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Titel
Dictatorship of the Air. Aviation Culture and the Fate of Modern Russia


Autor(en)
Palmer, Scott W.
Reihe
Cambridge Centennial of Flight
Erschienen
Anzahl Seiten
307 S.
Preis
€ 34,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Gestwa, Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Eberhard Karls Universität Tübingen

Die Geschichte der Fliegerei ist seit je her in der Forschung und der breiteren Öffentlichkeit auf großes Interesse gestoßen. Das Flugzeug symbolisierte Fortschritt und Wachstum, Reform und Erneuerung. Als Quelle kultureller Inspiration und sozialer Imagination wurde es zum „index of technological proficiency and human mastery over nature” (S. 3). Die Welt der Moderne ist so wenig vorstellbar ohne Eroberung des Himmels wie die Nation ohne ihre Fliegerhelden. Den „tollkühnen Männern in ihren fliegenden Kisten“ schrieb die nationale Propaganda ein prometheisches Ethos zu, weil sie sich als Kundschafter eines neuen Zeitalters todesmutig über die Gesetze der Natur hinweg setzten und der Menschheit den Weg wiesen, um Distanzen zu überwinden und Räume zu beherrschen. Diese aeronautischen Visionen eignen sich wie kaum ein anderes Thema für kulturhistorische Tiefenbohrungen in gesellschaftliche Befindlichkeiten und politische Stimmungslagen.

Nachdem die Fliegerei in Russland und der Sowjetunion lange Zeit als wenig erforscht galt, liegt mit Palmers anschaulich illustrierter und eingängig geschriebener Monographie eine Studie vor, die diese Lücke weitgehend schließt. Sie deckt die Zeit von 1909, als erstmals motorbetriebene Flugzeuge im zarischen Russland starteten, bis zum sowjetischen Triumph im Zweiten Weltkrieg ab. Nicht die Flugtechnik an sich, sondern die gesellschaftliche Faszination für sie steht im Mittelpunkt. Palmer spricht von „air-mindedness“, um seine kulturhistorische Konzeption auf den Begriff zu bringen. Sein Fokus ist auf die sozialen und politischen Entstehungs- und Verwendungszusammenhänge gerichtet, die in Russland zur Formation einer spezifischen „aviation culture“ führten. Die russische „passion for wings“ fügte sich einerseits gut in den gesamteuropäischen Kontext ein, wies aber anderseits interessante Eigenheiten auf, die der Geschichte der russisch-sowjetischen Luftfahrt ihre besondere (Aero)Dynamik verliehen.

So erschien weit stärker als in den anderen Ländern im Zarenreich und der Sowjetunion das Flugzeug als „key to Russians’ dreams of modernity“ (S. 282). Die Luftfahrt wurde zum Kennzeichen und Instrument der Modernisierung, deren Protagonisten selbstbewusst den Anspruch erhoben, den Menschen aus der Rückständigkeit zu befreien. Der Aufschwung der Fliegerei versprach, Russland in kürzester Zeit in die fortschrittlichste Industrienation der Welt zu transformieren. Während das Zarenreich und später die Sowjetunion in Form einer nachholenden Entwicklung verzweifelt bemüht waren, Anschluss an den technischen Fortschritt zu erhalten, hob die Propaganda Pioniertaten hervor und überzeichnete sie, um ungeachtet aller Import- und Technologieabhängigkeit Ansprüche auf nationale und später ideologische Überlegenheit geltend zu machen. Infolgedessen prägte eine eigentümliche Mischung von eifersüchtiger Imitation und trotzigem Selbstbewusstsein die russisch-sowjetische „aviation culture“.

Unter anderem gab es mehrere populäre Versionen von einem „russischen Ikarus“. Sie feierten russische Bauern als Begründer der Fliegerei, weil diese schon im späten 16. bzw. zu Ende des 17. Jahrhunderts versucht hätten, sich mit selbstgebauten Flügeln in die Lüfte zu erheben. Trotz des stark folkloristischen Charakters dieser Erzählungen, die an das Schicksal des flugbegeisterten „Schneiders von Ulm“ erinnerten, legten russische und später sowjetische Technikhistoriker viel Wert darauf, sie als historisch belegte Großtaten von Mut und Weitsicht unter das Volk zu bringen.

Ein weiteres Spezifikum der Geschichte russisch-sowjetischer Luftfahrt lag sicherlich darin, dass Vermessenheit und Überschätzung oft im Desaster endeten. Fern jeglichen Realitätssinns ließen sich die Verantwortlichen oft von Einzelerfolgen verblenden, um fatalen Fehlentwicklungen den Weg zu bereiten. Wie an kaum einem anderen Beispiel lässt sich darum anhand der Krisen und Katastrophen der Fliegerei das Ausmaß der Modernisierungshybris im Zarenreich und frühen Sowjetimperium näher bemessen.

Nach der Ankunft des ersten Motorflugzeugs in Russland wurden unverzüglich Fliegerklubs und Flugschauen nach europäischem Vorbild organisiert, um auch die Massen dafür zu begeistern, dass der Mensch in der Lage war, sich der Erdanziehungskraft zu entziehen. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs besaß Russland schon die zweitgrößte Luftwaffe der Welt, die überwiegend aus westlichen Flugzeugmodellen bestand. Zugleich hatte der russische Konstrukteur Igor Sikorsky damals zwei der weltgrößten Flugzeuge gebaut. Von den Zeitgenossen als technische Weltwunder bestaunt, fanden sie weithin Beachtung. Der erste Weltkrieg machte dann allerdings die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit deutlich. Die gepriesene russische Luftwaffe war ihrem deutschen Gegner klar unterlegen. Um von der beschämenden Niederlage im Luftkrieg abzulenken, wurden herausragende russische Fliegerhelden ihren europäischen Kontrahenten als moralisch überlegen geschildert und ihr Opfermut groß in Szene gesetzt.

Nach der Oktoberrevolution stieg der Parteistaat zum wichtigsten Sponsor der Fliegerei auf und rief gesellschaftliche Massenorganisationen ins Leben, um Millionen Sowjetbürger mit der Begeisterung für Flugzeuge für sich vereinnahmen zu können. Bei der „Sowjetisierung des Himmels“ ging es zum einem um die forcierte Militarisierung der Gesellschaft und ihre herrschaftliche Durchdringung mit zentralisierten Organisationen und Behörden. Zum anderen wurde die Luftfahrt zum wichtigen Instrument des ambitionierten social engineering, mit dem der Sowjetstaat den „neuen Menschen“ schaffen wollte. Anschaulich schildert Palmer, wie in der gewaltigen Offensive des militanten Atheismus das Flugzeug zur zentralen Inkunabel einer säkularen Religion wurde, mit der die Parteiführer in der ihnen fremden russischen Bauerngesellschaft an Einfluss und Ansehen gewinnen wollten. Im Rahmen so genannter „Lufttaufen“ flogen die Piloten im Parteiauftrag gläubige Dorfbewohner in den Himmel, um ihnen zu beweisen, dass es dort keinen Gott gebe.

Die 1930er-Jahre waren die Dekade der Rekorde. Am 19. Juni 1934 hob erstmals der in kürzester Zeit gebaute Flugzeuggigant Maksim Gorki während einer Siegesparade vom Boden ab und überflog unter dem Beifall von Zehntausenden Menschen den Roten Platz. Während die Sowjetpresse in allen Einzelheiten euphorisch über die neue Baureihe ANT-20 berichtete, sahen westliche Fachleute im sechsmotorigen Riesenflugzeug keinen technischen Durchbruch, sondern lediglich eine extreme Erweiterung längst bekannter Konstruktionen. Erhebliche Probleme gab es mit der Wartung, weil es auf den Flugplätzen an den benötigten großen Hangern fehlte. Infolgedessen kam es schon bald zu schweren Unfällen, denen sogar hochrangige Staats- und Parteifunktionäre zum Opfer fielen.

Trotz dieser Probleme griff der „colossalist mindset“ (S. 121) weiter um sich. Parteiführer und Flugzeugkonstrukteure begeisterten sich für Langstreckenflugzeuge. Für großes Aufsehen sorgten vor allem der Fliegerheld Valerij Čkalov und seine beiden Kopiloten, als sie im Juni 1937 einen 36stündigen transkontinentalen Distanzflug über den Nordpol erfolgreich abschlossen und mit ihrem in Moskau gestarteten Flugzeug US-amerikanischen Boden in Oregon erreichten. Während sich Kremlbosse ganz dem display value großer Flugzeuge hingaben, verpasste die sowjetische Luftwaffe den Anschluss an die internationale Entwicklung. Die Luftkämpfe während des Spanischen Bürgerkriegs endeten dramatisch. Die langsamen großen sowjetischen Bomber waren den kleinen wendigen deutschen Jägern ausgeliefert. Auch zu Beginn des Zweiten Weltkriegs stand die sowjetische Luftflotte kurz vor ihrer vollständigen Vernichtung. Erst im weiteren Verlauf des Jahres 1942, als mit der IL-2 eine neue Generation von Jagd- und Panzerflugzeugen in großer Menge produziert wurde, erhob sich der „rote Phönix“ aus der Asche und eroberte schließlich den Himmel zurück.

Palmers Studie folgt dem Trend neuerer Studien, die historiographische Schallmauer von 1917 zu durchbrechen, um die spätzarische und frühsowjetische Geschichte miteinander zu verbinden. Vieles, was Palmer über die russisch-sowjetische Aviatik zu berichten weiß, wird kundigen Lesern allerdings aus der Lektüre älterer Arbeiten schon bekannt sein. Der Wert der Monographie liegt deshalb vor allem darin, aufschlussreiche Einzelergebnisse zu einer epochen- und themenübergreifenden Synthese zusammengebracht und viele Aspekte durch ausgiebiges Studium neuer Archivdokumente ergänzt zu haben.

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