Seit den 1970er-Jahren ist Eckhardt E. Franz’ „Einführung in die Archivkunde“ für die Planung von Archivrecherchen ein Standardwerk.1 Nun liegen, nahezu zeitgleich erschienen, zwei neue fachkundige Bücher zur Thematik vor: zum einen die „Einführung in die moderne Archivarbeit“ der Autorengruppe Sabine Brenner-Wilczek, Gertrude Cepl-Kaufmann und Max Plassmann, die sich „vor allem an Studierende, Examenskandidaten und Berufseinsteiger“ richtet (S. 7); zum anderen Martin Burkhardts Band „Arbeiten im Archiv“, der gedacht ist für „Archiv-Laien und alle, die von der Materie wenig wissen“ (S. 9). Mit beiden Büchern ist es den Autoren gelungen, wesentliche Informationen praxisnah und gut lesbar zusammenzustellen, die heutige Archivbenutzer für ihre Recherchen benötigen. Da die Bände zwischen klassischer Quellenkunde2 und archivfachlichen Abhandlungen3 stehen, füllen sie zugleich eine wichtige Lücke in der Literatur über geschichtswissenschaftliche Arbeitsmethoden.
Das interdisziplinär zusammengesetzte Autorenteam Brenner-Wilczek (Literaturwissenschaftlerin), Cepl-Kaufmann (Kulturwissenschaftlerin) und Plassmann (Historiker und Archivar) kennt beide Seiten der archivischen Benutzertheke. Mit dem aus fünf Hauptteilen bestehenden Band haben die Verfasser ein archivpraktisches Konzept zu Papier gebracht, das sie in gemeinsamen Seminaren erproben konnten. Plassmann beginnt das erste Kapitel mit einer knappen Archivdefinition und zeichnet in aller Kürze die Entstehung der deutschen Archivlandschaft seit dem Mittelalter nach. Er erläutert den Funktionswandel der Archive von einer reinen „Sicherung von Beweismitteln“ (S. 15) im Mittelalter hin zur „zweckfreien Archivierung historischer Quellen“ (S. 18) seit dem 19. Jahrhundert. Dabei geht er auf öffentliche und nicht-öffentliche Archivtypen mit ihrem jeweiligen Quellenprofil ein.
Im zweiten Kapitel, verfasst von Brenner-Wilczek, findet der Leser alles Wissenswerte über die Vorbereitung eines Archivbesuchs sowie die Bedingungen der Benutzung und Auswertung von Quellen. Darüber hinaus erfährt man Grundlegendes über die Restaurierung und Bestandserhaltung sowie die Mikroverfilmung und die zunehmende Digitalisierung von Archivgut. Begleitet wird der als praktischer Leitfaden konzipierte Text von vier Checklisten, die wesentliche Punkte kurz zusammenfassen. Der Hinweis, einen Archivbesuch zunächst durch die Lektüre von Primär- und Sekundärliteratur sowie die „zielorientierte Ausarbeitung der Themenstellung“ (S. 29) vorzubereiten, wird in der Praxis leider nicht immer beachtet. Erst nach solchen Vorarbeiten sollte man das zuständige Archiv ermitteln und eine schriftliche Anfrage formulieren. In einem weiteren Abschnitt geht es um die Rechte, die für die Benutzung, Reproduktion und Auswertung vor allem jüngerer Quellen beachtet werden müssen. Während die Unterlagen öffentlicher Stellen bei abgelaufenen Schutzfristen, der Wahrung des Persönlichkeitsschutzes und der Beachtung des Urheberrechts in der Regel ohne Beschränkungen genutzt werden können, sind die Nutzungsbedingungen von nicht-öffentlichem Archivgut oft restriktiver. Leider wird in diesem Zusammenhang nicht erwähnt, dass nahezu das gesamte Archivgut der ehemaligen DDR ohne die sonst übliche 30-Jahres-Schutzfrist zugänglich ist.
Im folgenden quellenkundlichen Teil geht Brenner-Wilczek auf das Verfahren der vornehmlich für moderne Unterlagen notwendigen archivischen Bewertung ein. Anschließend werden die Quellengattungen mit ihrem Informationswert, den spezifischen Findmitteln und Nutzungsbedingungen erklärt. Warum hier neben Urkunden und Akten die aus verschiedenen Materialien zusammengesetzten Nachlässe als eigene Quellengattung aufgeführt sind, bleibt etwas unklar, liegt aber wahrscheinlich an der hohen Bedeutung, die die Autoren den Nachlässen als Quellenfundus für die Erforschung kultur- und literaturwissenschaftlicher Fragestellungen beimessen. Im Abschnitt über die Nachlässe werden auch die einschlägigen Internetangebote vorgestellt – die „Zentrale Datenbank Nachlässe“ des Bundesarchivs4 und das „Kalliope-Portal“ der Staatsbibliothek Berlin.5 Aufgrund des wachsenden Angebots archivischer Online-Angebote – seien es Findmittel, Datenbanken, digitalisierte Materialien, Lesebeispiele und andere archivische Arbeitshilfen – hätte man sich als Leser des praktischen Leitfadens allerdings mehr Verweise dieser Art gewünscht.6
Die Stärken des Buches sind in jedem Fall die komplexen, plastisch dargestellten und mit nützlichen Tipps versehenen Beispiele. Denn oft steckt der Teufel im Detail. Plassmann demonstriert anhand von vier Recherchebeispielen vom Mittelalter bis in die Zeitgeschichte, welche zum Teil unerwarteten Wege zum relevanten Material führen. Zentrale Fragen werden abgehandelt: Wer bzw. welche Einrichtung(en) war(en) für eine bestimmte Aufgabe zuständig? Mit wem stand(en) die Person(en) bzw. Einrichtung(en) darüber in Kontakt? In welchem Archiv lassen sich die bei der Aufgabenerledigung entstandenen Unterlagen heute vermuten?
Um diese Fragen beantworten zu können, benötigt man nach wie vor gute Kenntnisse der Politik-, Verwaltungs- und Archivgeschichte – worauf in dem Band immer wieder hingewiesen wird. Im Anschluss an Plassmann wirbt Cepl-Kaufmann begeisternd für die verstärkte Nutzung von Archivgut durch Kultur- und Literaturwissenschaftler, da diese Gruppen leider nicht zu den klassischen Archivbesuchern gehören (S. 100). An Recherchebeispielen zu Friedrich Gottlieb Klopstock, Thomas Mann und Georg Heym kann sie zeigen, dass die Auswertung von Sammlungen für die Untersuchung von Werkgenese und -kontext ausgesprochen lohnend, wenn nicht sogar zwingend ist. Neben der Fundgrube Archiv, dessen Material für die Bearbeitung einer Vielzahl wissenschaftlicher Fragestellungen herangezogen werden kann, sieht Cepl-Kaufmann einen weiteren Vorteil in den Kompetenzen, die man durch die Arbeit mit den Quellen erwirbt. Die dabei zu schulenden Such-, Analyse- und Verwertungskompetenzen sind entscheidende geisteswissenschaftliche Schlüsselqualifikationen. Aufgrund der guten Beispiele und der Interesse weckenden Darstellung möchte man als Leser ihrem Fazit „Rein ins Archiv“ am Ende tatsächlich folgen – oder vielleicht sogar selbst Archivar werden. Einen Überblick zum Berufsbild und den verschiedenen Ausbildungsmöglichkeiten kann man sich schließlich im letzten, von Brenner-Wilzcek verfassten Kapitel verschaffen. Abgerundet wird der Band von einem Glossar wichtiger Fachbegriffe sowie einer kommentierten Zusammenstellung von Literatur und Webadressen.
Der noch etwas schmalere, in lockerer Sprache geschriebene Band von Martin Burkhardt behandelt weitgehend identische Aspekte, ist allerdings eher klassisch aufgebaut. Zahlreiche gut gewählte Beispiele vor allem aus Baden-Württemberg spiegeln die Perspektive des wissenschaftlichen Nutzers wider, zeigen aber auch die Nutzungsmöglichkeiten für ein breiteres Publikum. Nach einer kurzen Definition des Archivs in Abgrenzung von Museen, Bibliotheken und Dokumentationsstellen folgt eine kurze und verständliche Erläuterung der archivischen Fachaufgaben der Übernahme, Erhaltung, Erschließung und Benutzung. Eine Charakterisierung unterschiedlicher Archivtypen verdeutlicht die Vielfalt der deutschen Archivlandschaft. Ergänzt wird dies durch einen Überblick zu einigen europäischen Archiven (EU, Frankreich, Großbritannien, Italien und Vatikan, Österreich, Polen, Russland, Schweiz und Spanien) sowie zu Archiven der USA, wobei Burkhardt jeweils auf aktuelle Internetangebote und weiterführende Literatur verweist.
Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit der Ermittlung von relevanten Archivbeständen für die Beantwortung konkreter Fragestellungen. Auch hier wird als erster Schritt die Literatur- und Internetrecherche empfohlen. Anschließend muss man die staatlich-administrative bzw. sachliche Zuständigkeit für das Untersuchungsgebiet klären und kann unter Beachtung des Archivsprengels das richtige Archiv ausfindig machen. Burkhardt gibt einige wertvolle Hinweise für Recherchen nach Personen, zur Lokal- und Regionalgeschichte, zur Wirtschaftsgeschichte und zum Nationalsozialismus. Auch er verweist auf den Wert von Sammlungen. So solle man Nachlässe aufgrund der oft in ihnen enthaltenen Sachakten nicht nur für biographische Fragestellungen berücksichtigen. Dass Archive zudem wichtige Aufgaben im Zuge der Rechtsklärung erfüllen können, zeigen weitere Fallbeispiele zu Vermögensfragen, Nachweisen über Zwangsarbeit und Erbenermittlung.
Als Archivar mit Berufserfahrungen in Wirtschafts-, Kommunal- und Staatsarchiven räumt Burkhardt im Kapitel über Regeln und Verfahren der Archivaliennutzung mit so manchem Vorurteil und zu hochgesteckten Erwartungen von Benutzerseite auf und weiß die eine oder andere amüsante Anekdote zu erzählen. Schritt für Schritt und sehr konkret erklärt er alles Wesentliche – die Kontaktaufnahme mit dem Archiv (schriftliche statt mündliche Anfrage), Benutzungsantrag, Arbeit im Lesesaal, Gebühren und Reproduktionen sowie die Rahmenbedingungen, die Nutzungen einschränken (Schutzfristen, Erhaltungszustand), aber auch erleichtern können (Antrag auf Schutzfristenverkürzung, Informationsfreiheitsgesetze). Darüber hinaus findet sich ein kurzer Abschnitt zu Online-Materialien.7 In den beiden folgenden Kapiteln werden schließlich die gängigen archivischen Findmittel und Quellengattungen vorgestellt. Den Band beschließen ein Service-Teil mit Transkriptionsvorschlägen und Schriftbeispielen aus dem 16. bis 20. Jahrhundert sowie eine kommentierte Liste weiterführender Literatur und Internetressourcen.
Dass nach längerer Flaute gleich zwei Bücher über Archivrecherchen erschienen sind, zeigt zweierlei: zum einen die zunehmende „Kundenorientierung“ in den Archiven und zum anderen – allen Unkenrufen zum Trotz – ein wachsendes Interesse an ihrer Nutzung. Beide Bücher tragen durch verständliche Darstellungen und einleuchtende Beispiele ihren Teil zu dieser positiven Entwicklung bei. Burkhardts unterhaltsamer Band bietet ein Kompaktpaket und eignet sich besonders für diejenigen, die sich allgemein über die Nutzungsmöglichkeiten von Archiven informieren wollen. Die in Teilen tiefer gehende Darstellung von Brenner-Wilczek, Cepl-Kaufmann und Plassmann zielt dagegen eher auf die Möglichkeiten wissenschaftlicher Nutzung und gibt darüber hinaus auch Hinweise zur Auswertung der Quellen. Beide Bücher sind in jedem Fall zu empfehlen – und die findigen Tipps nicht nur für Einsteiger hilfreich.
Anmerkungen:
1 Franz, Eckhardt E., Einführung in die Archivkunde, 7. Aufl. Darmstadt 2007 (1. Aufl. 1974).
2 Eine umfassende Quellenkunde in Verbindung mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften bieten Beck, Friedrich; Henning, Eckart (Hrsg.), Die archivalischen Quellen, 4. Aufl. Köln 2004 (1. Aufl. 1994).
3 Als Überblick zu grundlegenden Elementen der Archivarbeit ist immer noch einschlägig: Enders, Gerhart, Archivverwaltungslehre, mit einem bio-bibliographischen Vorwort hrsg. von Eckhart Henning und Gerald Wiemers, Leipzig 2004 (Nachdruck der 3., durchgesehenen Aufl. von 1968; 1. Aufl. 1962).
4 Diese enthält Beschreibungen von mehr als 25.000 Nachlässen und Teilnachlässen aus über 1.000 Institutionen, darunter vornehmlich Archive (<http://www.nachlassdatenbank.de/>).
5 Erfasst sind dort 1,2 Millionen Einzelstücke aus Nachlässen und Teilnachlässen von rund 500 Archiven, Bibliotheken und Museen (<http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de/>).
6 Immer mehr größere und kleinere Archive bieten im Internet neben Findmitteldaten auch digitale Reproduktionen aus ihren Beständen an. Einige Beispiele von vielen: Die Sammlungsdatenbank des Archivs der Sozialen Demokratie enthält Beschreibungen und Thumbnails u.a. von Fotos, Plakaten und Flugblättern (<http://195.243.222.34/start.fau?prj=ifaust6>); Schriftbeispiele aus preußischen Akten mit Transkriptionen bietet die Website des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz (<http://www.gsta.spk-berlin.de/framesets/frameset.php>); das Bundesarchiv erläutert in einer seiner Online-Galerien digitalisierte Materialien rund um das Mitgliedschaftswesen der NSDAP (<http://www.bundesarchiv.de/aktuelles/aus_dem_archiv/galerie/00067/index.html>).
7 Dass dies hätte vertieft werden können, hat Julian Holzapfl in seiner Rezension überzeugend erläutert: <http://www.sehepunkte.de/2007/02/12061.html>.