Cover
Titel
Eine Seuche regieren. AIDS-Prävention in der Bundesrepublik 1981–1995


Autor(en)
Haus-Rybicki, Sebastian
Reihe
Histoire 184
Anzahl Seiten
411 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Adrian Lehne, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Die Literatur- und Medienwissenschaftlerin Brigitte Weingart beschrieb in ihrem 2002 erschienenen Buch die diskursive Verhandlung von AIDS als eine Krankheit der „Anderen“. Mit dem Thema AIDS, so Weingart, verständige sich die Gesellschaft neu über Grenzen: „Es geht dabei um Körpergrenzen, um soziale Grenzen, Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen [...].“1 Aus dieser Perspektive sah sie HIV/AIDS in einem Kontext mit älteren Epidemien und Infektionskrankheiten, etwa der Pest. Nicht zuletzt die SARS-CoV-2-Pandemie hat erneut Interesse für die Geschichte von HIV/AIDS geweckt und den Forschungsbedarf sichtbar gemacht.2 Die historische Forschung zu HIV/AIDS befindet sich zumindest für den deutschen Kontext noch in ihren Anfängen.3 Als erste Monografie legte Henning Tümmers 2017 eine Studie zur Entwicklung der AIDS-Politik in der Bundesrepublik und der DDR vor. Diese zeichnet besonders die Debatten zwischen politischen Akteuren sowie die Rolle von wissenschaftlicher Expertise nach.4

Das Erkenntnisinteresse von Sebastian Haus-Rybicki in seinem Buch „Eine Seuche regieren“, das auf einer 2019 an der Philipps-Universität Marburg eingereichten Dissertationsschrift basiert, schließt hieran an, geht aber über den bisherigen Stand der Forschung weit hinaus. Die Geschichte der Aidsprävention eigne sich, so Haus-Rybicki, als ein Zugang für die Analyse allgemeiner politik- und kulturhistorischer Veränderungen im späten 20. Jahrhundert. Um das zu begründen, fokussiert er zwei Hauptbetroffenengruppen: Drogenbenutzer:innen und schwule Männer. Weiter untersucht er aber auch die Rolle der AIDS-Selbsthilfebewegung und deren Interaktion mit staatlichen Stellen. Dabei bleibt das Buch nicht nur auf der Bundesebene, sondern bezieht Frankfurt am Main als einen lokalen Fokus systematisch mit ein. Haus-Rybicki wählte diese Stadt insbesondere aufgrund ihrer seit den 1970er-Jahren im Bundesvergleich großen Anzahl an Heroinkonsument:innen und der damit beobachtbaren Wechselwirkung zwischen Drogenpolitik und AIDS-Prävention. Untersucht wird der Zeitraum seit der ersten Beschreibung von AIDS in den USA 1981 bis zur Verfügbarkeit von hochaktiven Kombinationstherapien Mitte der 1990er-Jahre.

Der Autor stützt sich auf einen breiten Quellenbestand. Neben Akten aus dem Bundesarchiv und dem Frankfurter Stadtarchiv bezieht Haus-Rybicki das sehr heterogene Quellenmaterial der Schwulenbewegung, Zeitungen und Zeitschriften sowie Materialien der Deutschen AIDS-Hilfe ein. Das Buch ist chronologisch angelegt; es beschreibt drei Phasen des Umgangs mit HIV/AIDS in der Bundesrepublik. Die acht Kapitel legen jeweils den Schwerpunkt auf eine der Hauptbetroffenengruppen oder auf die Politik in Frankfurt am Main.

Im ersten Teil „Eine Krankheit der Anderen (1981–1986)“ zeichnet Haus-Rybicki nach, wie HIV/AIDS in den Debatten der Bundesrepublik ankam. Das erste Kapitel zeigt, wie AIDS zunächst als eine Krankheit schwuler Männer verhandelt wurde. Diese sahen in AIDS anfangs nicht nur eine gesundheitliche, sondern auch eine politische Gefahr, eine Bedrohung der in den 1970er-Jahren erlangten Freiheiten. Gleichzeitig wurden in den Landesministerien klassische Mechanismen der Seuchenhygiene diskutiert, die sich aber nicht durchsetzen konnten (S. 74). Im folgenden Kapitel beschreibt Haus-Rybicki die Formierung der AIDS-Hilfen durch schwule Männer. Die neuen Organisationen traten selbstbewusst gegenüber staatlichen Stellen auf, suchten aber auch die Zusammenarbeit mit ihnen (S. 115f.). Das heterosexuelle Ausbreitungsszenario, das ab 1985 in den Debatten Wirkmächtigkeit erlangte, führte dazu, dass sich HIV/AIDS „endgültig im öffentlichen Problembewusstsein“ etablierte (S. 164). Kapitel 3 beschreibt, wie sich eine auf Eigenverantwortlichkeit und Kooperation mit den Betroffenen ausgerichtete Präventionspolitik durchsetzen konnte. Haus-Rybicki bezeichnet diese durch Bundes- und Landesregierungen, AIDS-Hilfe, medizinische und sozialwissenschaftliche Expert:innen getragene Politik als liberalen AIDS-Konsens. Dass dieser jedoch nicht ohne Widersprüche war, zeigt der lokale Blick der Studie. Frankfurt am Main setzte zunächst insbesondere gegenüber Drogennutzer:innen auf Zwang und Kontrolle (S. 165).

Die diskursive Verdichtung um HIV/AIDS in den Jahren 1987 bis 1989 ist Thema des zweiten Teils und mit „Ausnahmezustand“ überschrieben. Kapitel 4 geht darauf ein, wie der liberale AIDS-Konsens in konservativen Kreisen auf Widerstand stieß. Vornehmlich bayerische Landespolitiker der CSU sahen in der AIDS-Bekämpfung ein Vehikel für eine konservative Gesellschaftspolitik. Diese Bestrebungen mündeten mit der Verabschiedung des sogenannten Bayerischen Maßnahmenkatalogs gegen AIDS in dem Ausstieg der bayerischen Landesregierung aus dem liberalen AIDS-Konsens. Haus-Rybicki sieht als Resultat der Kontroversen um diesen Maßnahmenkatalog letztlich aber eine Stabilisierung des Konsenses (S. 210). Kapitel 5 zeigt, wie „Safer Sex“ und „Safer Use“ als Umsetzung der liberalen AIDS-Politik von staatlichen Stellen und Betroffenengruppen vorangetrieben wurden (S. 264).

Der letzte Abschnitt des Buches beschäftigt sich mit der „Normalisierung von AIDS“ in den Jahren 1989 bis 1995. Die Entdramatisierung der Krankheit in der breiteren Öffentlichkeit und der zunehmend routinemäßige Umgang mit AIDS ab Ende der 1980er-Jahre ist Kern des sechsten Kapitels. In Kapitel 7 diagnostiziert Haus-Rybicki für diese Zeit eine zunehmende Politisierung von HIV-positiven Menschen und gleichzeitig eine nachlassende Resonanz in der Schwulenbewegung für den AIDS-Aktivismus (S. 320f.). Am Beispiel der Stadt Frankfurt am Main erläutert er in Kapitel 8 den nicht immer konsequenten und widerspruchsfreien drogenpolitischen Wandel (S. 362f.).

Am Ende der Studie hält Haus-Rybicki mehrere zentrale Erkenntnisse fest. Er sieht in der AIDS-Prävention zwar eine langfristige Wirkung der Liberalisierungsprozesse der „langen“ 1960er-Jahre, beschreibt aber auch die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit im Handeln besonders staatlicher Akteure und die auffällige Bereitschaft, „die Gesundheit der Mehrheit durch die Kontrolle der Minderheit durchzusetzen“ (S. 366). Ein weiteres Ergebnis besteht in der Transformation des Regierens bestimmter sozial- und gesundheitspolitischer Probleme, die im Kontext von AIDS bedeutsam wurde, zum Beispiel die Regulation von Drogennutzung und Sexarbeit (S. 370).

In zwei wichtigen Punkten hebt sich diese Studie von der bisher vorliegenden Literatur ab. Haus-Rybicki legt einen Fokus auf die Drogennutzer:innen als eine Betroffenengruppe, die in der geschichtswissenschaftlichen Literatur bisher fast unsichtbar geblieben sind. Damit schafft er es, das bislang auf schwule Männer ausgerichtete Narrativ von HIV/AIDS in der Bundesrepublik aufzubrechen. Zugleich zeigt die Studie den Einfluss der AIDS-Politik auf die Drogenpolitik der Bundesrepublik. Das mehrfache Wechseln der Leitprinzipien der Drogenpolitik zwischen Schadensbegrenzung und Abstinenz verkompliziert zudem die Geschichte einer liberalen AIDS-Politik der Bundesrepublik. Darüber hinaus werden Drogenbenutzer:innen und deren Selbsthilfeorganisation – die Initiative JES (Junkies, Ehemalige, Substituierte) – als handelnde Akteure im Kontext von HIV/AIDS zum ersten Mal in einer geschichtswissenschaftlichen Untersuchung berücksichtigt.

Auch der lokale Blick ist instruktiv. So gelingt es dem Autor, bundes- und landes- bzw. kommunalpolitische Auseinandersetzungen zu verweben. Bereits das Bundesseuchengesetz, der Vorgänger des in auch in der SARS-CoV-2-Pandemie wichtigen Infektionsschutzgesetzes, wies den Kommunen entscheidende Kompetenzen bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten zu. Die Stadt Frankfurt am Main verfolgte Mitte der 1980er-Jahre eine besonders restriktive AIDS-Politik. Haus-Rybicki kann zeigen, wie sehr lokales Vorgehen von den bundes- und landespolitischen Vorgaben abweichen, eigene Dynamiken entwickeln und die Lebensrealität der Betroffenen entscheidend beeinflussen konnte.

Die Stärke der Studie liegt schließlich darin, die Betroffenengruppen ernstzunehmen und ihnen in der Interaktion mit staatlichen Stellen Agency zuzusprechen. So kann der Verfasser das Beziehungsgeflecht zwischen Betroffenen, Bewegungsakteur:innen und staatlichen Stellen ausleuchten. Präventionspolitik gerät nicht eindimensional als Handeln und Re(a)gieren politischer Akteur:innen in den Blick, sondern als Zusammenwirken der unterschiedlichen Gruppen. Durch die Konzentration auf zwei Hauptgruppen und auf Frankfurt am Main fehlen allerdings auch Aspekte der AIDS-Politik, etwa die Versäumnisse der Prävention von HIV/AIDS bei Menschen mit Hämophilie und der daraus folgende „Bluterskandal“ oder die Rolle, die München für die Entwicklung der bayerischen AIDS-Politik einnahm.

Sebastian Haus-Rybicki hat eine überzeugende, anregende und sehr gut lesbare Arbeit vorgelegt. Der Fokus auf die Auseinandersetzung mit HIV/AIDS liefert ein komplexes Bild der Gesellschaft und Politik der Bundesrepublik, ihrer Ein- und Ausschlüsse sowie ihres Wandels im Zeitraum 1981 bis 1995.

Anmerkungen:
1 Brigitte Weingart, Ansteckende Wörter. Repräsentationen von AIDS, Frankfurt am Main 2002, S. 21.
2 Vgl. u.a. Norbert Frei, Vorläufig, in: Süddeutsche Zeitung, 30.12.2020; Forum: Corona-Lektüre – Henning Tümmers über Susan Sontag, in: H-Soz-Kult, 15.04.2020, https://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-4970 (05.05.2021); Forum: Zeiterfahrung und Geschichte. Wie ändert die Corona-Pandemie unseren Blick auf die Vergangenheit?, in: H-Soz-Kult, 27.11.2020, https://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-5076 (05.05.2021).
3 Vgl. u.a. für die Schwulen- und die Hurenbewegung: Magdalena Beljan, Rosa Zeiten? Eine Geschichte der Subjektivierung männlicher Homosexualität in den 1970er und 1980er Jahren der BRD, Bielefeld 2014; Sebastian Haunss, Identität in Bewegung. Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung, Wiesbaden 2004; Mareen Heying, Huren in Bewegung. Kämpfe von Sexarbeiterinnen in Deutschland und Italien, 1980 bis 2001, Essen 2019. Vgl. für emotions- und diskursgeschichtliche Ansätze u.a.: Magdalena Beljan, Unlust bei der Lust? AIDS, HIV und Sexualität in der BRD, in: Peter-Paul Bänziger u.a. (Hrsg.), Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität in Deutschland seit den 1960er Jahren, Bielefeld 2015, S. 323–345; Peter-Paul Bänziger, Vom Seuchen- zum Präventionskörper? Aids und Körperpolitik in der BRD und der Schweiz in den 1980er Jahren, in: Body Politics 2 (2014), Heft 3, S. 179–214, http://bodypolitics.de/de/wp-content/uploads/2015/07/Heft_3_09_baenziger_aids_End.pdf (05.05.2021); ders., Konstellationen und Koalitionen im Sprechen über Aids in den 1980er Jahren, in: Achim Landwehr (Hrsg.), Diskursiver Wandel, Wiesbaden 2010, S. 31–51.
4 Henning Tümmers, AIDS. Autopsie einer Bedrohung im geteilten Deutschland, Göttingen 2017; rezensiert von Zülfukar Çetin, in: H-Soz-Kult, 29.05.2018, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-25306 (05.05.2021).