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Titel
Ein antisemitischer Doppelmord. Die vergessene Geschichte des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik


Autor(en)
Jensen, Uffa
Erschienen
Berlin 2022: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
316 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Barbara Manthe, Abteilung Geschichtswissenschaft, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Die Geschichte rechtsterroristischer Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland ist, so wurde in den vergangenen Jahren immer wieder festgestellt, von der historischen Zunft bislang sträflich vernachlässigt worden.1 Dass diese Beobachtung nicht so sehr für die weitaus vielfältigere sozial- und politikwissenschaftliche Literatur zum Thema gilt, sei an dieser Stelle nur angemerkt; auch der gegenwärtige Rechtsterrorismus ist seit dem Bekanntwerden des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) im Jahr 2011 mittlerweile gut erforscht. In den vergangenen Jahren waren es vor allem Journalisten und Buchautoren wie Ulrich Chaussy und Ronen Steinke, die den Zusammenhang von Rechtsterrorismus und Antisemitismus beleuchtet haben.2 Explizit geschichtswissenschaftliche Monographien zum Thema sind aber, obwohl das Forschungsfeld mittlerweile durch zahlreiche Projekte belebt wird3, noch spärlich.

Umso erfreulicher ist es, dass der Historiker Uffa Jensen, stellvertretender Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, ein Buch zu einer der erschütterndsten rechtsterroristischen Taten in der „Bonner Republik“ vorgelegt hat: dem antisemitischen Doppelmord an dem jüdischen Rabbiner und Verleger Shlomo Lewin und seiner nichtjüdischen Lebenspartnerin Frida Poeschke. Am 19. Dezember 1980 wurden beide in ihrem Wohnhaus in Erlangen erschossen. Der Täter, Uwe Behrendt, war ein enger Vertrauter des bekannten Rechtsradikalen Karl-Heinz Hoffmann, dessen „Wehrsportgruppe (WSG) Hoffmann“ im Januar 1980 verboten worden war.

In dem an zeitgenössischen Kontroversen nicht gerade armen Themenfeld Rechtsterrorismus/Rechtsradikalismus sticht der Doppelmord frappant heraus, weil er in der damaligen westdeutschen Öffentlichkeit nur wenig Aufmerksamkeit erregte. Größere Debatten über Antisemitismus gab es selbst dann nicht, als im Sommer 1981 die Täterschaft aus dem Umfeld der „WSG Hoffmann“ bekannt wurde; höchst irritierend war zudem das Schweigen der sozialliberalen Bundesregierung, die sich zum Oktoberfest-Attentat im Jahr zuvor noch ausführlich geäußert hatte. Jensen stellt dieses Schweigen und das „aggressive Vergessen der rechten Gewalt“, das er als „eines der größten gesellschaftlichen und politischen Probleme der Bundesrepublik“ sieht (S. 9), in den Fokus seines Buches. Der Autor will „die Geschichte des Erlanger Doppelmordes rekonstruieren“ (S. 12) und analysieren, „wie sich die Ermittler, die Polizei, die Presse, die Gerichte, eigentlich die Gesellschaft insgesamt zu diesem antisemitischen, rechtsterroristischen Doppelmord verhielten“ (S. 14). Das Ziel ist damit „eine Mentalitätsgeschichte der bundesrepublikanischen Gesellschaft um 1980“ (S. 14f.).

Das Buch ist in 14 Kapitel gegliedert, die den Kontext der Tat, ihre Vor- und Nachgeschichte schildern. Nach der Einleitung folgt ein Kapitel über die Tat selbst; im dritten Teil gibt Jensen einen Überblick zur Geschichte des Antisemitismus in der Bundesrepublik seit 1945. Das vierte Kapitel befasst sich mit den Ermittlungen nach der Tat und schildert, wie schnell sich die Ermittler nach anfänglichen Überlegungen, dass auch ein politisches Motiv möglich gewesen sei, auf das persönliche Umfeld des Mordopfers Lewin fokussierten. Auch als eine am Tatort zurückgelassene Sonnenbrille im Februar 1981 zu Hoffmanns Lebensgefährtin führte, bewiesen die Ermittler wenig Entschlossenheit. Der Täter Behrendt war mittlerweile im Libanon untergetaucht; er starb dort 1981, mutmaßlich durch Suizid. Eine „willentliche Vertuschung oder eine große Verschwörung“ hält Jensen aber nicht für wahrscheinlich, sondern eher, dass den Ermittlern „bestimmte Überlegungen gar nicht in den Sinn“ kamen (S. 69).

Im fünften Kapitel schildert der Autor die Geschichte des „Rechtsextremismus“ nach 1945, angefangen von den ersten Wahlerfolgen der „Sozialistischen Reichspartei“ (SRP) über den Aufstieg der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ (NPD) in den 1960er-Jahren bis zum Anstieg rechtsradikaler Gewalt ab Mitte der 1970er-Jahre. Der sechste Teil wendet sich Uwe Behrendts Lebensweg und dem antisemitischen Motiv der Tat zu. Der siebte Teil skizziert die Geschichte des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik und reflektiert das zeitgenössische Terrorismusverständnis der 1970er-Jahre, das sich am Linksterrorismus abarbeitete. Spezifika des Rechtsterrorismus, zum Beispiel sein anderes kommunikatives Verhalten, wurden laut Jensen nicht genügend berücksichtigt (S. 130). Der achte Teil beschreibt die öffentliche Diffamierung Lewins, dem posthum der Vorwurf gemacht wurde, durch seinen angeblich „zwielichtigen Charakter“ die Ermordung selbst verschuldet zu haben. An dieser Stelle wäre es allerdings erhellend gewesen, zu erfahren, ob die großen überregionalen Tageszeitungen den im Buch zitierten diffamierenden Berichten der Nürnberger Regional- und Lokalpresse inhaltlich folgten oder nicht (S. 139–148).

Der neunte Abschnitt widmet sich der Geschichte der „Palästinensischen Befreiungsorganisation“ (PLO) und ihrer Rolle im internationalen Terrorismus der 1970er-Jahre, die im darauffolgenden Kapitel mit der Geschichte des Rechtsterrorismus zusammengebracht wird: Nach dem Verbot der WSG Hoffmann fanden sich Hoffmann-Anhänger als „Wehrsportgruppe Ausland“ zusammen und reisten in den Libanon, um dort in einem PLO-Camp militärisches Training zu erhalten. Die Gruppe zerfiel jedoch bald durch interne Streitigkeiten. Einer der Akteure, Kay-Uwe Bergmann, wurde von seinen Kameraden Anfang 1981 zu Tode gefoltert. Als sich im Frühsommer 1981 einige WSG-Ausland-Mitglieder in die Bundesrepublik absetzten und dort gegen Hoffmann aussagten, kamen auch die Ermittlungen zum Erlanger Verbrechen in Gang. Hoffmann wurde wegen seiner Taten im Libanon festgenommen, später auch wegen der möglichen Beteiligung am Doppelmord angeklagt.

Im elften und zwölften Kapitel beschäftigt sich Jensen mit der rechtlichen Grundlage der Verfolgung rechtsradikaler Straftaten und der Gerichtsverhandlung gegen Hoffmann vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth. Er wurde ebenso wie seine Lebensgefährtin wegen Mittäterschaft bzw. Beihilfe zum Mord angeklagt. Ganz aufgeklärt wurde das Verbrechen nie. Beide Angeklagte sprach das Gericht im Juni 1986 in diesen Punkten frei, verurteilte Hoffmann allerdings wegen zahlreicher anderer Taten zu neuneinhalb Jahren Haft. Dass das Gericht die Rolle des Antisemitismus wenig hervorhob und Hoffmann einen großen Raum für seine eigene Erzählung zugestand, kritisiert der Autor deutlich (S. 199, S. 203f.).

Im dreizehnten Kapitel ordnet Jensen die Tat in einen größeren erinnerungskulturellen Kontext ein. Im Fazit resümiert er den Urteilsspruch und argumentiert, dass „ein erhebliches Maß an Mitverantwortung“ Hoffmanns anzunehmen sei (S. 222). Der Doppelmord sei „von Politik und Gesellschaft nahezu komplett vergessen“ worden (S. 228). Dass der „zähe Verlauf der komplexen Ermittlungen, […] das verzögerte und langwierige Gerichtsverfahren sowie das Scheitern, das Verbrechen juristisch vollständig aufzuklären“, aber auch der „Rufmord“ gegen Lewin dazu beitrugen (S. 214), beschreibt und belegt Jensen ausführlich. Wer die früheren Bücher zur Geschichte des Antisemitismus und des Rechtsterrorismus – insbesondere von Chaussy, Steinke und Werner Bergmann – kennt, wird freilich in Jensens Studie kaum fundamental Neues erfahren. Das schmälert den Wert seines Buches aber keineswegs, schließlich ist die Geschichte rechten Terrors, anders als etwa die Geschichte der „Roten Armee Fraktion“ (RAF), eben noch nicht Teil eines historischen Allgemeinwissens. Jensens Verdienst ist es, dass er ein zentrales Ereignis des bundesdeutschen Rechtsterrorismus sachkundig rekonstruiert und in die historischen Kontexte einbettet. Zudem arbeitet er begriffssensibel, reflektiert den Gebrauch von Termini wie „Antisemitismus“ und „Terrorismus“ immer wieder.

Allerdings hinterlässt die Lektüre den Eindruck, dass der Autor einer allzu geradlinigen Großerzählung des konsequenten und aggressiven Verdrängens rechtsradikaler und rechtsterroristischer Gewalt folgt. Dies wird der durchaus heterogenen, sich stets im Wandel befindlichen politischen Öffentlichkeit der „alten Bundesrepublik“ aber nicht gerecht. Offen lässt Jensen etwa die Frage, weshalb einige Ereignisse – etwa die antisemitische „Schmierwelle“ von 1959/60 – im Gedächtnis blieben, andere jedoch nicht. Es spricht vieles dafür, dass Ort, Zeit und Ziel einer rechtsradikalen oder rechtsterroristischen Gewalttat erhebliche Auswirkungen auf ihre Deutung hatten, und es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass die Aufmerksamkeit für den Erlanger Doppelmord im CSU-regierten Bayern, das seine Beißreflexe nach links seit der verlorenen Bundestagswahl 1980 noch einmal verschärft hatte, so gering war. In Niedersachsen oder Berlin führte man um 1980 viel lautere Debatten über den Rechtsterrorismus.

Im Bedürfnis, die Erzählung kohärent zu halten, sind einige Aussagen im Buch zudem recht pauschal geraten. So kann von einem „Nichteingreifen des Staats“ (S. 220) für den untersuchten Zeitraum eigentlich nicht die Rede sein, denn wenige Bundesinnenminister brachten das Thema Rechtsterrorismus so entschieden auf die Agenda wie der zwischen 1978 und 1982 amtierende Gerhart Baum (Freie Demokratische Partei). In diesen Jahren ermittelte auch Generalbundesanwalt Kurt Rebmann mit Unterstützung des sozialdemokratisch geführten Bundesjustizministeriums gegen zahlreiche rechtsradikale Gruppen anhand des Anti-Terror-Paragraphen 129a StGB. Erst nach dem Regierungswechsel 1982 änderte sich dieses Ermittlungsverhalten signifikant; die Anzahl der Verfahren nahm drastisch ab. Auch die Feststellung, dass der Rechtsterrorismus „in einem blinden Fleck des bundesrepublikanischen Gedächtnisses“ verschwunden sei (S. 228), reproduziert letztlich ein top-down-Verständnis von Politik- und Gesellschaftsgeschichte. Zwar war die Bereitschaft der Bundespolitik, sich mit dem Thema zu befassen, nur von kurzer Dauer. Doch gab es durchaus Teile der Gesellschaft, die das Terrorjahr 1980 dazu nutzten, ein Gedenken an rechtsradikale Gewalt zu etablieren. Auslösend war hier nicht der Erlanger Doppelmord, sondern das Oktoberfest-Attentat: Ein Blick nach München zeigt, dass Akteure der Stadt- und Zivilgesellschaft dort einen mühseligen und umkämpften, aber sichtbaren Prozess des Erinnerns in Gang brachten.

Uffa Jensen hat ein wichtiges und anregendes Buch geschrieben. Dass er eine für den Geschmack der Rezensentin stellenweise etwas zu stimmige Erzählung des Vergessens und Verdrängens präsentiert, sollte niemanden vom Lesen abhalten, im Gegenteil. Genau solche Darstellungen braucht es für eine Debatte über die Historisierung rechtsradikaler und rechtsterroristischer Gewalt in der Bundesrepublik.

Anmerkungen:
1 Carola Dietze, Ein blinder Fleck? Zur relativen Vernachlässigung des Rechtsterrorismus in den Geschichtswissenschaften, in: Tim Schanetzky u.a. (Hrsg.), Demokratisierung der Deutschen. Errungenschaften und Anfechtungen eines Projekts, Göttingen 2020, S. 189–205.
2 Ronen Steinke, Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt. Eine Anklage, Berlin 2020; Ulrich Chaussy, Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen. Wie Rechtsterrorismus und Antisemitismus seit 1980 verdrängt werden, 4. aktualisierte und erweiterte Aufl., Berlin 2020.
3 Vgl. etwa die Aktivitäten des 2019 gegründeten „Zeithistorischen Arbeitskreises Extreme Rechte“: https://zeitgeschichte-extreme-rechte.de (09.01.2023).