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Title
Königtum und Recht nach dem Dynastiewechsel. Das Königskapitular Pippins des Jüngeren


Author(s)
Breternitz, Patrick
Series
Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter 12
Published
Ostfildern 2020: Jan Thorbecke Verlag
Extent
260 S.
Price
€ 35,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Simon Groth, Universität Bonn, Institut für Geschichtswissenschaft

Innerhalb der Rechtswissenschaft stellen Kommentare – in der Praxis meist lediglich nach ihrem Herausgeber apostrophiert – das wichtigste Instrument zum Verständnis von Gesetzestexten dar. Thomas Henne hat deswegen einmal von der „Prägung des Juristen durch die Kommentarliteratur“ gesprochen.1 Die Geschichtswissenschaft kennt zwar Editionen, deren Einleitungen eine vergleichbare Funktion zumindest teilweise erfüllen, aber weniger monographische Quellenkommentare. Ohne die Analogie überspannen zu wollen, kann die im Rahmen der Kölner Kapitularienarbeitsstelle bei Karl Ubl entstandene Dissertation als historischer Kommentar respektive Quellenkommentar gefasst werden, will diese doch ausschließlich über ein Kapitular Pippins des Jüngeren handeln.

Diese Konzentration ist zwar keineswegs neu, Breternitz selbst benennt etwa Stefan Esders‘ Beschäftigung mit der Praeceptio Chlotharii als Entsprechung2, allerdings innovativ und bedeutet selbstverständlich nicht, andere Quellen unberücksichtigt zu lassen. Vielmehr werden diese immer in Relation zum eigenen Ausgangspunkt genutzt, wodurch es zwangsläufig zu neuen Lesarten und einer tiefen Interpretation des im Mittelpunkt stehenden Kapitulars kommt. Doch eine weiterführende Reflexion über die spezifischen Möglichkeiten (und Grenzen) einer solchen Herangehensweise unterbleibt. Dies kann man als verschenkte Chance verstehen, denn hierzu ließe sich sicherlich Grundsätzliches sagen. Eher pflichtschuldig widmet sich Breternitz in der Einleitung folglich seiner „Fragestellung“ (S. 11–24), wozu er zunächst in wenigen Sätzen die Forschungsgeschichte zu Pippin dem Jüngeren skizziert, der bislang meist im Schatten seines kaiserlichen Sohnes gestanden habe. Anschließend thematisiert er ebenfalls knapp die Quellengattung der Kapitularien und die Schwierigkeit, einen konsistenten Begriff des mittelalterlichen Rechts zu bilden. Auch ohne den Anspruch, hierbei die Forschungsgeschichte selbst zumindest aufscheinen zu lassen, überrascht die Tatsache, dass beispielsweise Fritz Kerns These des guten alten Rechts ungenannt bleibt.3 Angeführt werden hingegen einige jüngere Arbeiten der Rechtsgeschichte zur allgemeinen Theorie der Multinormativität oder zu Rechtsräumen sowie die mediävistischen Debatten über die mittelalterliche Staatlichkeit oder das Konzept konsensualer Herrschaft, doch spielen diese gleichsam eher rudimentär annotierten Verweise in der Folge keine Rolle mehr.

In deutlichem Kontrast dazu widmet sich Breternitz anschließend der „Authentizität und Überlieferung“ sowie der Datierung des Kapitulars (S. 24–43), wobei er aufgrund des „enge[n] Bezug[s] zwischen Königskapitular und Responsa Stephani II.“ dafür votiert, eine Abfassung kurz nach den Rechtsantworten Stephans II. bei seinem Besuch im Frankenreich im Frühjahr 754 anzunehmen (S. 43). Entsprechend der in dem Schriftstück behandelten Aspekte folgen vier unterschiedlich lange Kapitel zu „Inzest und Ehe“, „Zöllen“, „Münzen“ und „Rechtspflege“. Vom Wortlaut des Kapitulars ausgehend, bettet er dabei die Aussagen und Bestimmungen seiner Quelle in die Diskurse und Entwicklungen der 750er-Jahre ein. In einem jeweiligen „Zwischenfazit“ werden die einzelnen Erkenntnisse leicht greifbar gebündelt. Das Kapitular, das nach seinem Editor Alfred Boretius als Pippini regis capitulare firmiert, besteht aus insgesamt sieben unterschiedlich ausführlichen Abschnitten, wovon der kürzeste lediglich vier Worte umfasst. Mit wenig mehr als einer Druckseite ist es insgesamt keineswegs raumfüllend. Sinnvollerweise ist der Wortlaut im Anhang in Gänze nachgedruckt; da es bislang keine vollständige Übersetzung des Kapitulars gibt, wäre – wenngleich der Text weder lang noch kompliziert ist – an dieser Stelle eine Übersetzung passend gewesen.

Die bereits in der Datierungsfrage aufscheinende detektivische Herangehensweise, das scharfsinnige Abwägen von Argumenten für und wider eine Interpretation zieht sich durch den gesamten Hauptteil der Arbeit. Hierbei lässt Breternitz den Leser vielfach an seiner intensiven Beschäftigung mit dem Kapitular sehr direkt teilhaben. Bisweilen greift er bis auf die handschriftliche Überlieferung zurück, um beispielsweise den genauen Wortlaut einer Aufzählung zu eruieren. Ob hier jede Schleife nötig ist, nur um sich am Ende dem Editionstext von Boretius (wieder) anzuschließen, der seinen Anmerkungsapparat „an der Stelle nicht sehr übersichtlich gestaltet“ habe (S. 48), mag unterschiedlich bewertet werden. In diesem Fall dreht es sich um die im Kapitular als Inzest verbotenen Eheverbindungen (S. 45–63). Diesem Problemfeld sind die ersten drei Kapitel des Kapitulars gewidmet, die sowohl festhalten, welche Beziehungen als Inzest zu fassen sind, als auch, in welcher Weise dagegen vorzugehen sei. Eingebunden in die in jener Zeit virulente Diskussion des Phänomens, habe sich Pippin den päpstlichen Standpunkt zu eigen gemacht und sei damit in Opposition zu den Ansichten Bonifatius‘ und seiner Anhänger getreten, die entsprechend dem Alten Testament ein engeres, geistliche Verwandtschaft nicht als Hindernis auslegendes Verständnis verfochten. Bezüglich der Zölle (S. 65–98) sei es Pippin um den Schutz der Pilger vor unrechtmäßiger Erhebung gegangen, wodurch er sich „als guter König präsentieren konnte“; geschickt habe Pippin dadurch die Königstugend des Schutzes der Schwachen und einen genuinen Aspekt königlicher Herrschaftspraxis aufgegriffen und verbunden (S. 97f.).

Mit dem Münzwesen ist anschließend nicht nur ein wichtiger Teilbereich des Kapitulars, sondern ausweislich seiner bisherigen Veröffentlichungen zudem der präferierte Gegenstand des Autors erreicht (S. 99–154). Zusammen mit dem abschließenden Teil über die Rechtspflege (S. 155–211) fällt dieser zudem deutlich umfangreicher aus als die beiden vorhergehenden Kapitel und könnte auch isoliert als lohnende Auseinandersetzung mit den allgemeinen theoretischen und methodischen Problemen frühmittelalterlicher Numismatik gelesen werden. Das Königskapitular beleuchte dabei einen Ausschnitt der „Münzpolitik“ Pippins und verdeutliche dessen Absetzungsbewegung von seinen merowingischen Vorgängern, indem neue, mit Pippins Namen und Königstitel versehene Münzen rasch die merowingischen Silberdenare verdrängt hätten. Als Vorbild habe Pippin der langobardische König Aistulf gedient, der seine Herrschaft ebenfalls zunächst besonders legitimieren musste. Die im Kapitular getroffene Bestimmung über die für die Münzemission entscheidende Relation von Pfund und Solidus habe somit auf eine schnelle und flächendeckende Verbreitung der neuen Münztypen gezielt, die als „Medium“ mit Botschaft nach innen und außen fungierten (S. 121–142).

Die in den beiden letzten Kapiteln des Kapitulars verhandelten Aspekte summiert Breternitz dann als „Rechtspflege“: Während Pippin zunächst auf die Wahrung der Immunität im Sinne einer konsequenten Beachtung der Immunitätsbezirke gedrungen habe (c. 6), habe das siebte Kapitel „gleich vier verschiedene Regelungen zur Rechtspflege festgehalten, die vereinfacht unter den Stichpunkten Teilnahme an der Rechtspflege, Verhinderung der direkten Anrufung des Königs, Beschwerden über das Grafengericht am Hof und eine äquivalente Regelung des zweiten und dritten Punktes für ecclesiastici summiert werden können“ (S. 158). Als Rückgriff auf die Lex Salica (den Breternitz in philologischer Akribie nachvollziehbar macht) komme Capitulum 7 zudem eine „symbolische Funktion“ bezüglich der „Schaffung einer fränkischen Identität mithilfe der Lex Salica“ zu (S. 211) und entspringe Pippins Bemühen, auf dem Feld des Rechts seine neue Stellung als König zu demonstrieren.

Daran anknüpfend beschließt ein fünfseitiges Fazit („Pippin und das Königskapitular“, S. 213–217) das Buch, in dem dieser Punkt nochmals hervorgehoben wird. Das Königskapitular wird als inhaltlich heterogenes Instrument interpretiert, durch das Pippin sein kurz zuvor errungenes und keineswegs gefestigtes fränkisches Königtum nicht nur mit Inhalt füllen, sondern vielmehr sein Königsein selbst greifbar machen konnte. Timothy Reuters ein wenig anders gemünzte Sentenz – „To be a king is thus not simply a matter of status or action, but also of style“ – bedeutete im 8. und 9. Jahrhundert dementsprechend gleichfalls, Kapitularien im eigenen Namen auszustellen.4 Den weiteren aus dem Umfeld der Neuedition dieser Quellengruppe zu erwartenden Arbeiten darf mit Spannung entgegengesehen werden.5 Mit dem Werk von Breternitz liegt eine stringente Untersuchung eines bislang von der Forschung eher wenig beachteten Kapitulars vor, die in ihrer Anlage durchaus beispielhaft für vergleichbare Auseinandersetzungen mit einer einzigen Quelle sein kann. Methodologische Reflexionen und die Überführung der konkret gewonnenen Ergebnisse auf die politische Geschichte des ersten karolingischen Königs bleiben anderen Arbeiten vorbehalten.

Anmerkungen:
1 Thomas Henne, Die Prägung des Juristen durch die Kommentarliteratur – Zu Form und Methode einer juristischen Diskursmethode, Vortrag 02.06.2006, Berlin (https://web.archive.org/web/20150924011848/http://www.fes-forumberlin.de/pdf_2006/d_6_6_01_henne.pdf)
2 Stefan Esders, Römische Rechtstradition und merowingisches Königtum. Zum Rechtscharakter politischer Herrschaft in Burgund im 6. und 7. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 134), Göttingen 1997.
3 Fritz Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 120 (1919), S. 1–79.
4 Timothy Reuter, „Regemque, quem in Francia pene perdidit, in patria magnifice recepit.“ Ottonian Ruler Representation in Synchronic and Diachronic Comparison, in: Gerd Althoff / Ernst Schubert (Hrsg.), Herrschaftsrepräsentation im ottonischen Sachsen (Vorträge und Forschungen 46), Sigmaringen 1998, S. 363–380, Zitat S. 364.
5 Vgl. jüngst auch Dominik Trump, Römisches Recht im Karolingerreich. Studien zur Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte der Epitome Aegidii (Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter 13), Ostfildern 2021.

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