Wissen die Debatten über die Säuglingsnahrung geprägt hatte, trat ausgehend von den USA zunächst in Schweden ab den 1940er-Jahren ein psychologisch geprägter Expertendiskurs hinzu, der in Deutschland gut zwei Jahrzehnte später ebenfalls neben den körperlich-physischen Faktoren die emotional-psychische Bedeutung der „richtigen“ Art der Kinderernährung betonte. Als sich die Säuglingssterblichkeit zwischen mit der Flasche ernährten und gestillten Kindern kaum noch unterschied, wurde ihre psychologische Entwicklung zu einem zentralen Marker, der mit bis heute praktizierten Konzepten, wie „Rooming-in“, „feeding on demand“ und „bonding“ verknüpft ist. Diese verweisen auf eine Agency der Säuglinge, die ihnen zuvor abgesprochen worden war. Indem eine stärker emotionale Mutter-Kind-Beziehung aufgebaut werde, fördere dies sowohl die physische als auch psychische Entwicklung der Säuglinge, lautete nun die leitende Lehrmeinung. Die mit der Flaschennahrung assoziierte räumlich-emotionale Distanz sei demgegenüber der Kindesentwicklung genauso abträglich wie die schlechtere Qualität der Flaschennahrung gegenüber der Muttermilch. Diese Ansichten ließen schließlich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die Stillquoten wieder steigen. Darüber hinaus hatte aber auch die Kritik der sog. Zweiten Frauenbewegung an der (noch) von Männern geprägten Pädiatrie und Gynäkologie einen wichtigen Anteil, zumal sie auch für eine „medikalisierte technische Herangehensweise an Geburt, Stillen und Kinderziehung“ standen (S. 206). Aber auch konservativ geprägte Stillgruppen, wie die La Leche League, sprachen sich gegen Flaschennahrung aus. An dieser Stelle verweist Limper darauf, dass Stillgruppen in Deutschland nicht nur als konservative Vereinigungen gelten können, da sich auch Vertreterinnen der Frauenbewegung zu ihnen zusammenschlossen. Die anhaltende Kritik an der Globalisierungsstrategie großer Hersteller von Flaschennahrung, die auf eine Expansion im Globalen Süden setzten, um ihre Gewinne zu steigern und dabei die Interessen von Säuglingen und ihren Müttern nicht berücksichtigten, arbeitet Limper als weiteren Faktor heraus, der zur Kritik an Flaschennahrung führte. Damit ist Limpers äußerst lesenswerte Studie ebenfalls für zukünftige Arbeiten zur Geschichte der Globalisierung, internationaler Wirtschaftsbeziehungen sowie des Verhältnisses zwischen Globalem Süden und Norden relevant.

Anmerkung:
1 Vgl. v.a. Jakob Tanner, Fabrikmahlzeit. Ernährungswissenschaft, Industriearbeit und Volksernährung in der Schweiz, 1890–1950, Zürich 1999; Maren Möhring, Fremdes Essen. Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland, München 2012; aber auch bei Vera Hierholzer, Nahrung nach Norm. Regulierung von Nahrungsmittelqualität in der Industrialisierung 1871–1914, Göttingen 2010; Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018.