J.-A. Bernhard u.a. (Hrsg.): Die Ilanzer Artikelbriefe im Kontext der europäischen Reformation

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Titel
Die Ilanzer Artikelbriefe im Kontext der europäischen Reformation.


Herausgeber
Bernhard, Jan-Andrea; Seger, Cordula
Reihe
Zürcher Beiträge zur Reformationsgeschichte
Erschienen
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 42,90
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Corinna Ehlers, Fachinformationsdienst Theologie, Universitätsbibliothek der Eberhard Karls Universität Tübingen

Die 1524 und 1526 von Vertretern der Drei Bünde (Grauer Bund, Zehngerichtenbund, Gotteshausbund) erlassenen Ilanzer Artikelbriefe haben als Dokument der Reformationsgeschichte Graubündens ebenso Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie als bemerkenswerte Regelung religiöser Koexistenz. Der vorliegende Sammelband, der auf eine Tagung des Instituts für Schweizerische Reformationsgeschichte Zürich und des Instituts für Kulturforschung Graubünden zurückgeht, strebt eine internationale Zusammenschau einschlägiger Forschungen und eine „Kontextualisierung der Ereignisse im Rahmen der europäischen Reformationsgeschichte“ (S. 9) an.

Einleitend schlägt Bruce Gordon einen großen historischen Bogen: Die Ilanzer Bestimmung, dass jede Gemeinde ihren Pfarrer und damit ihre Glaubensrichtung selbst wählen durfte, weise auf Regelungen religiöser Koexistenz voraus, wie sie in den beiden Kappeler Landfrieden für die gesamte Eidgenossenschaft und im Augsburger Religionsfrieden für das Reich getroffen wurden. Zudem betont er, dass die neuere Forschung gerade einzelne Gemeinden als Orte in den Blick nimmt, an denen das Zusammenleben verschiedener Glaubensrichtungen konkret wird und sich als vielfältiges, ambivalentes Geschehen erweist.

Im Abschnitt „Rechtssetzungen und Rechtsentwicklungen“ hebt Andreas Thier hervor, dass die Ilanzer Artikel zwar teils Affinitäten zu evangelischen Anliegen aufweisen, aber zugleich an spätmittelalterliche Rechtstraditionen (z.B. Patronatsrechte) anknüpfen. Im Forschungsstreit, ob es sich bei den Artikelbriefen um verbindliche Gesetze eines entstehenden Dreibündestaats oder ein bloßes Handlungsangebot an die Gemeinden handle, warnt er davor, diese Phänomene in Kategorien heutigen staatlichen Rechts zu fassen – plädiert aber für einen normativen Geltungsanspruch. Immacolata Saulle Hippenmeyer zeigt anhand der Gerichtspraxis in den Drei Bünden, dass es schon zuvor Tendenzen zur Dezentralisierung des Kirchenwesens gab, die durch die Artikelbriefe verstärkt wurden. Guglielmo Scaramellini verfolgt die Auswirkungen in den Untertanengebieten Veltlin, Bormio und Val Chiavenna unter anderem im Hinblick auf religiöse Koexistenz, Umgang mit Kirchengut und Abschaffung der Inquisition.

Unter der Überschrift „Wirkungsgeschichte“ behandelt Jan-Andrea Bernhard die Ilanzer Disputation vom 7.1.1526, mit der die weltliche Obrigkeit Verantwortung für die Regelung der Religionsfrage übernahm, und die dafür verfassten Thesen des Churer Reformators Johannes Comander. Er plädiert für eine Verortung des zweiten Ilanzer Artikelbriefs im Kontext solcher evangelischen Gedanken. Randolph C. Head meint hingegen, die Artikel bedeuteten keine klare Festlegung, sondern entsprächen dem ergebnislosen Ausgang der Disputation. In einer Zeit, die von revolutionären Bestrebungen (wie in den Bauernkriegen) und von unterschiedlichen kirchlichen Reformbewegungen geprägt war, stellten die Ilanzer Regelungen noch keine Wahl zwischen festen Konfessionen dar, sondern einen auf Befriedung der Konfliktfelder ausgerichteten, situativen Interessenausgleich – der im Folgenden entsprechend verschieden ausgelegt werden konnte. Erich Wenneker analysiert Gerichtsprozesse über aufgelöste Stiftungen im Oberen Bund und macht deutlich, dass mit der Einführung der Reformation nicht notwendig eine Abschaffung der Bilder verbunden war. In den belegten Streitfällen wurden die Bestimmungen der Artikelbriefe zur Entschädigung von Stiftern nicht einheitlich angewandt.

In der Rubrik „Rezeption und Interpretation“ zeigt Philipp Zwyssig, dass die Bemühungen der römischen Kurie im 17. und 18. Jahrhundert, die Ilanzer Artikel zu entkräften und mehr Kontrolle über die Bündner Pfarreien zu erlangen, paradoxerweise deren Handlungsspielräume eher vergrößerten: So wählten die meisten Gemeinden ihre Geistlichen weiterhin selbst, hatten aber durch die von Rom unterstützte Mission des Kapuzinerordens eine größere Auswahl an Kandidaten. Demgegenüber hat der Beitrag von Marc Aberle zum Verhältnis von Protestantismus und Demokratie eher auf allgemeiner Ebene Bezüge zur Bündner Situation und zu den Artikelbriefen; die Quellenauswahl konzentriert sich auf andere Regionen der Eidgenossenschaft und die französischen Religionskriege. Florian Hitz setzt sich mit der vieldiskutierten Tradition auseinander, der zufolge eine Versammlung der Bundeshäupter 1526 allen Männern und Frauen individuelle Wahlfreiheit zwischen dem evangelischen und alten Glauben eingeräumt habe. Er hebt hervor, dass dies erstmals 1576 bei Ulrich Chiampell überliefert wird, und sieht es im zeitgenössischen Kontext nicht als plausibel an. Eher handle es sich um eine Rückprojektion der Situation in den 1570er-Jahren, an deren Gestaltung Chiampell beteiligt war.

Abschließend gibt Ulrich Pfister einen Überblick über die kirchlichen Auswirkungen der Ilanzer Artikel. Dabei warnt er vor allzu eindeutigen konfessionellen oder sozialgeschichtlichen Zuordnungen: So erscheint die Verminderung der Abgaben an geistliche Institutionen im Verhältnis zu Texten der Bauernkriege moderat; das Pfarrerwahlrecht wurde nicht nur in evangelischen, sondern auch in altgläubigen Gemeinden umgesetzt; die Saläre der Geistlichen hingen weniger von der Konfession ab als von der Rechtsorganisation im jeweiligen Bund. In der Gesamtschau führten die Veränderungen nach ihm zu „einer stark individualistisch geprägten, akonfessionellen Gemeindekirche“ (S. 266), die im Folgenden spezifische Formen von Konfessionalisierung mit sich brachte.

Insgesamt gibt der Band einen umfassenden, differenzierten Einblick in die Forschungsdiskussion zu den Ilanzer Artikelbriefen und trägt neue Aspekte dazu bei. Die Argumentation ist freilich voraussetzungsreich; es wird nicht immer expliziert, vor welchem Hintergrund Standpunkte formuliert werden. Für eine erste Beschäftigung mit der Thematik empfiehlt sich daher vorab die Lektüre einer aktuellen Überblicksdarstellung, wie sie etwa der Mitherausgeber Bernhard vorgelegt hat.1 Die eingangs angekündigte Verortung im europäischen Kontext spielt nur in einem Teil der Beiträge eine Rolle, nimmt aber neben klassischen Aspekten (z.B. Vergleiche zu den Bauernartikeln im Reich) auch neue Perspektiven (Verhältnis zur Kurie, Buchdruckernetzwerke) in den Blick. Hier besteht Potential für weitere Forschungen, beispielsweise zur überregionalen Vernetzung von Täufern oder italienischen spirituali, die sich als – unbeabsichtigte – Folge der Ilanzer Regelungen in den Drei Bünden besser halten konnten als anderenorts.

Zwei Anhänge bieten eine Bibliographie zu den Ilanzer Artikeln sowie neuhochdeutsche Übersetzungen der beiden Artikelbriefe von 1524/1526 und des Bundesbriefs von 1524. Somit birgt der Band nicht nur Anregungen für die weitere Forschung, sondern auch Hilfestellungen, um dieses im internationalen Vergleich ungewöhnliche Beispiel religiöser Koexistenz in Lehrveranstaltungen oder an ein breiteres Publikum zu vermitteln.

Anmerkung:
1 Jan-Andrea Bernhard, The Reformation in the Three Leagues (Grisons), in: Amy Nelson Burnett / Emidio Campi (Hrsg.), A Companion to the Swiss Reformation (Brill’s Companions to the Christian Tradition 72), Leiden 2016, S. 291–361.

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