Cover
Titel
Kindereuthanasie in der NS-Zeit unter besonderer Berücksichtigung von Reichsausschussverfahren und Kinderfachabteilungen.


Autor(en)
Benzenhöfer, Udo
Erschienen
Anzahl Seiten
306 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lutz Kaelber, Department of Sociology, University of Vermont

Das Thema „Kindereuthanasie” ist seit etwa 20 Jahren mit dem Namen Udo Benzenhöfer verbunden. Obwohl schon in der frühen Nachkriegszeit einige Prozesse dafür sorgten, dass Dokumente über „Kinderfachabteilungen“ gesichtet und ausgewertet wurden, war es jahrzehntelang unklar geblieben, wie viele es davon gab und welchen historischen Orten sie zugeordnet waren. Dies änderte sich mit dem schmalen Büchlein „‚Kinderfachabteilungen‘ und ‚NS-Kindereuthanasie‘“, das Benzenhöfer im Jahr 2000 veröffentlichte. Er ging dabei meist nur insoweit auf die Sekundärliteratur ein, um in dieser Fehler anzumerken und zu korrigieren, und basierte seine eigenen Auslegungen weitgehend auf die Analyse historischer Dokumente wie etwa der Anklageschrift gegen Werner Heyde u.a. aus dem Jahr 1962. Später hat Benzenhöfer die Liste immer wieder aktualisiert und weitere bestechende Einzelanalysen zum breiteren Thema „NS-Euthanasie“ abgeliefert. Eine von Benzenhöfer erwartete umfassende Studie zum Verbrechens-Komplex „Kindereuthanasie“ ließ allerdings lange auf sich warten. Der vorliegende Band, der es vom Buchtitel her verspricht, eine solche Gesamtübersicht und -analyse zu liefern, wurde vom Autor im Sommer 2020 abgeschlossen, bevor er im Frühjahr 2021 verstarb.1

Das Buch besteht aus fast 30 verschiedenen Kapiteln mit etwa 300 Seiten Text. Schon daraus ist ersichtlich, dass viele Themen nur knapp angeschnitten werden. Man kann das Buch der besseren Übersicht wegen in folgende Themengebiete unterteilen: eine äußerst kurz gefasste Forschungsgeschichte; eine detaillierte Darstellung der Entstehung des „Reichsausschusses“ und des danach genannten Prozederes, des „Reichsausschussverfahrens“, mitsamt der Biographien der darin verwickelten Personen; eine Darstellung der „Kinderfachabteilungen“ samt Anmerkungen zur Zahl der Opfer, der Forschung an ihnen und zu ihrem Familienumfeld; sowie ein umfangreicher Anhang mit Dokumenten.

Um mit der Dokumentensammlung zu beginnen: ein Großteil davon ist bereits in der Dissertation des Hamburger Psychiaters Marc Burlon aus dem Jahr 2009 zu den dortigen „Kinderfachabteilungen“ enthalten. Da diese vollständig im Internet einzusehen ist2, sind fast alle der hier dargestellten Dokumente der Forschung bereits einschlägig bekannt. Immerhin bietet Benzenhöfers Buch die Möglichkeit, sie systematisiert und kommentiert einzusehen.

Für den ersten Teil des Buches, der die Forschungsgeschichte und das „Reichsausschussverfahren“ darstellt, zeigt eine Durchsicht der verwendeten Materialien, dass im Wesentlichen die angesprochene Erststudie Benzenhöfers sowie zwei in den Jahren 2008/09 von Benzenhöfer erstellte Studien (Der Fall Leipzig…; Der gute Tod) zum Teil wörtlich übernommen wurden. Es wäre wünschenswert gewesen, neue Anmerkungen und Berichtigungen kenntlich zu machen. Die Darstellung der Forschungsgeschichte bricht für die Zeit ab den frühen 2000er-Jahren abrupt ab, sodass jüngere Darstellungen wie etwa Götz Alys bekanntes Buch „Die Belasteten“ nicht erwähnt werden.

Die Darstellung des „Reichsausschussverfahrens“ ist demgegenüber sehr detailliert und stellt den bisher besten Überblick zum Prozedere und dessen Entwicklung dar. Allerdings ist die Darstellung zur Heraufsetzung der Altersgrenze (Kapitel 15) durch einen Aufsatz des Historikers Georg Lilienthal schon wieder überholt. Lilienthals Aufsatz, der in einem im März 2020 veröffentlichten Band und somit vor Redaktionsschluss des Buches erschien, scheint Benzenhöfer unbekannt gewesen zu sein. Jedenfalls stellt Lilienthal klar, dass es nicht eine, sondern zwei Besprechungen zwischen den „Euthanasie-Beauftragten“ Philipp Bouhler und Dr. Karl Brandt gab, im Januar und März 1941. Bei der ersten, von Benzenhöfer erwähnten Besprechung, wurde eine Anhebung der Altersgrenze auf 14 Jahre beschlossen, die spätestens im September 1942 auf 16 Jahre erhöht wurde. Einer der plausiblen und wichtigen Gründe war, dass in Berlin weit weniger Meldungen als erwartet eintrafen, und durch die Heraufsetzung auch, wie Lilienthal schreibt, die bisher schon „gelegentlich praktizierte Aufnahme von älteren Kindern in geregelte Bahnen zu lenken“.3 Dazu wurden zunehmend im Jahr 1941 im Rahmen der „Aktion T4“ erfasste Kinder und Jugendliche an den „Reichsausschuss“ abgegeben.

Der sich an den ersten anschließende zweite Hauptteil des Buches, der sich mit den einzelnen „Kinderfachabteilungen“ beschäftigt, ist in weiten Teilen sowohl enttäuschend als auch veraltet. Immer wieder wird in den Fußnoten zur kritischen Analyse angemahnt, während es Benzenhöfer selbst oft unterlässt, die aktuelle Literatur darzustellen und zu analysieren. Es wirkt befremdlich, wenn er angibt, „die besseren Arbeiten ausgewertet“ zu haben, ohne zu erörtern, welche Kriterien er für eine solche Bewertung verwendete. Der Zugewinn zu bestehenden Forschungen in diesem Teil geht so meist auf die Arbeit weniger Wissenschaftler zurück, die in seinem Auftrag einzelne Archive besuchten und dem Buch wertvolle Erkenntnisse beisteuern konnten. Im Zusammenhang der Nichtbeachtung bestehender Forschung seien hier nur ein paar Beispiele angeführt. Bezüglich der „Kinderfachabteilung“ Lüneburg beziehen sich die im Buch verwerteten Materialien auf eine Studie zweier Forscher aus den späten 1980er-Jahren. Von den Arbeiten der Historikerin Carola Rudnick, die als heutige Gedenkstättenleiterin eine Serie von Forschungsarbeiten veröffentlichte, liest man nichts4 – auch nicht in dem Teil des Buches, das sich mit Forschungen an Kindern befasst, obwohl es in Lüneburg gelang, zu 12 Kindern und Jugendlichen, zu denen Gehirnschnitte im Archiv der Neuropathologie in Hamburg-Eppendorf gefunden wurden, Familiengeschichten zu erstellen. Für Eglfing-Haar wird die neue Dissertation von Julia Katzur und eine neuere grundlegende Untersuchung zum Sachsenberg von Kathleen Haack, Bernd Kasten und Jörg Pink nicht erwähnt.5 Viele weitere Beispiele könnten hier genannt werden. Die Anzahl der relevanten, aber nicht konsultierten Forschungspublikationen ist groß.

Im Buch kommen Kinder- und Jugendopfer weitgehend nur als Statistiken vor. Dies lässt sich anhand eines von Benzenhöfer selbst genannten, aber von ihm nicht weiter verfolgten Falles aufzeigen. Im Kapitel „Die Aufnahme in eine Kinderfachabteilung“ wird auf das Kind Werner S. im Kontext eines Schreibens des „Reichsausschusses“ an das Staatliche Gesundheitsamt Mergentheim bezüglich seiner Aufnahme in die „Kinderfachabteilung“ Eichberg hingewiesen. Mehr wird dazu nicht erwähnt, obwohl schon in der von Benzenhöfer verwendeten Quelle der Kontext dokumentiert wird, der sich darüber hinaus aus entsprechenden Akten ergibt.6 Demnach kam es bei Werner S. zu einer zweifachen Meldung. Etwa eineinhalb Jahre nach seiner Geburt ging beim Gesundheitsamt eine Meldung ein, in der als deren Anlass u.a. ein „idiotenhafter Blick“ vermerkt wurde. Die Möglichkeit einer Besserung wurde als „null“ angegeben. Dabei wird ein bei Benzenhöfer im Dokumentationsteil (S. 266) dargestellter erster Meldebogen des „Reichsausschusses“ verwendet (B 141/8.39). In einem zweiten, späteren Meldebogen, bei dem es sich gemäß Benzenhöfer (S. 272-274) um eine detailliertere Neufassung handelt (B 141/5.40), wird erwähnt, Werner S. sei ein „Idiot“, der Krankheitszustand habe sich aber im letzten viertel Jahr etwas gebessert und eine weitere Besserung sei zu erwarten. Obwohl sich dieser Fall dazu angeboten hätte, die Nutzung der Meldebögen in einem konkreten Fall – hier einer wohl seltenen Mehrfachmeldung – zu erläutern, geschieht dies nicht. Auch das weitere Schicksal von Werner S. wird nicht erwähnt: Nach Einweisung in die „Kinderfachabteilung“ Eichberg wurde er ermordet, obwohl in einem auf den Vortag der Ermordung datierten Schreiben des „Reichsausschusses“ der zuständige Arzt Dr. Mennecke darauf hingewiesen wurde, dass eine Behandlungsermächtigung noch nicht vorliege.

Neben einer fehlenden Berücksichtigung von Opfern – mit wenigen Ausnahmen – fällt auf, dass Benzenhöfer auch die Zeit nach 1945 kaum thematisiert. Wichtig wäre gewesen, die strafrechtliche Aufarbeitung darzustellen, die sich etwa in Hessen schon kurz nach dem Ende des Krieges mit den „Kinderfachabteilungen“ Kalmenhof und Eichberg befasste. Diese Aufarbeitung ist in der Sekundärliteratur ausgiebig dargestellt, was im Buch kaum Erwähnung findet. So werden beispielsweise im Fall der „Kinderfachabteilung“ Stadtroda kriminalpolizeiliche Untersuchungen in der direkten Nachkriegszeit erwähnt (S. 216). Ausgelassen wird, dass sich die Ermittlungen des MfS zur „Euthanasie“ in Stadtroda, die auch den Mord an Kindern beinhaltete, zu einem Politikum im Kalten Krieg entwickelten, die zur staatlichen Protektion von Tätern führte, wobei die Aufarbeitung noch Anfang der 2000er-Jahre in der Region Aufsehen erregte.7

Schließlich bleibt im Buch eine Darstellung der Vergegenwärtigung der „Kindereuthanasie“ außen vor, obwohl die Erinnerung an die „Kindereuthanasie“ und ihre Opfer eine wichtige Komponente der Gedenklandschaft zum Nationalsozialismus und dessen Verbrechen darstellt. Hingewiesen sei hier nur auf Leipzig, wo es sie in Form von Ausstellungen, Stolpersteinen und einer Stolperschwelle sowie diversen Gedenkorten gibt, die teilweise im Internet erschlossen werden können, und Lüneburg, wo in den letzten Jahren nicht nur die Forschung vorangetrieben wurde, sondern auch eine Reihe von pädagogischen Angeboten an Schüler und andere Besucher der Gedenkstätte erstellt worden sind.8

Benzenhöfers Buch ist somit bei weitem keine definitive Studie der „Kindereuthanasie“ und fällt im Kernbereich zu den einzelnen „Kinderfachabteilungen“ in manchen Teilen um Jahrzehnte hinter die Forschung zurück. Gut benutzt werden kann es aber als Nachschlagewerk zum Prozedere des „Reichsausschussverfahrens“.

Anmerkungen:

1 Einige seiner Veröffentlichungen stehen als Digitalisate auf: https://www.geschichte-medizin.uni-frankfurt.de/47769188/Prof__Dr__Dr__Udo_Benzenh%C3%B6fer (27.08.2021).
2 Marc Burlon, Die ‚Euthanasie‘ an Kindern während des Nationalsozialismus in den zwei Hamburger Kinderfachabteilungen, Universität Hamburg, FB Medizin, Diss. 2009. Verfügbar unter https://ediss.sub.uni-hamburg.de/handle/ediss/2986 (27.08.2021).
3 Georg Lilienthal, Der Anstaltsmord an Minderjährigen in Hessen-Nassau, in: Florian Bruns / Fritz Dross / Christina Vanja (Hrsg.), Spiegel der Zeit. Leben in sozialen Einrichtungen von der Reformation bis zur Moderne, Berlin 2020, S. 321–353, hier S. 340.
4 Ein kurzer Überblick findet sich in Carola Rudnick, Die Entrechtung und Tötung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen, Erkrankungen und unerwünschtem Verhalten, in Stiftung niedersächsische Gedenkstätten (Hrsg.), Jahresbericht 2017. Schwerpunktthema: Kindheit im Nationalsozialismus, Celle 1017, S. 24–29.
5 Julia Katzur, Die „Kinderfachabteilung“ in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar und die nationalsozialistische „Kindereuthanasie“ zwischen 1940–1945, Technische Universität München, FB Medizin, Diss. 2017; Kathleen Haack / Bernd Kasten / Jörg Pink, Die Heil- und Pflegeanstalt Sachsenberg-Lewenberg 1939–1945, Schwerin 2016.
6 Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, 430/1, Nr. 10862.
7 Siehe hierzu zuletzt Martin Kiechle, Ein „unseren gesellschaftlichen Verhältnissen widersprechendes Ergebnis“. Das Ministerium für Staatssicherheit und die „Euthanasie“.
Verbrechen in Stadtroda, in: Jörg Ganzenmüller (Hrsg.), Recht und Gerechtigkeit. Die strafrechtliche Aufarbeitung von Diktaturen in Europa, Köln 2017, S. 71–90.

8 Darauf gehe ich im Einzelnen ein in Lutz Kaelber, „Kinderfachabteilungen“ im Nationalsozialismus als Einrichtungen, in denen behinderte Kinder und Jugendliche getötet wurden. Neuere Forschungen, Gedenkformen und Vergegenwärtigungen, in: Claus Melter (Hrsg.), Krankenmorde im Kinderkrankenhaus Sonnenschein in Bethel in der NS-Zeit?, Weinheim 2020, S. 221–242.

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