M. Lemke (Hrsg.): Schaufenster der Systemkonkurrenz

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Titel
Schaufenster der Systemkonkurrenz. Die Region Berlin-Brandenburg im Kalten Krieg


Herausgeber
Lemke, Michael
Reihe
Zeithistorische Studien 37
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ingo Materna, Berlin

Michael Lemke hat bereits vor 10 Jahren in seinem Buch über „Die Berlinkrise 1958 bis 1963“ (Berlin 1995) seine Sicht auf die „sperrige Nachkriegsgeschichte“ vorgetragen und versucht, mit einem differenzierten Geschichtskonzept „die geteilte und zusammengehörige Geschichte“ (so Christoph Kleßmann) zusammenzubringen. Im Kalten Krieg der antagonistischen Systeme bildeten die deutschen Staaten einen Schnittpunkt, in der gespaltenen Stadt Berlin eine besonders strukturierte Region, zwei „Schaufenster“, in denen sich die „Systemkonkurrenz“ fokussierte. Diesem Konzept folgen die im vorliegenden Sammelband zusammengefügten Aufsätze von 20 Autoren mit 17 Beiträgen, alle jeweils etwa 20 Seiten. Nach Lemkes Einleitung, die das Konzept vorstellt und die Bedeutung von Berlin-Brandenburg als besonderes „Verflechtungs- und Teilungsgebiet“ unterstreicht, folgen drei Komplexe: A. Politik; B. Wirtschaft und Soziales; C. Kultur und Alltag.

Aus dem ersten Block sei der Beitrag von Gerhard Wettig (S. 47-64): „Ulbricht, die UdSSR und die Vier-Mächte-Rechte in Berlin 1963-1971“ hervorgehoben.1 Er geht auf die widersprüchlichen Berlin-Regelungen der Alliierten von 1945 zurück, die dann im Kalten Krieg Kernpunkt der Auseinandersetzungen, der Konfrontationen wurden und in der zweiten Berlin-Krise (1958-1963) erneut in einen militärischen Konflikt umzuschlagen drohten, dann aber durch die letztlich immer bestimmenden Großmächte zu einer Periode einer gewissen „Konfliktfreiheit“ führten und im Berlin-Abkommen 1971 mündeten, trotz gewisser Sonderbestrebungen der DDR. Diese sollte zwar nach Ulbrichts Vorstellung von 1958 „Schaufenster des sozialistischen Lagers gegenüber dem Westen“ werden, was bekanntlich auch nach dem vermauerten Blick nach Ost-Berlin 1961 misslang.

Die Beiträge von Matthias Uhl: „Chruscev und die sowjetischen Nachrichtendienste in der zweiten Berlin-Krise“ (S. 29-45) und Christopher Winkler: „Die U.S. Military Liasion Mission im Vorfeld der 2. Berliner Krise. Der Hubschrauberzwischenfall von 1958“ beziehen sich zwar in gewisser Weise auch auf die Region, geben aber für die Problematik „Systemkonkurrenz“ weniger her. Der Rückgriff auf die Stalinschen Geheimdienste bei Uhl und die Auseinandersetzung um die Notlandung eines US-Hubschraubers im DDR-Bezirk Karl-Marx-Stadt im Juni 1958 bei Winkler erscheinen doch etwas weit hergeholt. Daniel Schwane stellt in seinem Aufsatz: „’Das Laboratorium’ West-Berlin“ den Journalisten Hansjakob Stehle vor (S. 85-106), der eine bedeutende Rolle in den Passierschein-Verhandlungen 1962/63 spielte und mit dazu beitrug, dass der Übergang zur Politik des „Wandels durch Annäherung“ (Brandt/Bahr) erste positive Resultate, primär für die West-Berliner, brachte.

Den „politischen Block“ beschließt die Untersuchung von Christian Halbrock: „Staatsgrenzen sind keine Kirchengrenzen - die evangelische Kirche Berlin-Brandenburg im Kalten Krieg“. (S. 107-129). Der Titel verrät die unterschiedlichen Positionen der DDR-Politik der Ausgrenzung und Diffamierung einerseits und der angestrebten Rolle der Kirche als „Wächteramt zu Lebensfragen“ andererseits. Unter Leitung von Bischof Dibelius traf die Kirchenleitung auch Trennungsschritte, z.B. gegen Pastoren wegen ihrer „Parteinahme zugunsten der SED“. Man vermißt (in fast allen Beiträgen übrigens) die Rolle der CDU (Ost) in dieser Problematik. „Ex oriente lux“?

Harald Engler entwirft in seinem Aufsatz „Wirtschaftliche Systemkonkurrenz im Verflechtungsraum Berlin - Brandenburg während des Kalten Krieges 1945-1961“. Fragestellungen und Forschungsperspektiven (S. 129-144), die er für fruchtbar hält, wenn sie „nicht die Perspektive einer bloßen Desastergeschichte der DDR-Wirtschaftsentwicklung einnimmt, sondern die ökonomischen Transformationsvorgänge in beiden Teilen Berlins und des brandenburgischen Umlandes offen analysieren will“ (S. 131). Trotz der prinzipiellen Unterschiede und Gegensätze zwischen Marktwirtschaft und Planwirtschaft gab es „einige gemeinsame Phänomene“. Dazu zählt für beide „Schaufenster“ des jeweiligen Systems, dass sie „ in erheblichem Maße subventioniert wurden“ (S. 139f.).

Wirtschaftliche, soziale und politische Probleme bündeln sich im Thema „Flüchtlinge - Vertriebene - Displaced Persons“, deren „Aufnahme, Weiterleitung bzw. Eingliederung in Berlin und Brandenburg bei Kriegsende 1945“ untersucht Wolfgang Ribbe (S. 145-162). Das katastrophale Erbe des verbrecherischen Krieges traf Stadt und Provinz – noch ungespalten – in gleicher Weise. Noch war die von den Alliierten beschlossene Grenzziehung mit allen Folgen, die auch die Abtrennung der östlichen Kreise Brandenburgs einschloß, nicht Kernpunkt der „Systemkonkurrenz“ im Kalten Krieg. Die Last für die Bewältigung des Chaos trugen vor allem jene, die an dessen Zustandekommen die geringste Schuld trugen. Schließlich boten die „Schaufenster“ in beiden deutschen Staaten auch in dieser Frage ein durchaus unterschiedliches Bild.

Eine Berlin-spezifische Gruppe von „Geschädigten“ ist Gegenstand der Untersuchung von Frank Roggenbuch in der kurzen Zeit der Doppelwährung in der Westsektoren (Juli 1948 bis März 1949; S. 163-183). Friederike Sattler schildert, wie die scheinbar „systemfremde“ Industrie- und Handelskammer Brandenburg trotz allem die DDR-Planwirtschaft überlebte (S. 185-206). Für die „Anmerkungen zur Wohnungs- und Städtebaupolitik in Berlin - Brandenburg seit 1949“ wählten Harald Michel und Volker Schulz den charakterisierenden Titel „Von der ‚Stalinallee’ zur DDR-Plattenbausiedlung“ (S. 207-224). Dieses „Schaufenster“ ist in seiner Gestaltung in den baulich-räumlichen Hinterlassenschaften bis heute dauerhaft einsehbar. Es zeugt in unterschiedlichen Phasen vom Bestreben der DDR-Sozialpolitik, die Wohnungsnot zu beseitigen und eine sozialistische Lebensweise herauszubilden: ehrgeizige Programme, die wegen der immer knapperen wirtschaftlichen Ressourcen nicht durchzusetzen waren. Die „Systemkonkurrenz“, den Vergleich zu West-Berlin vermisst man. Vernachlässigt werden die neuen Bedingungen für Planen und Bauen, die durch die Kriegszerstörungen und die veränderten Eigentumsverhältnisse (im Osten) gegeben waren.

Von der „mehrdimensionalen „Systemkonkurrenz“ zeugen zwei Aufsätze zur Gesundheitspolitik: Andreas Malycha und Udo Schagen untersuchen die Auseinandersetzungen an der Medizinischen Fakultät der Berliner Universität 1945 bis 1948 (S. 225-245), die vor allem wegen der Besetzungs- und Zulassungspolitik schließlich zur Bildung der „Konkurrenz“-Universität, der Freien Universität Berlin, führten. Melanie Arndt gibt einen Überblick über „Die Entwicklung der Berliner Polikliniken und Ambulatorien 1948 - 1961“ (S. 247-268) und arbeitet die unterschiedlichen Entwicklungslinien in Ost und West heraus.

Der Komplex C - Kultur und Alltag wird von Michael Lemke mit dem „Sängerkrieg“ in Berlin eröffnet. (S. 269-295). Im Prinzip und im Detail (die „Fälle Klose und Kleiber“ zum Beispiel) standen sich konträre Konzepte und echte Konkurrenzen gegenüber, Kalter Krieg und internationale Konflikte fanden auf beiden Seiten ihre Entsprechungen im kulturellen Leben der Stadt, das aber immer wieder Berührungspunkte und gemeinsame Seiten zeigte. Ähnliches äußert Siegfried Lokatis über das „Berliner Buchschaufenster im Kalten Krieg“ (S. 297-316): Der wachsende staatlich geförderte „Volksbuchhandel“ und die schwindende Zahl Privatbuchhändler im Osten steht dem privatwirtschaftlich organisierten Buchhandel im Westen gegenüber. Der „Schaufenster“-Blick ist jedoch auf das relativ attraktive Ost-Fenster konzentriert.

Mit dem Buchtitel „Der geteilte Himmel“ (Christa Wolf 1962) ist der Beitrag von Igor J. Polianski überschrieben, der „Fledermäuse, Ruinen, Planetarien: zur politischen Semantik der Berliner Stadtlandschaft im Kalten Krieg“ (S. 317-342) behandelt und den Differenzierungsprozeß Ost - West selbst der „naturalen Sinnwelten“ an unterschiedlichen Konzepten für die Stadt- und Landschaftsgestaltung zeigt. Trotz allgegenwärtiger politischer Konfrontation entdecken Jutta Braun und René Wiese im „Duell an der Spree - Sportkultur und Sportverkehr in Berlin (1949-1961)“ eine „blühende Parallelkultur in beiden Stadtteilen“ (S. 343-364). 2 Berlin blieb bis zum Ende der Zweistaatlichkeit eine „umkämpfte Arena des politisch-symbolischen Wettstreits“ und der Sportenthusiasmus war ein „national verbindendes Element in der Epoche der Teilung“ (S. 344).

Der Vergleich der „Berliner Radioprogramme in der Systemkonkurrenz“, den Christian Könne in seinem Aufsatz „Hörfunk im Kalten Krieg“ zieht (S. 365-387) unterstreicht natürlich die Unterschiede in der politischen Ausrichtung, zugleich aber auch ähnliches Herangehen an die Gestaltung der Hörprogramme. Am Beispiel „meistgehörter Sendungen“ wie „Internationaler Frühschoppen (W. Höfer) oder „Professorenkollegium“ (H. Jacobus), auch Unterhaltungssendungen wie „Von 7 bis 10 Sonntagmorgen in Spreeathen“ wird das breite Interesse an niveauvollen Sendungen beidseitig betont und - wie in allen Beiträgen des Bandes – die Argumentation und das Vokabular des Kalten Krieges vermieden. Dies ist im Konzept „Schaufenster der Systemkonkurrenz“ eingeschlossen, auch wenn im Kalten Krieg eher weitaus schärfere Kennzeichnungen angebracht scheinen.

Das „Westfenster“ erstrahlte im (kalten) Neonlicht; das Ostfenster versprach „Immer heller durch NARVA“, konnte aber schließlich die Stromrechnung nicht mehr bezahlen. - Die Region Berlin-Brandenburg erweist sich für das Forschungsprojekt als besonders geeignet. Der Band gibt manche Anregung für weitere vergleichende Studien; er wird keine Massenwirksamkeit erreichen; was zu wünschen ist, er möge in Tendenz und im Detail durch Multiplikatoren in den fortdauernden Auseinandersetzungen über die jüngste deutsche Geschichte befruchtend wirken und zu ihrem besseren Verständnis beitragen.

Anmerkung:
1 Ausführlich jetzt in: Chrustschows Berlin - Krise 1958 bis 1963, Berlin 2006.
2 Ausführlich dazu: Die Sportstadt Berlin im Kalten Krieg. Prestigekämpfe und Systemwettstreit, Berlin 2006.

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