Für die transnationale Erforschung von Nationalsozialismus und Faschismus bieten die darstellenden Künste ein ergiebiges Untersuchungsfeld. Die Hamburger Dissertation des Musikwissenschaftlers Tobias Reichard analysiert die deutsch-italienischen Musikbeziehungen der 1930er- und frühen 1940er-Jahre auch für die Geschichtswissenschaft anschlussfähig und anregend. Die breit gefächerte und dichte Studie unternimmt eine regelrechte Tour d’horizon der nationalsozialistischen und faschistischen Musikpolitik. Reichards Grundthese lautet, dass Deutschland und Italien nach 1933 füreinander die wichtigsten musikpolitischen Bezugspunkte gewesen seien. Mit dieser Stoßrichtung setzt sich das Buch von Benjamin Martins stärker europäisch orientierter Einbettung der deutsch-italienischen Kulturbeziehungen ab und geht dafür entlang dreier Fragekomplexe stärker in die Tiefe: der wechselseitigen Beeinflussung der Musikpolitik, (Dis-)Kontinuitäten im Musikdiskurs sowie der Rolle von Musik als Instrument außenpolitischer Regimestabilisierung.1 Als zentrales Ergebnis sieht Reichard den Kulturaustausch weniger als „Ursache als vor allem Symptom politischer Annäherung“ (S. 419) zwischen beiden Regimen. Die Studie schöpft, entsprechend ihrem Fokus auf staatliche Akteure und öffentliche Institutionen, aus Ministerial- und Institutionenarchiven mit neuem Material zu wechselseitigen Wahrnehmungs- und Transferprozessen – von nationalen Stereotypisierungen über institutionelle Lernprozesse bis zu konkreten Austauschprojekten. In den Kapiteln wählt Reichard – der ideologie- und diplomatiegeschichtlichen Periodisierung der deutsch-italienischen Beziehungen folgend – eine komplexe Darstellungsform: Er kombiniert den Vergleich der jeweiligen nationalen Aktionsfelder mit beziehungsgeschichtlichen Perspektiven, verbindet ein chronologisches mit einem thematischen Vorgehen. Dieses Verfahren stellt dem Lesefluss durchaus einige Hürden entgegen und verwischt stellenweise wichtige Einsichten.
Im zeitlich zurückgreifenden zweiten Kapitel zur Politisierung der Musikbeziehungen in den 1920er-Jahren steht die Suche beider Länder nach neuen musikpolitischen Strategien auf dem Feld der ,Auswärtigen Kulturpolitik‘ und nach kulturellen Feindbildern wie dem ,Musikbolschewismus‘ im Mittelpunkt. Hier zeigt der Vergleich, dass es sowohl der Weimarer Kulturdiplomatie ebenso wie dem frühen italienischen Faschismus an einer stringenten Programmatik, vor allem aber an Infrastrukturen und finanziellen Mitteln für musikalische Auslandsrepräsentation mangelte. Allerdings neigt Reichards Startpunkt in den 1920er-Jahren dazu, den staatlichen Einfluss auf den kommerziell-professionellen Musikbetrieb zu überschätzen. Zudem lässt er die Propagandainitiativen, -apparate und -mittel während des Ersten Weltkriegs außer Acht, die gerade im Kaiserreich zu einer ersten massiven kulturellen Mobilisierung und staatlichen Intervention auf dem Gebiet der Auslandspropaganda geführt hatten.2 Erhellend sind die Befunde zur Faschismus-Faszination progressiv orientierter deutscher Musikpublizisten, die im faschistischen Italien ein Laboratorium ästhetischer Modernität erblickten.
Das dritte Kapitel legt den Fokus auf die Entwicklung der musikpolitischen Institutionen nach der nationalsozialistischen Machtübernahme und stellt die Jahre 1933/34 als wichtige Transferphase heraus. Die berufsständischen Strukturen im faschistischen Italien dienten als bislang unterschätzte Referenz für den Aufbau und die Ausgestaltung der Reichsmusikkammer (RMK). Markierte die enge institutionelle Verflechtung der RMK als gleichgeschalteter Berufsorganisation mit dem Propagandaministerium als staatlicher Regulierungsbehörde ein deutsches Spezifikum, erwies sich wenig später das Goebbels-Ministerium als Orientierungspunkt für die Organisation des italienischen Ministero della Cultura Popolare. Schmaler fallen demgegenüber die Befunde zu staatlichen Lenkungsversuchen der Musikbeziehungen, gerade mit Blick auf wechselseitige Gastspiele, aus: erstens, weil die Transformationen der deutschen Kulturdiplomatie nach 1933 weitgehend bekannt sind; zweitens – und das gilt auch für die übrigen Kapitel des Buches –, weil staatliche Überlieferungen und gelenkte Presseberichterstattung nur eingeschränkten Aufschluss über die Handlungsmacht von Musikschaffenden und cultural brokers geben; drittens, weil es 1933 zu keinem unmittelbaren Aufschwung der bilateralen Musikbeziehungen kam. Da Reichard für die italienische Seite das kulturpolitische Interesse am austrofaschistischen Österreich bis 1935 ausblendet, bleibt ein wichtiger Erklärungsfaktor dafür außen vor.3
Das vierte Kapitel zur Proklamation der ,Achse Rom-Berlin‘ 1936 vergleicht die Mechanismen von Musikkontrolle und (Selbst-)Zensur nach der Festigung der NS-Herrschaft bzw. infolge der ,totalitären Wende‘ des italienischen Faschismus. Bietet sich hier ein instruktiver Einblick in die inneritalienischen Entwicklungen, stechen wiederum die Verflechtungen heraus, etwa bei der Zensur italienischer Opern im Nationalsozialismus oder deutscher Kompositionen mit Italien-Bezug durch die Reichsmusikprüfstelle. Bemühungen um ideologische Gemeinsamkeiten und Feindbilder standen in einem Spannungsverhältnis zu nationalen und gattungsspezifischen Stereotypen, etwa bei Opernhandlungen. Die deutsche Ablehnung von Luigi Dallapiccolas Volo di notte zeigt zudem exemplarisch, dass deutsche Definitionen von ,entarteter Musik‘ und faschistische Modernitätsvorstellungen nicht völlig zur Deckung gelangten. Konservative wie modernistische italienische Komponisten blickten ihrerseits unterschiedlich auf nationalsozialistische Exklusion und Zensur.
Das fünfte Kapitel behandelt mit der Ausdehnung der NS-Rassengesetzgebung auf Österreich und das Sudetenland sowie der Einführung der leggi raziali 1938 das Problemfeld des Antisemitismus. Angesichts der Fülle an Literatur zur Exklusion, Verfolgung, Emigration und Vernichtung jüdischer Musikerinnen und Musiker im Deutschen Reich bieten hier vor allem die italienischen Fallstudien zu Verfolgung, Deportation und Ermordung sowie zur Verknüpfung von faschistischem Rassismus und Afrika-Kolonialismus neue Einsichten. Ebenso haben die deutsch-italienischen Kollaborationen bei antisemitischen Verfolgungen oder Italien als Station aus dem Deutschen Reich in die Emigration bislang wenig Beachtung gefunden. Teilweise offen bleibt die Frage, worin die musikpolitischen Spezifika der Exklusionspraktiken bestanden oder ob sich hier in erster Linie umfassendere politisch-gesellschaftliche Entwicklungen spiegelten. Für das 1938 abgeschlossene deutsch-italienische Kulturabkommen bietet Reichard eine überzeugende Neuinterpretation an, indem er die Inszenierung kultureller Begegnungen als Form politischer Sinnstiftung herausstellt. Die musikalische Ausgestaltung von Hitlers Italien-Besuch wenige Monate zuvor, deren Schilderung das Buch eröffnet, führt die performativ-mediale Dimension faschistischer Politisierung eindrücklich vor.
Das sechste Kapitel widmet sich dem deutsch-italienischen Musikbetrieb während der Kriegsjahre bis zum Zusammenbruch des Mussolini-Regimes 1943. Kriegsmobilisierung, der nochmals intensivierte Musikaustausch zwischen den Verbündeten, die respektiven Besatzungs(musik)politiken, die Rolle internationaler Musikerorganisationen und die Redefinition von musikalischem Modernismus bilden ein denkbar weites Panorama der Forschung. Reichard ergänzt es um eigene Fallstudien wie zur italienischen Besatzung auf dem Balkan und um Vergleichsperspektiven, etwa zur musikalischen Truppenbetreuung. Starke Asymmetrien, beispielsweise bei den Protesten gegen die deutsche Besatzungspolitik, oder Exkurse über die eigentlichen Musikpraktiken hinaus bilden die Kehrseite dieses dokumentarischen Anspruchs. Hervorzuheben gegenüber früheren, germanozentrischen Sichtweisen ist Reichards grundlegender Befund der Reichweite der Musikbeziehungen im Krieg.
In der Gesamtschau besticht die Studie durch ihren Abdeckungsgrad der deutsch-italienischen Musikbeziehungen, die konsequente Verbindung von vergleichenden und beziehungsgeschichtlichen Perspektiven, einen differenzierten Blick für Transfers und Abgrenzungen sowie eine im Anmerkungsapparat fast überbordende dokumentarische Fülle. Für ein deutschsprachiges Publikum liegt der Lesegewinn vor allem auf der italienischen Seite sowie bei den bilateralen Verflechtungen. Bedenkenswert ist der abschließende Vorschlag, die deutsch-italienischen Beziehungen stärker von der bis in die Forschung hinein wirkmächtigen zeitgenössischen Metapher der ,Brücke‘ abzulösen und als ,Brückenköpfe‘ zu verstehen. In dieser Hinsicht bieten sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine geweitete transnationale bis hin zu einer globalen Geschichte faschistischer Kultur(beziehungen). Hier liegt für das Deutsche Reich der Blick nach Japan nahe.4 Ein Fokus auf die autokratischen Regime in Österreich und Ungarn, aber auch in Lateinamerika würde darüber hinaus die Eigenlogiken der deutsch-italienischen Musikbeziehungen noch stärker herausstellen und teilweise relativieren. Zukünftigen Forschungen bietet Reichards Studie somit wichtige Anregungen und eine substanzielle Grundlage.
Anmerkungen:
1 Benjamin G. Martin, The Nazi-Fascist New Order for European Culture, Cambridge, Mass. 2016.
2 Siehe etwa Alexandre Elsig, Les shrapnels du mensonge. La Suisse face à la propagande allemande de la Grande Guerre, Lausanne 2017.
3 Vgl. Maddalena Guiotto / Helmut Wohnout (Hrsg.), Italien und Österreich im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit (Schriftenreihe des Österreichischen Historischen Instituts in Rom 2), Wien 2018.
4 Vgl. Hans-Joachim Bieber, SS und Samurai. Deutsch-japanische Kulturbeziehungen 1933–1945 (Monographien aus dem Deutschen Institut für Japanstudien 55), München 2014, sowie jetzt Daniel Hedinger, Die Achse. Berlin, Rom, Tokio. 1919–1946, München 2021.