R. Otto u.a.: Sowjetische Kriegsgefangene im System der Konzentrationslager

Cover
Titel
Sowjetische Kriegsgefangene im System der Konzentrationslager.


Autor(en)
Otto, Reinhard; Keller, Rolf
Reihe
Mauthausen-Studien 14
Erschienen
Anzahl Seiten
351 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Falk Pingel, Bielefeld

Mehr als 100.000 sowjetische Kriegsgefangene wurden während des Zweiten Weltkrieges von der Wehrmacht entweder zur sofortigen Ermordung oder zu einem meistens ebenso tödlichen Arbeitseinsatz in die Konzentrationslager überstellt. Ihr Schicksal ist bisher zwar in Untersuchungen zu einzelnen Lagern oder Gruppen behandelt worden, doch Reinhard Otto und Rolf Keller haben nach jahrelangen, sorgfältigen Forschungen die erste umfassende Studie zu diesem Thema vorgelegt. Mit ihrer Untersuchung zu den sowjetischen Kriegsgefangenen im System der Konzentrationslager (KZ) führen sie die Forschung zu zwei wesentlichen Terrorbereichen der nationalsozialistischen Herrschaft zusammen, nämlich den Kriegsgefangenenlagern unter der Verantwortung der Wehrmacht auf der einen und den Konzentrationslagern unter der Leitung der „Schutzstaffel“ (SS) auf der anderen Seite.

Die Autoren zeigen, dass die Wehrmacht mit der „Aussonderung“ und Übergabe von sowjetischen Kriegsgefangenen zur Erschießung an die SS oder deren Überstellung in Konzentrationslager tiefer in Mordaktionen und menschenunwürdige Behandlung involviert war, als in breiten Bevölkerungskreisen trotz Wehrmachtsausstellung und intensiver Forschung angenommen wird. Die in einem nüchternen Stil verfasste, materialreiche und sorgfältig recherchierte Studie mag in erster Linie von Wissenschaftlern zur Kenntnis genommen werden, ihre Ergebnisse sind aber auch für eine öffentlich wirksame Darlegung des Schicksals der sowjetischen Kriegsgefangenen und der Rolle der Wehrmacht etwa in Ausstellungen und Gedenkstätten wichtig.

So eindrücklich die relativ wenigen bisher vorliegenden Zeugenberichte sein mögen, sie können in der Regel nicht die Frage nach deren Allgemeingültigkeit und vor allem nicht nach der jeweiligen Verantwortung der Handlungsträger im Herrschaftsgefüge des Nationalsozialismus beantworten. Das Material, das die Autoren nun ausgebreitet haben, ermöglicht es, nicht nur Lebensläufe, die bisher verdeckt waren, isoliert zu rekonstruieren, sondern sie in Gruppenschicksale einzuordnen und die Verantwortlichkeiten klar zu dokumentieren. Die Forschungen von Keller und Otto helfen, die Reichweite von Verhaltensmustern aufzudecken, die in Zeugenberichten zum Ausdruck kommen. Sie bieten NS-Gedenkstätten eine „Übersetzungshilfe“ für die Interpretation vorliegender Zeugenberichte. Diese Forschungen bringen aber auch unmittelbar Nutzen für viele Familien in Russland, Weißrussland und der Ukraine, da das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen während der Sowjetzeit weitgehend tabuisiert war, denn diese waren von Stalin unter Kollaborationsverdacht gestellt worden. Jetzt bietet die Studie grundlegende Informationen, die helfen, endlich Gewissheit über das Schicksal Verstorbener zu erhalten, weswegen der russische Botschafter in Wien sich dafür eingesetzt hat, das Buch ins Russische zu übersetzen.

Die Autoren rekonstruieren Stationen der Gefangenschaft über Arbeitseinsatz, Bestrafungen, Verlegungen in andere Lager und die Sterblichkeit einzelner Gruppen oder Lagerbereiche und ordnen sie politisch-ökonomisch bedingten Veränderungen in Behandlungsstrategien von Wehrmacht und SS gegenüber den sowjetischen Kriegsgefangenen zu. Sie zeigen die Handlungswege der Täter auf, die ein Schutzgeflecht einer vernichtungswilligen Bürokratie aufbauten, die ihren Handlungen den Anschein rechtsförmig geregelten und somit als legitim geltenden Handelns verlieh.

Das Verstehen der administrativen Seite des Vernichtungsprozesses ist wichtig, denn wenn es keine Erklärung gäbe, „bleibt wenig anderes als ‚sinnlose‘ Gewalttaten und Täter zu pathologisieren oder zu mystifizieren – und damit außerhalb dessen verorten, was als soziologisches Forschungsfeld definiert ist“, betonte Michaela Christ bereits 2011.1 Die Arbeit von Otto und Keller verbindet Zahlen mit Dokumenten der Täterseite und Berichten der Opfer und macht damit auch erstere sprechend.

Die Autoren unterscheiden zwei Kategorien von Gefangenen: Soldaten, die ihren Status als Kriegsgefangene auch nach der Überstellung ins KZ behielten, und solchen, denen er aberkannt wurde. Der sogenannte „Kommissarbefehl“ des Oberkommandos der Wehrmacht vom Juni 1941 und die darauf aufbauende mörderische Zusammenarbeit zwischen Wehrmacht, Gestapo und SS sah die „Aussonderung“ von politischen Funktionären, „Berufsrevolutionären“ sowie „allen Juden“ und deren anschließende „Exekution im nächstgelegenen KZ“ vor. Gemäß den Vereinbarungen zwischen Wehrmacht und SS nahm die Gestapo die „Aussonderungen“ in den der Wehrmacht unterstehenden Kriegsgefangenenlagern im Reich vor. Damit war nach Keller und Otto „der Zugriff der Gestapo auf sämtliche sowjetische Kriegsgefangene überall und ohne Einschränkung möglich“ (S. 115). Da diese Maßnahmen Völkerrecht verletzten (und nicht allein die Genfer Konvention zum Schutz von Kriegsgefangenen, der die Sowjetunion nicht beigetreten war), erkannte die Wehrmacht diesen als politische Gegner angesehenen Soldaten den Status als Kriegsgefangene ab. Damit entfiel die Verpflichtung zur weiteren bürokratischen Erfassung dieser Personen durch die Wehrmacht, die so eine Nachverfolgung von deren Schicksal als Kriegsgefangene – etwa durch das Internationale Rote Kreuz – unmöglich machte, sie aber nicht von der Verantwortung für die Entlassung der – ehemaligen – Kriegsgefangenen in den anonymen Tod entbinden konnte.

Die Autoren arbeiten minutiös die Befehlswege sowie Handlungs- und Beteiligungsstränge auf Seiten der Wehrmacht und des Reichssicherheitshauptamtes der SS von der „Aussonderung“ in den Kriegsgefangenenlagern bis zur endgültigen Erschießung in den dafür vorgesehenen Einrichtungen der Konzentrationslager heraus – eine erschreckende militärisch-polizeilich organisierte Bürokratie des Todes. Diesen „Aussonderungen“ fielen etwa 30.000 sowjetische Kriegsgefangene zum Opfer. Auf der Suche nach „effektiveren Lösungen“ als der Erschießung setzte die SS im KZ Auschwitz zur Ermordung der sowjetischen Kriegsgefangenen erstmals das Giftgas „Zyklon B“ ein, das nunmehr „bei der zukünftigen Massenvernichtung […] zur Anwendung“ (S. 141) gebracht werden sollte. Im Sommer 1942 wurde die systematische Überprüfung und „Aussonderung“ eingestellt, und politisch verdächtigte sowjetische Kriegsgefangene wurden überwiegend zum Arbeitseinsatz in die KZ überwiesen. Exekutiert werden sollten nur noch „Juden“ und „wirklich politisch untragbare Elemente“.

Von diesen aus politischen Gründen „Ausgesonderten“ unterscheiden die Autoren die von den Nazis als „Arbeitsrussen“ bezeichneten Sowjetbürger, deren Status als Kriegsgefangene auch nach der Einlieferung in ein Konzentrationslager erhalten blieb. Sie wurden weiterhin, obwohl KZ-Häftlinge, auch in der Wehrmachtsstatistik geführt, sodass die Wehrmachtsauskunftstelle im Oberkommando der Wehrmacht in der Lage war, ihren weiteren Lebens- bzw. Weg zum Sterben zu verfolgen. Für die Aufnahme dieser voraussichtlich über 100.000 „Arbeitsrussen“ wurde das noch im Aufbau befindliche KZ Majdanek bedeutend erweitert und der Grundstein für die Errichtung von Auschwitz-Birkenau gelegt. Allerdings hatte sich die SS auf die Übernahme großer Kontingente neuer Häftlinge gar nicht vorbereitet. So setzte im Winter 1941/1942 ein Massensterben der nur notdürftig untergebrachten und mangelhaft ernährten sowjetischen Kriegsgefangenen in den Konzentrationslagern ein, die in dieser Zeit kaum zu einem geregelten Arbeitseinsatz kamen, sondern gleichsam ungeregelt zu Tode gebracht wurden. Die Autoren resümieren: „In fast allen Konzentrationslagern betrieb die SS gegenüber den ‚Arbeitsrussen‘ […] eine aktive und passive Vernichtungspolitik.“ (S. 79) Nur zehn Prozent der im Oktober 1941 in die KZ eingelieferten „Arbeitsrussen“ lebten noch im Februar 1943. Zu dieser Zeit kamen in die KZ nur noch kleinere Kontingente sowjetischer Kriegsgefangener, die überwiegend zur Arbeit eingesetzt wurden und günstigere Überlebenschancen hatten.

Die Autoren verfolgen das Schicksal einzelner Gruppen so genau, wie es die Aktenlage überhaupt ermöglicht, mit dem Bestreben, dem System von Arbeitseinsatz und Vernichtung so viel innere Logik wie möglich zu unterstellen und für die Verhaltensweisen von SS, Gestapo und Wehrmacht Regeln zu finden. Dabei gehen sie auch auf Fluchtverhalten und Widerstandsaktionen der Kriegsgefangenen sowie deren Verfolgung und Bestrafung in den Konzentrationslagern ein. Es gelingt ihnen beispielsweise, in der Kombination von Aktenmaterial und Zeugenberichten detailliert den Aufbau eines weitverzweigten, mehrere Lager umfassenden Netzes von gegenseitiger Information, Hilfe und Vorbereitung offenen Widerstands zu rekonstruieren. Verdienstvoll ist auch ihr Versuch, die bisher wenig untersuchte und kaum bekannte Rolle von Frauen unter den gefangenen sowjetischen „Kommissaren“ stärker zu beleuchten. Diese wehrten sich zum Teil erfolgreich dagegen, dass ihnen mit der Einlieferung ins KZ der Kriegsgefangenenstatus aberkannt werden sollte.

Zum Schluss gehen die Autoren kürzer auf Kriegsgefangene anderer Nationen ein, die nicht von systematischen „Aussonderungen“ und Mordaktionen betroffen waren. Diese wurden oft wegen Widerstands (Sabotage, Fluchtversuch, unerlaubter Kontakt mit deutscher Bevölkerung) in ein KZ eingewiesen, dort aber in der Regel besser untergebracht und ernährt als die sowjetischen Häftlinge. Anders verhielt es sich bei zwei politisch in den Augen der Nazis schwer belasteten Gruppen: Die sogenannten „Rotspanier“ – Ausländer sowie Deutsche – hatten auf Seiten der Republikaner im spanischen Bürgerkrieg gekämpft. Sie wurden überwiegend ins KZ Mauthausen unter erschwerten Bedingungen eingeliefert. Ähnlich verhielt es sich mit den italienischen Militärinternierten, die nach dem Frontwechsel Italiens gefangen genommen worden waren und als „Verräter“ angesehen wurden; ihnen wurde offiziell der Status als Kriegsgefangene und damit der Schutz der Genfer Konvention aberkannt und auch sie hatten unter erschwerten, auszehrenden Arbeitsbedingungen und Misshandlungen zu leiden. Auch hinsichtlich der nicht-sowjetischen Gefangenen arbeiteten Oberkommando der Wehrmacht und Reichssicherheitshauptamt bei Verhandlungen darüber Hand in Hand, wie mit einzelnen Gefangenenkategorien verfahren werden sollte. Die Autoren zeigen an Beispielen aber auch, dass die Regeln nicht so festgezurrt waren, dass sie nicht Raum für willkürliche Übertretungen, Einschränkungen und Außer-Acht-Lassen boten.

Die Autoren haben ein bisher von der Forschung nur unzureichend beleuchtetes Thema mit ihrer informationsreichen, klar geschriebenen Studie erschlossen, die über den Kreis der Fachwissenschaftler hinaus Beachtung verdient, da sie zugleich erinnerungspolitisch von Bedeutung ist.

Anmerkung:
1 Michaela Christ, Die Soziologie und das „Dritte Reich“. Weshalb Holocaust und Nationalsozialismus in der Soziologie ein Schattendasein führen, in: Soziologie 40/4 (2011), S. 407–431, hier S. 423.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension