Auf dem Gebiet der Bischofsgeschichte wurden in den vergangenen Jahren neben großen Forschungsprojekten, zu denen etwa die Germania Sacra mit ihrem Blick auf die Kirche des gesamten Alten Reiches gehört, immer wieder neue, ebenfalls fruchtbringende Ansätze zur Untersuchung verschiedenster Themen rund um den mittelalterlichen Episkopat und seine Bistümer gefunden. Ein Beispiel hierfür ist Ines Weßels’ jüngst im Druck erschienene Dissertation, die die „Selbstbildung“ spätmittelalterlicher (Erz-)Bischöfe zum Thema hat und aus praxeologischer Sicht Formen der Subjektwerdung von Kirchenfürsten in ihren Ämtern untersucht. Diese in Kurzform mit „Was macht einen Bischof (aus)?“ (S. 21) auf den Punkt gebrachte Frage bezieht sich nicht nur auf den Weg der Oberhirten auf die Kathedra ihres jeweiligen (Erz-)Bistums, sondern wird von Weßels auch im Hinblick auf verschiedene Aushandlungsprozesse während der Amtsführung gestellt. Zentral ist die von der Autorin eingangs ausführlich thematisierte und problematisierte Quellengrundlage: Zeitgenössische Praktiken lassen sich nicht ohne den Umweg über eine sie beschreibende Quelle untersuchen (S. 26) und Selbstzeugnisse mittelalterlicher Kirchenfürsten mit Reflexionen über die eigene geistliche Würde sind nur äußerst spärlich überliefert (S. 21). Weßels hat sich daher auf die Bistums- und Bischofsgeschichtsschreibung konzentriert, die freilich nicht unkritisch herangezogen werden darf, aber – zumal ihre Verfasser oftmals aus dem kirchlichen Umfeld der Oberhirten stammten – zumindest „Bilder von möglichen Vorstellungen“ vermittelt und daher „Rückschlüsse zum Stellenwert von Selbstbildungspraktiken in einem ausgewählten Kreis einer mittelalterlichen Führungselite und damit zum Subjektverständnis einer vormodernen Epoche“ (S. 21 f.) ermöglicht. Dieses Vorgehen erlaubt im Verlauf der Studie einen interessanten Einblick in mehrere verschiedene spätmittelalterliche Pontifikate in unterschiedlichen (Erz-)Diözesen – behandelt werden etwa Beispiele aus Trier, Magdeburg, Merseburg, Verden, Bremen, Konstanz, Mainz und Augsburg.
Konkret ist nach einer die grundsätzlichen Dispositionen der Arbeit vorstellenden Einleitung zunächst ein Kapitel der mittelalterlichen Bischofswürde gewidmet, in dem als Basis für die nachfolgenden Ausführungen dezidiert mögliche Wege auf eine episkopale sedes, die damit verbundenen Praktiken bei Wahl und Erhebung sowie die verschiedenen Aspekte der bischöflichen Herrschaft, „Aufgabenspektrum“ genannt (S. 31), dargestellt werden. Der Aufbau der sich anschließenden Untersuchung ist dreigeteilt: Unter dem Titel „Formierung in ein bischöfliches Selbst“ geht es um den Umgang gerade erst in das Bischofsamt gelangter Männer mit ihrer neuen Würde und um die Praktiken, mit denen sie sich ganz generell und in ihrem Alltag an die neuen Aufgaben sowie die an sie gerichteten Erwartungen anpassten. Deutlich wird hierbei, dass in den Viten des Magdeburger Erzbischofs Friedrich von Beichlingen und der Trierer Erzbischöfe Balduin von Luxemburg und Otto von Ziegenhain explizit Hinweise auf Formen der Subjektwerdung aufscheinen: Friedrich ließ sich etwa vom Theologen Heinrich Tacke anleiten, setzte die kurialen Dekrete um und genoss die Achtung des Nikolaus von Kues, worin Weßels zufolge deutlich wird, dass er als neuer Oberhirte „durch übende Teilhabe, Nachahmung und Unterweisung“ eine Schärfung seines Profils im klerikalen Wirkungskontext angestrebt habe, „um Anerkennung und Akzeptanz zu erlangen“ (S. 58 f.). Auch in Balduins und Ottos Lebensbeschreibungen werden Aspekte der Frömmigkeit, beispielsweise eine Nähe zu den Kartäusern, hervorgehoben, zugleich beziehen die Verfasser der Viten weitere Eigenschaften und Aktionen der beiden, darunter auch die Kriegsführung, im Sinne erstrebens- wie lobenswerter Charakteristika auf die Eignung der Oberhirten für ihr Amt und auf weitere Bemühungen, dieses auszufüllen (S. 61–84).
Der Amtsführung ist das folgende große Kapitel namens „Erzählerische Momente bischöflicher Subjekt-Aushandlung“ gewidmet, das die drei Herrschaftskontexte „Landesherrschaft“, „Geistlichkeit“ und „(Bischofs-)Stadt“ beleuchtet und hier untersucht, wie sich ein mittelalterlicher Kirchenfürst „in seinen alltäglichen sozialen Interaktionen immer wieder neu als Herrschaftssubjekt erkennbar machen und sich immer wieder neu (selbst) aushandeln muss[te]“ (S. 87). Da mit diesem Teil der Untersuchung ein in der Bischofsherrschaft sehr breiten Raum einnehmendes Thema angesprochen wird, bietet sich die von Weßels für den Aspekt der Landesherrschaft vorgenommene Binnengliederung an, die mit praxeologischem Untersuchungsanspruch auf „Regierungsstile“ (S. 89–111) und „Kommunikation“ (S. 111–137) abhebt. Weil im Inhaltsverzeichnis allerdings nur die erste und zweite Gliederungsebene erfasst werden, ist der gezielte Zugang zu diesen Abschnitten bei der wiederholten Lektüre etwas erschwert. Generell wäre zu überlegen gewesen, ob die Nummerierung der Unterkapitel nicht vielleicht an den Hauptkapiteln hätte ausgerichtet werden können, um eine noch bessere Orientierung im Buch und in der Thematik zu ermöglichen. Wiederum mit einer breiten Palette unterschiedlicher Beispiele stellt Weßels heraus, dass die Bischofschroniken die in ihrem Mittelpunkt stehenden Geistlichen keinesfalls stereotyp präsentieren, sondern die jeweiligen Aushandlungen in ihren spezifischen Verläufen und Eigenschaften dargestellt werden. Insbesondere hat Weßels in den Chroniken je nach Situation und involvierten Akteuren verschiedene „Praktiken der Inszenierung, Integration und Nachahmung“ erkannt, die mit dem Ziel eingesetzt wurden, die (Erz-)Bischöfe als Herrschaftsträger mit spezifischer Herrschaftskompetenz, erkennbar in ihrer Aushandlungsfähigkeit, zu zeigen (S. 186).
Dem Umstand, dass diese Prozesse nicht immer ohne Schwierigkeiten und zudem mit wechselndem Erfolg abliefen, trägt Weßels mit dem letzten der drei großen, auf praxeologische Fragen abhebenden Kapitel Rechnung. Unter dem Titel „Besondere Herausforderungen im Aushandlungsprozess“ werden Faktoren thematisiert, die die Bischofsherrschaft einengen und in Teilen auch zu einem verfrühten Ende bringen konnten. Unter dem Stichwort „Probleme“ werden persönliche Eigenschaften der Oberhirten wie ihr Alter oder Krankheiten ebenso behandelt wie das Nachdenken eines Bischofs über seine Eignung für das Amt, eine gegebenenfalls daraus folgende Resignation oder auch die zumeist negative Wahrnehmung landfremder Bischöfe und die sich anschließenden Beeinträchtigungen ihrer Herrschaft. Dies leitet über zu den unter „Störungen“ gefassten Aspekten der fehlenden Akzeptanz im Bistum sowie der einander widerstreitenden Vorstellungen davon, wie das Bischofsamt nach Meinung des Oberhirten und mit ihm kommunizierender Akteure ausgefüllt werden sollte. Weßels fragt hier jeweils nach Reaktionen auf die einzelnen Umstände und versucht, daraus auf das Selbstbild der Kirchenfürsten zu schließen und zugleich die Bewertung der Ereignisse in den episkopalen Viten herauszustellen. Die wiederum vielfältigen Beispiele zeigen, dass der kritische, reflexive Blick eines Bischofs auf seine Eignung für das hohe geistliche Amt als besonders wichtig angesehen wurde und es grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten gab, auf einschränkende Umstände einzugehen und sie gegebenenfalls zu überwinden. Weßels sieht demzufolge „in der Bischofsperformanz“ eine „spezielle Verflechtung zwischen Ausgrenzung und Anerkennung, aber auch zwischen Anpassung und Eigensinn“ (S. 239).
Die am Schluss sehr griffig zusammengefassten Ergebnisse der Arbeit werden von einem Blick auf vier Forschungsdesiderata abgerundet (S. 244 f.: „Formierung“ – Fokus auf (erz-)bischöfliche Karrieren; „Soziales Netzwerk“ – Blick auf geistliche wie weltliche Akteure im Umfeld der Oberhirten; „Materialität und Artefakte“ – Erforschung der „Kleidung“, der „Wohnverhältnisse“ und des „Reiseverhalten[s]“; „Körperlichkeit“ – Umgang der Kirchenfürsten mit dem eigenen Körper, seine „Präsenz in Konfliktfällen“ und der Umgang mit dem „Verfall des Körpers“). Insgesamt wird deutlich, dass der von Weßels gewählte und in einer nachvollziehbar strukturierten Studie zur Anwendung gebrachte methodische Zugang die Möglichkeit bietet, Aushandlungsprozesse mittelalterlicher geistlicher Herrschaftsträger an konkreten Beispielen zu beobachten und Parallelen wie Unterschiede herauszustellen. Zudem liefert die Arbeit wichtige Hintergründe dazu, wie sich zumeist nachgeborene adlige Söhne in ihre neue Funktion als geistlicher Oberhirte einfanden und welche Schwierigkeiten sowie Missverständnisse es im Kontakt mit den Adressaten ihrer Performanz geben konnte. Mit Blick auf die Quellenbasis und die kaum leicht zu beantwortende Frage, wie es um das Verhältnis der Quellenaussagen zur historischen Wirklichkeit bestellt ist, regt die Arbeit die Frage an, ob die untersuchten Beispiele repräsentativ für den Episkopat des Reiches stehen können. Zu überlegen wäre auch, ob sich Änderungen in den bischöflichen Handlungsspielräumen, die im Laufe des Spätmittelalters auftreten konnten, möglicherweise in unterschiedlichen Selbstbildungsprozessen niedergeschlagen haben. Abseits kleiner formaler Kritikpunkte, zu denen das knappe Inhaltsverzeichnis und das Fehlen eines Registers gehört, zeigt Ines Weßels’ Studie in sehr anschaulicher, weiterführender Weise die Chancen eines praxeologischen Zugangs zu episkopalen Lebensbeschreibungen auf und erweitert das Spektrum der derzeitigen bischofsgeschichtlichen Forschungen um einen sicherlich neue Arbeiten anregenden Weg, die Amtsübernahme und die Herrschaft mittelalterlicher Kirchenfürsten zu untersuchen.