D. Hadwiger: Die deutsche „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ und der französische „Secours national“

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Titel
Nationale Solidarität und ihre Grenzen. Die deutsche „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ und der französische „Secours national“ im Zweiten Weltkrieg


Autor(en)
Hadwiger, Daniel
Reihe
Schriftenreihe des Deutsch-Französischen Historikerkomitees
Erschienen
Stuttgart 2021: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
408 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcel Boldorf, Faculté des Langues, Université Lyon 2 Lumière

Die Tübinger Dissertation, die im Kontext eines DFG/ANR-Forschungsprojektes zu „Evakuierungen im deutsch-französischen Grenzraum 1939–1945“1 entstand, widmet sich dem Vergleich der im Krieg dominierenden Wohlfahrtsorganisationen in den beiden Nachbarländern. Im Vordergrund steht die Frage nach der wechselseitigen Durchdringung von Politik und Fürsorge, während sozioökonomische Analysen – z.B. der Unterstützungsleistungen oder des Lebensstandardniveaus – ausgeklammert bleiben. Der Mehrwert der Studie liegt in der Beleuchtung der Transferprozesse zwischen NS-Diktatur und Vichy-Regime, d. h. in einer transnationalen Perspektive: Allerdings war diese Beziehung einseitig angelegt, denn es gab auf französischer Seite die Tendenz, sich dem deutschen Modell unter den Bedingungen der Besatzungsherrschaft anzunähern. Umgekehrt orientierte sich die zutiefst nationalsozialistisch geprägte Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) wenig an ihrem französischen Pendant. Dennoch findet sich unschwer eine Vergleichsebene, denn viele fürsorgepraktische Aufgaben, die sich etwa im Luftkrieg stellten, waren ähnlicher Art.

Ein Hauptaugenmerk liegt auf der Frage, inwieweit die Wohlfahrtsorganisationen für ideologiepolitische Zwecke instrumentalisiert wurden. Diese Analyse richtet sich auf ihre Funktionen der Unterstützung der Staatspropaganda, der Versorgung der Hilfesuchenden sowie der Differenzierung ihrer Klientel mittels Inklusion respektive Exklusion bestimmter Bevölkerungsgruppen. Die Untersuchung erstreckt sich auch auf die regionale Ebene, hauptsächlich auf der Grundlage von Landesarchiven bzw. Archives départementales, dringt allerdings kaum auf die lokale Ebene vor, die für die Fürsorgepraxis so relevant ist. Der Band gliedert sich in fünf komparativ angelegte Großkapitel zur Organisation der beiden Verbände, zu ihrer Ideologie („soziale Utopie“), zu den Praktiken der Fürsorgearbeit, zur „Entgrenzung“, d. h. der Überschreitung von (nationalen) Grenzen, sowie abschließend zur Auflösung der NSV bzw. zur Neuorganisation des Secours National nach dem Krieg.

Aus der Vielfältigkeit der Themenbehandlung können hier einige Aspekte exemplarisch herausgegriffen werden. Trotz aller Ähnlichkeiten und Annäherungsbewegungen unterschieden sich die beiden Organisationen a priori in einem Punkt: Das französische Prinzip der „Leidgemeinschaft“ umfasste alle Staatsbürger, während die NSV-Vorstellung der „Volksgemeinschaft“ dem Konzept einer selektiven „Volkspflege“ verpflichtet war: Letzteres basierte auf einer Bevorzugung der „würdigen“ deutschen Bevölkerung und grenzte die „Juden“, „Erbkranken“ und „Asozialen“ aus. Auch der Secours National blieb von der Vichy-Ideologie nicht unberührt. Die Werte der Arbeit, der Familie, des Vaterlandes sollten in die Fürsorgepraxis einfließen, waren aber insgesamt durch eine Praxis der Exklusion im traditionellen Sinn geprägt. Das Fehlen einer sichtbaren rassenbiologischen Grundlage schloss allerdings nicht aus, dass jüdische Hilfsbedürftige missachtet wurden, wie einige Nachweise lokaler Praktiken zeigen. In der NSV und dem angeschlossenen Winterhilfswerk entwickelte sich diese Exklusionspraxis über einen längeren Zeitraum und verschärfte sich graduell über die Dauer der NS-Herrschaft, besonders nach den Novemberpogromen von 1938.

Auf französischer Seite wusste der Secours National die Vorteile, die ihm zum Beispiel Enteignungen boten, durchaus zu nutzen: Nach der Arisierung des Pariser Hauptsitzes der Rothschild Bank eröffnete er in den leerstehenden Räumen seine Zentrale und nutzte in gleicher Weise noch weitere enteignete Immobilien. Der Verfolgung der als jüdisch definierten Personen gegenüber verhielt sich die Organisation meist passiv, man schaute weg. Da kein systematischer Entzug der französischen Staatsbürgerschaft für Juden stattfand, konnte der Anspruch, alle Franzosen zu retten, überdauern. Politische Gegner des Vichy-Regimes waren nicht offiziell ausgeschlossen, jedoch wurden Kommunisten oder Gaullisten vor Ort mitunter vernachlässigt. Auch blühte die alte Figur des „unwürdigen Armen“ wieder auf, der z.B. durch Alkoholismus seine Unterstützungswürdigkeit verlor. Jedoch hielt die aus der Rassenwertigkeitslehre hergeleitete Kategorie der „Asozialität“ nicht systematisch Einzug in die Fürsorgepraxis des Secours National.

Vom Grundgedanken her waren beide Organisationen nicht für einen Dienst im Ausland konzipiert. Wenn die NSV über diese Grenzen hinausgriff, lag der Fokus auf „artverwandten Völkern“ (S. 143), vor allem in den nord- und westeuropäischen Ländern, während die Unterstützung slawischer Volksangehöriger abgelehnt wurde. Dies wurde zum Beispiel virulent, wenn Osteuropäer als Zwangsarbeiter verschleppt worden waren. Im besetzten Frankreich war die NSV nur in den ersten Monaten der Besatzungsherrschaft bis Herbst 1940 aktiv. Wie die deutsche Besatzungsverwaltung rückte sie schnell auf das eroberte Gebiet vor und errichtete ihr Hauptquartier in Compiègne, in unmittelbarer Nähe des deutschen Oberbefehls. Die Fürsorgetätigkeit diente vor allem Propagandazwecken: Man betreute rund 90 Flüchtlingslager, die die aus dem Inneren Frankreichs zuströmenden Flüchtlinge aufnahmen, organisierte Speisungen und leistete andere Dienste, die im Wesentlichen denen der traditionellen „Wanderfürsorge“ entsprachen.

Als das Intermezzo der NSV-Aktivität auf französischem Boden endete, setzten sich deutschfreundliche Zeitungen, zum Beispiel des faschistischen Publizisten Marcel Déat, dem letzten Arbeitsminister des Vichy-Regime, aktiv für die Verbreitung deutscher sozialer „Errungenschaften“ in Frankreich ein. Aus diesen Kreisen stammte die Initiative zur Gründung eines Winterhilfswerks, während sich die Sozialbürokratie der deutschen Besatzungsverwaltung bei der Entwicklung eigener sozialpolitischer Initiativen zurückhielt. Verbunden mit einem gewissen Personenkult um Staatschef Pétain gründete sich im November 1940 die Entr’aide d’Hiver du Maréchal. Nach einigen Streitigkeiten wurde sie als Pariser Sektion in den Secours national integriert. Eine weitere kollaborationsbereite Organisation bestand 1942 bis 1944 mit dem Comité ouvrier de secours immédiat, der die Monopolrolle des Secours national erneut in Frage stellte, indem er sich eng an die Besatzungsmacht anlehnte. Solche Initiativen dienten vor allem der politischen Profilierung ihrer Leiter in den innerfranzösischen Machtränken unterhalb der deutschen Herrschaft. Manche Organisation bestand sogar nach 1945 weiter, z. B. bediente sich Gilbert Grandval, der französische Hochkommissar im Saarland, der Entr’aide française, wie sie nun hieß, um der saarländischen Bevölkerung die Vorzüge der französischen Sozialpolitik vorzuführen.

Die Vorzüge der vorliegenden Arbeit liegen in ihrem transnationalen Ansatz, der sich an neue NS-Sozialpolitikforschungen mit vergleichbarem Zuschnitt anlehnt.2 Obgleich Sozialpolitik zuvorderst ein nationales Projekt ist, gibt es auch grenzüberschreitende Aspekte, die sich nach 1945 mehrten. Wie hier gezeigt, waren sie auch schon im Zweiten Weltkrieg vorhanden. Die politikgeschichtlich interessierte, quellengesättigte Studie setzt für die ungleiche deutsch-französische Interaktionsgeschichte während der Besatzungszeit einen Markstein. Denn für die Periode zwischen 1940 und 1944 besteht nach wie vor ein Desiderat an Untersuchungen, die auf der Basis deutscher und französischer Quellen transnationale Prozesse näher beleuchten.

Anmerkungen:
1 Grundlegendes Abschlusswerk: Johannes Großmann u.a. (Hrsg.), Evakuierungen im Europa der Weltkriege – Les évacuations dans l‘Europe des guerres mondiales – Evacuations in World War Europe (Evakuierungen im Zeitalter der Weltkriege, Bd. 1), Berlin 2014.
2 Vgl. Sandrine Kott / Kiran Patel (Hrsg.), Nazism across Borders. The Social Policies of the Third Reich and their Global Appeal, Oxford 2018.

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