Dominik Büschken stellt in seiner 2019 als Dissertation eingereichten Monographie Herkunft als Argument, die im Kontext des Sonderforschungsbereichs 1167 „Macht und Herrschaft“ entstanden ist, die Frage in den Mittelpunkt, welche Funktion soziale Mobilität für die englische Gesellschaft des 12. Jahrhunderts hatte. Untersucht wird dazu sowohl die zeitgenössische Wahrnehmung als auch Deutung und Funktion solcher Mobilität. Die Arbeit fußt auf der Kenntnis bereits erbrachter Forschung, dass soziale Mobilität durchaus Teil der vormodernen Alltagserfahrung war, obgleich sie nicht der sozialen Norm entsprach und zeitgenössische Vorstellungen der sozial ungleichen Gesellschaftsordnung zu untergraben scheint.
Welche Narrative und Erklärungsmuster wurden herangezogen, um soziale Mobilität in einer Gesellschaft logisch zu erklären, die auf der christlichen Erlösungserzählung fußte, dass soziale Ungleichheit zwar im Jenseits aufgelöst wird, für das Diesseits jedoch konstituierend ist? Deutlich wird an dieser Stelle, dass der vermeintliche Wunsch nach Chancengleichheit einen Unterschied zwischen Moderne und Vormoderne markiert. Denn soziale Mobilität als Ausgleich von Chancenungleichheit auf Grund von sozialer Herkunft kann nur dann als etwas Positives betrachtet werden, wenn das Gebot gleicher Chancen für alle gilt. Ansonsten erscheint die Mobilität als Irritationspunkt innerhalb der (göttlich) gegebenen Ordnung, die es zu stabilisieren gilt. Deutlich tangieren diese Zusammenhänge die Frage danach, was die (zeitgenössische) Gesellschaft eigentlich war. Die Arbeit ist somit auch als Beitrag zu der Frage zu verstehen, welche Eigenlogiken die vormoderne Gesellschaft ausmachen.
Zunächst ungewöhnlich erscheint, dass die eigentliche historische Untersuchung des Quellenmaterials erst im sechsten Kapitel erfolgt und den theoretischen und methodischen (Vor-)Annahmen somit nach der Einleitung noch vier Kapitel eingeräumt werden. Jedoch gelingt es Büschken durchgängig, die meist soziologisch aufgeladenen Hintergründe produktiv und schlüssig an die geschichtswissenschaftliche Fragestellung zurückzubinden.
Das erste Theoriekapitel (S. 33–87) thematisiert die Abgrenzung der Vormoderne von der Moderne aus einer strukturfunktionalistischen und systemtheoretischen Perspektive. Ziel des Kapitels ist es herauszuarbeiten, wie die sozialen Strukturen und soziale Ungleichheiten der Vormoderne beschrieben und erklärt werden können. Um sich dieser Frage zu nähern, setzt sich der Autor mit dem Theorieangebot der Soziologie auseinander und wählt die Systemtheorie Luhmanns als perspektivierende Inspirationsquelle für die theoretischen Aspekte seiner Arbeit. Gleichzeitig grenzt sich Büschken davon ab, dieses soziologische Theorieangebot als Methode für seine historische Arbeit nutzen zu wollen, denn „die Soziologie gibt keine Anwendbarkeit vor, sondern entwickelt Theorien, die der Überprüfung auf historische Gesellschaften [sic!] erst durch den Historiker unterzogen werden“ (S. 79). Büschken arbeitet anhand der systemtheoretischen Perspektiven heraus, dass die mittelalterliche Gesellschaft als „stratifiziert und geschichtet“ beschrieben werden kann, und leitet damit über in das zweite Theoriekapitel (S. 89–146), welches sich mit vormodernen gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien beschäftigt. Insbesondere diskutiert Büschken in diesem Kapitel Funktionalität in der ständischen Gesellschaft. Das dritte Theoriekapitel (S. 147–197) nimmt das 12. Jahrhundert als Zeit der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung in den Blick. Als zentrales Beispiel wird die Entstehung der Universitäten herangezogen. Die Ausdifferenzierung durch die Entwicklung der Gelehrtenkultur wird als Ermöglichung individueller sozialer Mobilität durch die Aneignung von Wissen betrachtet. Den in diesem Kontext wichtigen mediävistischen Diskurs um das Thema der „Eliten“ erfasst Büschken prägnant und es gelingt ihm, die Diskussion durch eine Anbindung an die Mobilitätsforschung galant zu drehen, hin zu einer Frage nach den Rekrutierungsmechanismen der vormodernen Gesellschaft. Solche Patron/Klient-Verhältnisse arbeitet Büschken als Merkmal der vormodernen Gesellschaft in seinem vierten Theoriekapitel (S. 199–270) heraus. Er betont, dass im 12. Jahrhundert der Mechanismus der Rekrutierung sich zwar weiterhin an den Kriterien der Abstammung und Herkunft von Personen orientierte, jedoch zunehmend auch funktionale Kriterien wichtiger wurden – was von den Zeitgenossen als Störung der Ordnung wahrgenommen wurde. Ausdruck dieser Störung waren der Vorwurf der ambitio, welche eng verknüpft war mit Gier und Stolz (S. 208–241), der scientia lucrativa, des pejorativ besetzten weltlichen Erfolgs (S. 242–248), sowie der homines novi, denen Tugenden fehlten (S. 248–269). Anzumerken ist, dass eine umfassendere Darstellung des Forschungsstandes zu virtus bereits an dieser Stelle – und nicht erst in den Schlussbetrachtungen – zu erwarten gewesen wäre.
Kapitel sechs (S. 271–387) untersucht an insgesamt fünf Fallbeispielen, wie soziale Aufsteiger in der zeitgenössischen Literatur rezipiert wurden. Das erste Fallbeispiel (S. 272–296) behandelt Ranulf Flambard (1060–1128). Die Rezeption seines sozialen Aufstiegs analysiert Büschken anhand der Schriften von sechs Historiographen: Des Libellus de Exordio (c. 1104–1109) von Symeon von Durham, der Historia Ecclesiastica (zw. 1125 und 1133) von Ordericus Vitalis, der Gesta Regnum Anglorum und Gesta Pontificum Anglorum (beide 1126 abgeschlossen) von Wilhelm von Malmesbury, der Schriften Johannes‘ von Worcester, Heinrichs von Huntingdon und Rogers von Howden. Insgesamt wird die Position Ranulfs als Akteur zwischen Königshaus und Kirche mit dem häufigen Vorwurf der ambitio negativ bewertet, wobei seine niedere Herkunft als Grund für seine vermeintlichen Verfehlungen und Tugendlosigkeit angeführt wurde. Nach diesem ersten Beispiel, in dem niedere Herkunft durch die Zeitgenossen als Negativargument genutzt worden war, um Ranulf zu kritisieren, geht Büschken anhand einer Untersuchung der Rezeption des sozialen Aufstiegs von Nicholas Breakspear (c. 1100–1159), dem späteren Papst Hadrian IV., der Frage nach, ob eine solche niedere Herkunft auch als Positivargument genutzt werden konnte (S. 296–306). Im Gegensatz zur Textstruktur des ersten Fallbeispiels ordnet Büschken die Rezeptionen hier nicht nach Autoren, sondern nach Textgattungen an. Er nimmt zuerst hagiographische Schriften in den Blick – etwa die Vita Hadrians IV. von Kardinal Boso de Camera – und analysiert, dass Nicholas hier explizit vom Vorwurf der ambitio freigesprochen und sein Aufstieg mit göttlichem Willen begründet wird. Auch die untersuchten historiographischen Schriften zeichnen ein positives Bild, indem sie die niedere Herkunft als nach dem christlichen Ideal positiv besetzte Armutserfahrung in Form einer klerikalen Tugend markieren. Im dritten Fallbeispiel wird die Rezeption des Aufstiegs von Thomas Becket (1118–1170) untersucht (S. 306–350). Sein Aufstieg wurde sowohl hagiographisch als auch historiographisch breit und teil kontrovers rezipiert, aber insgesamt positiv und wichtiger wahrgenommen als seine soziale Herkunft. Im vierten Fallbeispiel (S. 350–367) wird der Aufstieg von Wilhelm de Longchamp (gest. 1197) untersucht, der durch die Förderung seines Herren Richard I. an Motive des Aufstiegs Ranulfs anknüpft. Wilhelm wird als jemand beschrieben, der sein Amt missbrauche, für dieses ungeeignet sei, und auch ihm wird wieder ambitio vorgeworfen. In der Analyse der Rezeption des fünften Aufsteigers Wilhelm Marshal (S. 367–387) stellt Büschken schließlich eine augenscheinlich entscheidende Frage: „Wenn Aufstieg per se den Verdacht der ‚ambitio‘ befeuerte […], wie konnten Aufsteiger soziale Normen respektieren, wenn ihr Aufstieg schon mit ihnen kollidierte?“ (S. 367).
Daran anknüpfend fasst Büschken zusammen, dass sozialer Aufstieg als das Erlangen einer sozialen Position, die nicht mit der geburtsständischen Position übereinstimmte, in der vormodernen Gesellschaft als ein kritisch kontextualisierter Grenzfall betrachtet werden muss, der zwar häufig wahrgenommen wurde, aber widersprüchlich blieb. Akzeptierte Deutungsmuster des wahrgenommenen sozialen Aufstiegs waren Glück, (göttliche) Vorsehung und in Ausnahmefällen Patronage.
Für eine weiterführende Betrachtung des Deutungsmusters der rota fortunae wäre eine stärkere Ausarbeitung des siebten Kapitels (S. 289–395) sinnvoll erschienen, das an dieser Stelle leicht durch seine Kürze irritiert, obgleich es an Überlegungen aus dem zweiten Theoriekapitel und den Fallbeispielen anschließt.
Insgesamt gelingt Büschken eine gut und spannend lesbare Monographie und ein sehr relevanter Beitrag zur mediävistischen Forschung, der sich intensiv mit der zeitgenössischen Quellensprache auseinandersetzt und gleichzeitig fruchtbar soziologische Theorien einbindet. Nicht zuletzt lotet die Arbeit die Fächergrenzen zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaft aus und ist somit als gewinnbringender methodologischer Beitrag zur Geschichtswissenschaft zu verstehen.