Anzuzeigen ist eine schmale, aber thesenstarke und sehr lesenswerte Untersuchung zur amerikanischen Außenpolitik der 1940er-Jahre. In seiner 2015 als Dissertation an der Columbia University in New York angenommenen Studie sucht Stephen Wertheim nach dem Ausgangspunkt für die globale militärische Dominanz der USA in der Gegenwart, und er findet ihn mit beachtlicher Bestimmtheit in den Reaktionen der außenpolitischen Eliten Washingtons auf den deutschen Sieg über Frankreich im Sommer 1940. Innerhalb einer verblüffend kurzen Zeitspanne und mit Konsequenzen bis auf unsere Tage, so lautet die zentrale These, habe sich hier das Selbstverständnis der USA als unverzichtbare Garantiemacht der internationalen Ordnung ausgebildet. Weder der Angriff auf Pearl Harbor noch der Kalte Krieg oder sein Ende 1989/91 hätten in vergleichbarer Weise zu einer Neubestimmung der amerikanischen Außenpolitik geführt, sondern jeweils nur den 1940/41 gefundenen Konsens über die Notwendigkeit einer Weltmachtrolle der USA bestätigt.
Für Wertheim liegt in der geringen Reflexion über diese Richtungsentscheidung ein wesentlicher Schlüssel, um die imperiale Überdehnung der USA und die inneren wie äußeren Anfechtungen der Pax Americana im 21. Jahrhundert zu erklären. Damit ist zugleich angedeutet, dass es ihm neben dem historischen Interesse auch um ein politisches Anliegen geht. Als Mitbegründer des überparteilichen „Quincy Institute for Responsible Statecraft“, welches für eine Neubestimmung und vor allem Entmilitarisierung der US-Außenpolitik eintritt1, zählt Wertheim zu den entschiedenen Kritikern der „endless wars“, in die sich die USA seit über zwanzig Jahren und mit kaum noch greifbaren Erfolgsbedingungen vor allem im Nahen und Mittleren Osten verstrickt haben. Doch wer angesichts dessen eine eher präsentistisch angehauchte Studie aus dem Bereich der Politikberatung erwartet hat, wird angenehm überrascht. Wertheim, der auch mit wichtigen Aufsätzen zur US-Völkerbundpolitik hervorgetreten ist2, hat eine respektable historische Arbeit vorgelegt, welche mit rund 180 Textseiten zwar von schlanker Gestalt ist, aber ein starkes Rückgrat aus archivalischen Quellen besitzt. In fünf Kapiteln entfaltet Wertheim seine Überlegungen, wobei er sich vorrangig auf die Debatten und Aktivitäten im schmalen Kreis der „foreign policy elite“ (S. 7f.) Washingtons konzentriert. Damit gemeint sind jene Männer und (wenigen) Frauen im Geflecht der außenpolitischen Institutionen, Think Tanks, akademischen Einrichtungen und einschlägigen publizistischen Organen, welche die amerikanische Außenpolitik seit Jahrzehnten und unter wechselnden Präsidenten maßgeblich bestimmt haben; eine kritische Auseinandersetzung mit dem Einfluss dieser Expertenkreise, um deren Ruf als abgehobenes Establishment „inside the beltway“ oder auch nur als „the blob“3 es mittlerweile nicht mehr gut bestellt ist, darf man als zusätzliche Motivation der Studie annehmen.
Das erste Kapitel nimmt mit einem großen Schwung das Verhältnis der USA zur Welt von der Revolutionszeit der 1770er-Jahre bis ungefähr 1940 in den Blick. Wertheim betont, dass sich für diese Zeitspanne nicht von einem Isolationismus sprechen lasse, sondern von einem ursprünglichen amerikanischen Internationalismus. Schon George Washington habe sich in seiner Farewell Address von 1796 zwar von den „foreign entanglements“ einer europäischen Machtpolitik abgegrenzt, doch damit sei gerade nicht eine Abschließung gemeint gewesen, sondern gleichrangige Staaten- und Handelsbeziehungen im Rahmen einer friedlichen, regelgeleiteten Ordnung. Erst ab Mitte der 1930er-Jahre tauchte im öffentlichen Sprachgebrauch der Begriff des Isolationismus auf, und zwar nicht zufällig als Schlagwort zur moralischen Entwaffnung aller jener Skeptiker, welche den Schritt zu einer aktiveren, stärker gestaltenden Außenpolitik nicht mitgehen wollten. Dahinter stand ein zunächst noch behutsamer Stimmungswandel, mit dem die außenpolitischen Vordenker Washingtons auf die Krisen des Völkerbundes und ein zunehmend aggressiveres Klima in den Staatenbeziehungen reagierten. Angesichts der Ambitionen revisionistischer Mächte wie Deutschland oder Japan setzte sich in diesen Kreisen jedenfalls die Einsicht durch, dass die internationale Staatenwelt kein selbsterhaltendes und selbstregulierendes System darstellte, sondern zur Stabilität, Sicherheit und Regelbefolgung auf Garantiemächte angewiesen sei, die im Zweifel auch vor dem Einsatz militärischer Mittel nicht zurückschrecken würden.
Vor diesem Hintergrund wirkte der deutsche Triumph über Frankreich im Sommer 1940 als wesentlicher Katalysator. Mit der NS-Diktatur trat eine Ordnungsmacht auf den Plan, welche bereit und fähig schien, die europäische Staatenwelt gewaltsam und nach eigenen Maßstäben umzugestalten. In Washington, so zeigt es das zweite Kapitel, löste diese Wahrnehmung in den folgenden Wochen und Monaten eine fundamentale Neubestimmung der mittel- und langfristigen außenpolitischen Prioritäten aus, wobei zahlreiche Wortführer nun nachzuholen trachteten, was – so das seither kanonische Narrativ – von den USA nach dem Friedensschluss des Ersten Weltkriegs versäumt worden sei: den amerikanischen Anspruch an offene Staatenbeziehungen auch unter dem Einsatz eigener Machtmittel durchzusetzen und aufrechtzuerhalten. Die übliche Annahme, dass Washington erst mit dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg und dem militärischen Triumph über die Achsenmächte eine globale Führungsrolle zugefallen sei, hält Wertheim für ein Verkürzung. Vielmehr sei eine übergroße Mehrheit der außenpolitischen Elite Washingtons schon in der zweiten Jahreshälfte 1940 sehr bewusst auf einen Kurs eingeschwenkt, der eine in imperiale Großräume zerfallende Welt verhindern und die Gestaltung der internationalen Beziehungen nicht allein aggressiven Mächten überlassen wollte.
Das Gegenmittel lag zunächst in einer forcierten Allianzbildung mit Großbritannien. Eine von der Partnerschaft beider angelsächsischer Demokratien getragene „Grand Area“ mochte immerhin freien Zugang zur Hälfte der Welt erlauben. In seinem dritten Kapitel diskutiert Wertheim, wie die für das British Empire charakteristische Melange aus liberalem Paternalismus, universalistischer Rhetorik und Idealen weißer Suprematie neue, teils ungewohnte Anziehungskraft auf amerikanische Außenpolitiker und Planungsintellektuelle ausübte, was stellenweise bis zu Vorstellungen einer gemeinsamen Staatsbürgerschaft reichte. In der Atlantikcharta von August 1941 fand dieses bilaterale Sendungsbewusstsein einen vorläufigen Höhepunkt, auch wenn es sich angesichts des dynamischen Kriegsverlaufs schon zum Jahresende zu einem instrumentellen Multilateralismus erweiterte. Vorwiegend mit Blick auf die inneramerikanische Öffentlichkeit wurde Anfang 1942 die Allianz der United Nations ausgerufen, welche der Tyrannei der NS-Herrschaft in Europa und der japanischen Eroberungspolitik im Pazifikraum den Abwehrkonsens der übrigen Staatengemeinschaft gegenüberstellen sollte. Doch deren Institutionalisierung als Weltorganisation, wie es bei der Konferenz von Dumbarton Oaks 1944 schließlich realisiert wurde, war in den Augen der außenpolitischen Eliten Washingtons immer nur Mittel zum Zweck und sollte vorrangig die angestrebte Dominanz der USA in den internationalen Beziehungen legitimieren: „Multilateralism where possible, unilateralism if necessary“ (S. 144), so lautete seither das Credo der amerikanischen Außenpolitik.
Die besondere Pointe von Wertheims Darstellung liegt darin, dass er alle diese Entwicklungen aus der Binnensicht einer intellektuellen Elite verfolgt, deren Sorge, pointiert formuliert, sich nie allein auf die geopolitischen Verschiebungen in den übrigen Weltteilen beschränkte, sondern primär auf die amerikanische Öffentlichkeit richtete. Jeder Schritt der Kriegs- und Nachkriegsplanungen war, davon handelt das fünfte Kapitel, zuerst und zuletzt von Diskussionen um ihre innenpolitische Resonanz begleitet, wobei das Schreckgespenst eines Isolationismus ebenso allgewaltig schien wie es kaum dingfest gemacht werden konnte. Nennenswerte innenpolitische Opposition gegenüber einer Weltmachtrolle gab es jedenfalls kaum, auch wenn allen Bedenken argwöhnisch demoskopisch nachgespürt wurde. Die außenpolitischen Eliten setzten zudem erhebliche mediale Kampagnen in Gang, um den neuen, ebenso interventionsfreudigen wie militärgestützten Internationalismus der USA in der eigenen Bevölkerung zu bewerben. Mit plausiblen Gründen vermutete Wertheim, dass hinter der steten Beschwörung eines unberechenbaren Isolationismus, der die amerikanische Außenpolitik untergraben könne, immer auch die Projektion eigener Ängste und Vorbehalte stand (S. 131f., 153f.). Eine öffentliche Debatte zur Rolle der USA in der Welt sei hingegen ausgeblieben und auch seither immer nur in engen Grenzen und mit beträchtlichen Verzerrungen geführt worden.
Insgesamt geht die Studie mit dem amerikanischen Selbstverständnis als globale Führungsmacht hart ins Gericht. Schon der Titel ist eine Provokation, spiegelt er die US-Politik doch auf suggestive Weise (und ohne dass der Autor diese Verbindung im Text selbst herstellt) im Weltherrschaftsanspruch des Nationalsozialismus.4 Solche Bezüge muss man nicht teilen, und man kann an vielen Stellen auch fragen, ob der Autor nicht den Elitenkonsens von 1940 überschätzt und die Entwicklungsoffenheit der Jahrzehnte nach 1945 unterschätzt. Manche werden sich zudem an der moralischen Stoßrichtung stören, da die beträchtlichen Kosten, welche die militärische Präsenz der USA in verschiedenen Weltteilen wie in der eigenen Gesellschaft gefordert haben (und noch fordern), in der bequemen Sekurität Westeuropas als vielleicht nicht so dramatisch wahrgenommen werden. Trotzdem besitzt die Untersuchung erheblichen Erkenntniswert, weil sie das vermeintlich Selbstverständliche und scheinbar Zwangsläufige infrage stellt. Wertheim erklärt den Aufstieg der USA zur Garantiemacht der internationalen Ordnung nach 1945 nicht mit unhintergehbaren Strukturbedingungen und systemischen Machtzwängen, sondern verweist auf die Kontingenz der zugrundeliegenden Entscheidungen, Erwartungen und Rationalisierungen innerhalb der außenpolitischen Elite Washingtons. Damit leistet er einen Beitrag zum besseren Verständnis jener „regelbasierten internationalen Ordnung“5, auf die sich gerade die deutsche Politik gerne und oft bezieht, deren historische Gestalt allerdings höchst unbestimmt ist. Mit abstrakten Begrifflichkeiten wie normativer Multilateralismus, gemeinsame Friedensordnung oder transatlantische Sicherheitspartnerschaft kommt man hier nicht weit. Nachdem der Internationalismus autoritärer Regime und faschistischer Staaten neu entdeckt wurde, ist es darum höchste Zeit, auch den westlich-liberalen Internationalismus zu historisieren, anstatt ihn für Norm und Normalfall der Staatenwelt zu halten. Dazu dürfte auch die Einsicht beitragen, dass das hergebrachte Konzept internationaler Beziehungen langsam in den länger werdenden Schatten neuartiger digitaler Topographien versinkt, deren Formen weltumspannender Machtprojektion und globaler Kollektivierung wir erst ansatzweise verstehen. Das Buch von Stephen Wertheim jedenfalls zeigt: Die Eule der Minerva hat ihren Flug über die alte Welt der Pax Americana längst begonnen.
Anmerkungen:
1 <https://quincyinst.org/> (15.06.2021).
2 Stephen Wertheim, The League of Nations. A Retreat from International Law?, in: Journal of Global History 7, H. 2 (2012), S. 210–232; Ders., The League that Wasn’t. American Designs for a Legalist-Sanctionist League of Nations and the Intellectual Origins of International Organization, 1914–1920, in: Diplomatic History 35, H. 5 (2011), S. 797–836.
3 Etwa: David Klion, The Blob. Ben Rhodes and the Crisis of Liberal Foreign Policy, in: Nation vom 12.11.2018, <https://www.thenation.com/article/archive/ben-rhodes-and-the-crisis-of-liberal-foreign-policy/> (15.06.2021).
4 In offensichtlicher Anlehnung an die (in ihrer Authentizität freilich umstrittene) Zeile „Denn heute gehört uns Deutschland/und morgen die ganze Welt“ des NS-Lieds „Es zittern die morschen Knochen“ von Hans Baumann.
5 Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin 2016, S. 52.