Cover
Titel
Experiment Moderne. Der sowjetische Weg


Autor(en)
Plaggenborg, Stefan
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Campus Verlag
Anzahl Seiten
401 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Obertreis, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Stefan Plaggenborg unternimmt mit diesem Buch den anspruchsvollen Versuch, die sowjetische Moderne zu umreißen, sie in einen europäischen Kontext zu stellen und ihren theoretischen Ertrag zu ermessen. Mit diesem Unterfangen betritt er in mehrerlei Hinsicht Neuland, denn die sowjetische Moderne ist bislang kaum und schon gar nicht über den Stalinismus hinaus thematisiert worden. Zudem ist selbst für Westeuropa noch lange kein Konsens darüber hergestellt, was die Moderne des 20. Jahrhunderts sei und wie sie zu erforschen wäre.

Dem Autor stellten sich zwei grundlegende Probleme: Erstens gilt es, eine Moderne zu entwerfen, in die Terror und Gewalt integriert sind, die sich vollkommen von jedem Fortschrittsoptimismus gelöst hat. Ausgangspunkt sind hier die Arbeiten von Zygmunt Bauman, der anhand des Holocaust die Ambivalenzen der Moderne aufzeigte. Zweitens müssen die Spezifika einer sozialistischen Variante herausgearbeitet werden, um sie mit anderen europäischen und damit auch kapitalistischen vergleichen zu können.

Plaggenborg geht diese große Aufgabe mit dem berechtigten Hinweis an, dass in westlichen theoretischen Ansätzen die Sowjetunion so gut wie nie vorkomme. Er wendet sich entschieden gegen die Ablösung der Theorie der Moderne von der Geschichte und unterscheidet zwischen der imaginierten „Moderne der Narrative“ als der in Texten beschworenen Entwicklungsoption und der „Moderne im Vollzug“ als der historischen Praxis. Narrative und Praxis sind ineinander verflochten. Theoretisch gesehen scheint es allerdings fraglich, ob diese Unterscheidung überhaupt aufrechterhalten werden kann.

Die historische Dimension vertieft der Autor dankenswerterweise, indem er auf eine Arbeit von Stephen Toulmin verweist, der die Moderne auf Descartes und das 17. Jahrhundert zurückführt.1 Ihre Grundpfeiler wie das Streben nach dauerhafter Gewissheit (wissenschaftlicher Erkenntnis), Systematisierung, Abstraktion und Rationalität sowie die Vorstellung von der tabula rasa haben die Moderne bis ins 20. Jahrhundert geprägt. Der potentiell sehr fruchtbare Bezug auf Toulmin geht dann allerdings in den Kapiteln nach und nach verloren und wird erst im Schlussteil wieder aufgegriffen.

Die sechs Kapitel behandeln die Revolutions- und Bürgerkriegszeit, Lenin als Typus einer konservativen Moderne, das Geschichts- und Zeitverständnis der Bolschewiki, Gewalt, den Staat und das Imperium. Dabei ist die Auswahl der Kapitelthemen nicht begründet und die Darstellung verlässt häufig den Bezugsrahmen Moderne. Stellenweise sind die Argumentationen in sich widersprüchlich. Der Autor denkt laut, statt für den Leser nachvollziehbar zu argumentieren.

Das Wesen der sowjetischen Moderne tritt uns vor allem dort entgegen, wo Plaggenborg sie in einer hochinteressanten, exzellenten Darstellung auf das Denken Lenins zurückführt. In seiner Auseinandersetzung mit Bogdanow 1908 verteidigte Lenin die orthodoxe Auffassung des Marxismus gegen alle neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse. Damit begründete er letztlich die mentale Ausrichtung der sowjetischen Wissenschaften, die neuere Ansätze und ganze Disziplinen, wie etwa die Psychologie, aus ihrem Erkenntnisinteresse und -zusammenhang ausblendeten.

Auch die Geschichts-, Zeit- und Zukunftsvorstellungen der Bolschewiki werden überzeugend als moderne Konzepte präsentiert. Sie waren unbedingt linear, zielgerichtet und ganz dem Marxismus-Leninismus verpflichtet. Anders als zur Revolutionszeit verknüpfte sich 1929 zu Beginn des Stalinismus das Handeln mit der Zeit. Zukunft wurde erreichbar, und die Menschen konnten und mussten sie sich nun selbst erarbeiten. Die Geschichtswissenschaft war nichts als „Selbstbeschreibung“ und „Mythologie“ (S. 109). Mit ihrer radikalen Geschichtslosigkeit zeigte sich die Sowjetunion extrem modern.

Von diesen herausragenden Kapiteln abgesehen erfahren wir vor allem etwas darüber, wo und wie die Sowjetunion nicht-modern war: bei der vormodernen Praxis der Folter und der nicht erreichten Disziplinierung der Bevölkerung im Stalinismus, im Weiterbestehen des „Maßnahmenstaates“ neben dem an Bedeutung gewinnenden „Normenstaat“ (in Anlehnung an Ernst Fraenkels Begrifflichkeit für den Nationalsozialismus) und im Festhalten an einem „veralteten Typus“ des territorial gedachten Imperiums mit den Ostblockstaaten.

Seine „integralistische Moderne“ erläutert Plaggenborg nur knapp am Ende des Schlussteils: alle Bereiche, von Politik bis Kultur, waren zentralistisch organisiert, Ausdifferenzierungsprozesse wurden verhindert. Im Stalinismus bildete sich diese Moderne voll aus und überlebte danach bis zur Perestroika. Die Gewalt hatte eine doppelte systemische Funktion: nicht nur zur Unterwerfung, sondern auch zur Verknüpfung aller Bereiche war sie vonnöten. Der Kollaps des Systems war das „Scheitern an der integralistischen Überforderung“ (S. 367). Die Entstalinisierung lässt sich als Übergang vom Gewaltregime zum Sozialstaat beschreiben.

Der kurze Verweis darauf, dass auch die westliche Moderne zu Integralismus neigte, besonders in den 60er- und 70er-Jahren, genügt jedoch nicht. Dieser vergleichende Aspekt hätte ausgeführt werden müssen, denn darin liegt die Möglichkeit, allgemeinere Charakteristika der Moderne herauszuarbeiten. Der allumfassende Fürsorgeanspruch des Staates und die ihm entsprechende Erwartungshaltung der Bürger sowie eine Krise infolge der Überbeanspruchung staatlicher Politik scheinen übergreifende Kennzeichen zu sein.

Doch hier wie an anderen Stellen findet eine Selbstbeschränkung in den behandelten Themen sowie im theoretischen Zugang statt. Politische Kultur (vgl. S. 343) oder eine Kulturgeschichte der Politik werden weitgehend ignoriert. Die vielen westlichen sozialwissenschaftlichen Modelle, die Plaggenborg immer wieder heranzieht, um sie meist wieder zu verwerfen, haben, wie der Autor selbst bemerkt, „bestenfalls partielle theoretische Signifikanz“ (S. 366). Sie führen immer wieder zu der Feststellung, dass die Sowjetunion ganz anders war. Wieso nicht umgekehrt vorgehen und fragen, wo die sowjetische einer westlichen Moderne ähnlich war?

Die Impulse neuerer Forschung werden nicht aufgegriffen, und so bleiben Aspekte, die schon jetzt ohne weiteres in einen europäischen oder sogar weitergehend internationalen Kontext gestellt werden könnten, ausgeblendet. Dazu zählen das Wirken der Massenmedien, Technikgläubigkeit und Fortschrittswahn sowie Umweltprobleme als das Ende von Wachstumsvisionen. Überlegungen zur globalisierten westeuropäischen Moderne wie bei Dirk van Laak 2, zur Hochmoderne wie bei James C. Scott 3 oder zu international verschiedenen Modernen wie bei Shmuel Eisenstadt 4 sind nicht rezipiert worden. So wird die Chance vertan, den Anschluss an eine allgemeinere Diskussion der Moderne zu finden.

Auch blickt Plaggenborg allein „von oben“ auf die Geschichte. Nur das Agieren des Regimes interessiert ihn letztlich. Die Behauptung, es habe keine Gesellschaft in der Sowjetunion gegeben, zeugt von einer aus der Totalitarismustheorie erwachsenen Ignoranz gegenüber ganzen Forschungszweigen.

Kann man einem Autor zum Vorwurf machen, dass er wie ein Vertreter der Historischen Sozialwissenschaft der 70er-Jahre und nicht als ein Kulturhistoriker der 90er-Jahre an ein Thema herangeht? Nein. Aber man kann ein Buch an seinem Anspruch messen. So bietet dieses zwar aufschlussreiche und stellenweise faszinierende Einblicke in die sowjetische Geschichte und geht immer wieder der wichtigen Frage nach dem Übergang vom Stalinismus zum Nachstalinismus nach. Doch dem Anspruch, ein theoretisch ertragreiches erstes Buch über die sowjetische Moderne zu schreiben und sie gar in einen europäischen Kontext zu stellen, wird Plaggenborg angesichts der erwähnten Selbstbeschränkung nur in Ansätzen gerecht.

Anmerkungen:
1 Toulmin, Stephen, Kosmopolis: die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt am Main 1991.
2 Laak, Dirk van, Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas 1880-1960, Paderborn u.a. 2004.
3 Scott, James C., Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven 1998.
4 Eisenstadt, Shmuel N. (Hrsg.), Multiple Modernities, New Brunswick 2002.

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