U. Pfister u.a. (Hrsg.): Deutschland 1871

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Titel
Deutschland 1871. Die Nationalstaatsbildung und der Weg in die moderne Wirtschaft


Herausgeber
Pfister, Ulrich; Hesse, Jan-Otmar; Spoerer, Mark; Wolf, Nikolaus
Reihe
Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften im 21. Jahrhundert (6)
Erschienen
Tübingen 2021: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
IX, 454 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcel Boldorf, Faculté des Langues, Université Lyon 2 Lumière

Der Sammelband widmet sich anlässlich des 150-jährigen Jubiläums der Nationalstaatsbildung 1871 der Wirtschaftsgeschichte dieses zentralen politischen Ereignisses. Er bietet ein fundiertes, datengesättigtes Wissen über die deutsche Volkswirtschaft an der epochalen Schwelle zur Hochindustrialisierung. Der inhaltliche Fokus liegt auf den Fragen nach einer neuen wirtschaftlichen Identität, nach der Marktintegration, der Staatsverdichtung im Föderalismus sowie der qualitativen Verbesserung ökonomischer Institutionen. Nach sachlichen Kriterien eingeteilt, befassen sich die vier großen Kapitel des Bandes mit der wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Vorgeschichte der deutschen Nationalstaatsbildung, dem Zäsurcharakter der Nationalstaatsgründung 1871, den darauffolgenden Entwicklungen innerhalb des neuen staatlichen Rahmens sowie einem Blick nach außen, das heißt der ökonomischen Entwicklung vier anderer europäischer Industrieländer.

Die drei Beiträge des ersten Kapitels behandeln die wirtschaftliche, die institutionelle und die politische Integration in Bezug auf Föderalismus und Marktlenkung. Felix Kersting und Nikolaus Wolf beschäftigen sich vor allem mit dem Aufstieg Preußens und seiner Bedeutung für die nationale Identität. Gestützt auf die ökonomische Literatur zum nationbuilding werden quantitativ die Vornamensauswahl in deutschen Territorien sowie die Gründung von Turnvereinen nach dem Konzept des „Turnvaters“ Jahn betrachtet. Das feststellbare Zusammenrücken wirkte seinerseits auf die sich formierende Nationalstaatsbewegung zurück. Alfred Reckendrees erklärt das institutionelle Zusammenwachsen im Geldwesen sowie im Handels- und Wechselrecht mit einem Expertennetzwerk, das sich aus Vertretern der höheren Verwaltungsbeamten der einzelnen Staaten bildete. Gerold Ambrosius beschreibt den Prozess vom lockeren Staatenbund zum „engen Bundesstaat“ (S. 88). Auch für die Zeit nach der Reichsgründung betont er das Fehlen einer Wirtschaftsordnung bei fortbestehendem Föderalismus auf der einen Seite, das Streben nach stärkerer Lenkung der Märkte auf der anderen Seite.

Ulrich Pfister wendet sich explizit der Frage der Zäsur zu und belegt mittels makroökonomischer Reihen den tiefgreifenden Strukturbruch in der longuedurée. Sein Hauptaugenmerk liegt auf dem Rückgang der Produktionsschwankungen im Agrarsektor sowie auf dem Steigen der Reallöhne, das jedoch erst in den 1880er-Jahren zu verorten ist. Es bestätigt sich die Erkenntnis, dass um 1871 der Übergang vom erratischen Konjunkturmuster zum industriellen Konjunkturzyklus stattfand. Mark Spoerers Studie zur Wechselwirkung zwischen öffentlichen Finanzen und Wirtschaftsentwicklung zeigt, dass auch nach der Reichsgründung ein Fiskalföderalismus bestehen blieb, sodass es zunächst keinen „effektiven Staat“ (S. 132) gab. Sebastian Braun und Jan-Otmar Hesse zeigen, dass die organisatorische Vereinheitlichung von Eisenbahn, Post und Telegrafie durch die Nationalstaatsgründung durchgesetzt, aber nicht sichtbar verstärkt wurde. Michael C. Schneider zeigt zentralisierende Effekte der Gründung des Kaiserlichen Statistischen Amtes 1872 auf, etwa die zehn Jahre später stattfindende Berufs- und Betriebszählung, doch umfassende nationale Statistiken setzten sich erst allmählich durch.

Ganz ähnlich verlief, wie Matthias Moyrs herausarbeitet, die Entwicklung im monetären Sektor. 1875 entstand kurz nach der Mark-Einführung mit der Reichsbank eine neue zentrale Organisation, die entsprechende Institute der Einzelstaaten koordinierte, ohne die Geldpolitik auf einen Schlag zu vereinheitlichen. Ausgangspunkt des Beitrages von Alexander Donges und Jochen Streb ist der Umstand, dass es in Deutschland – im Gegensatz zu den wichtigen anderen Industrieländern – kein einheitliches Patentgesetz gab. Der nach der Nationalstaatsgründung fortschreitende Prozess der Harmonisierung wirkte sich auf den Technologietransfer mit dem Ausland teils förderlich, teils hemmend aus. Carsten Burhops Beitrag zum Bankensektor beschließt das zweite Kapitel. Als einziger Autor betrachtet er den Gründerboom und die darauffolgende Krise intensiver, spielte sich letztere doch zuvorderst auf den Finanzmärkten ab. Insgesamt betont das Kapitel das graduelle, allmähliche wirtschaftliche Zusammenwachsen in neuen Nationalstaat.

Eva-Maria Roelevink und Dieter Ziegler tendieren in der Frage, wie organisiert der Kapitalismus im Kaiserreich war, zu einem vorsichtigen Urteil, denn trotz Verbändelobbyismus und der Existenz zahlreicher Kartelle herrschte eine große Marktkonkurrenz vor. Sie treten älteren Auffassungen des organisierten Kapitalismus entgegen und sprechen von einer „spezifisch deutschen Ausprägung einer marktwirtschaftlichen Ordnung“ (S. 261). Tobias Jopp und Jochen Streb messen die Funktionstüchtigkeit der drei Hauptzweige der Bismarck‘schen Sozialversicherung und weisen darauf hin, dass ihre gesamtwirtschaftliche Leistung bis zum Vorabend des Weltkriegs sehr gering blieb. Thilo Albers und Charlotte Bartels stellen fest, dass zur gleichen Zeit ein hohes Niveau sozialer Ungleichheit vorherrschte. Sascha Becker, Francesco Cinnirella und Erik Hornung ergänzen, dass das preußische Bildungssystem in starker Expansion begriffen war, was die Industrialisierungserfolge zu erklären vermag. Wolf-Fabian Hungerland und Markus Lampe runden die quantitative Erfassung von Binnenfaktoren mit einem Blick auf den Außenhandel ab: Sie konstatieren, dass das Jahr 1871 auf ihrem Untersuchungsfeld keinen Strukturbruch darstellte, wobei die Außenverflechtung, vor allem im intra-industriellen Handel, deutlich zunahm.

Das vierte Kapitel wirft einen Blick von außen auf das Deutsche Reich. Jean-Pierre Dormois kontrastiert die Schutzzollpolitik im Kaiserreich mit dem französischen Protektionismus dieser Jahre. Er erkennt einen „Primat der Innenpolitik“ (S. 382) und verweist auf die Begleitumstände der Abschottung wie z.B. die wachsende Xenophobie in beiden Ländern. Giovanni Federico beleuchtet Aspekte der italienischen Nationalstaatsbildung, allerdings ohne Vergleich mit Deutschland, auch wenn er vergleichbare Felder untersucht, z.B. die wirtschaftliche Integration nach 1861, die Schaffung nationaler Institutionen oder die langfristigen Effekte. Max-Stefan Schulze betrachtet die habsburgische Wirtschaft im gleichen Zeitabschnitt, beginnend mit der Kriegsniederlage gegen Preußen 1866. Auch hier erfolgt kein expliziter Vergleich, sondern der Akzent wird auf regionale Disparitäten gelegt. Der abschließende Beitrag von Nicolas Crafts hat in seiner Beschreibung des relativen britischen Niedergangs einen starken Bezugspunkt im synchronen Vergleich mit Deutschland. Insbesondere hebt er die britisch-deutsche Handelsrivalität hervor.

Wenn der Band etwas zu wünschen übriglässt, dann ein abrundendes Schlusskapitel, das das durchaus heterogene Sample der Beiträge inhaltlich zusammenführen könnte. Wie in der Einleitung erwähnt, sollte dem provisorischen, vorsichtig formulierten Urteil der Vorzug gegeben werden. An der Tiefe der Zäsur um 1871 zweifelt keiner der Texte, insofern es sich um einen Strukturbruch handelt. Dabei bleibt aber offen, ob dieser nun eher um 1850, um 1880 oder zwischen diesen beiden Eckdaten zu verorten wäre. Bei einer quantitativen Betrachtung verschiedener Indikatoren kann man allerdings auch keine treffgenaue Bestimmung eines einzelnen Datums erwarten. Auf der anderen Seite erkennen die stärker politikgeschichtlich argumentierenden Beiträge die Nationalstaatsgründung als Zäsur an, insbesondere wenn sie als Auftakt für darauffolgende Entwicklungen angesehen wird. Lobend ist hervorzuheben, dass sich der Band durchweg auf dem neuesten Stand der Forschung bewegt. Insofern ist er ein wichtiger Schritt für eine erneute Befassung mit der Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs.

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