Die Auseinandersetzung mit dem Gewaltpotential von Sprache, ihrem Missbrauch und ihrer politischen Indienstnahme ist mitnichten ein neues Phänomen. Im Gegenteil, es ist ein häufig anzutreffendes Thema in zeitdiagnostischen oder historischen Schriften der Nachkriegszeit. Nicht wenige, zumeist jüdische Intellektuelle näherten sich dem katastrophischen Geschehen von Verfolgung und Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus (auch) über eine Analyse der Begriffsbildungen, Wortschöpfungen und ideologischen Prägungen des Deutschen an. Sie zeigten dabei überzeugend, wie die Sprache zur Waffe und zum wesentlichen Teil des propagandistischen Feldzugs der Nazis wurde, die Lebensrealitäten der deutschen „Volksgemeinschaft“ schuf und stabilisierte, Exklusion manifestierte und offener Gewalt den Weg bereitete. Die Zeugnisse von Jean Améry, Raul Hilberg, Victor Klemperer, Joseph Wulf, H.G. Adler, Nachman Blumenthal, Philip Friedman und vielen anderen waren vom Bewusstsein dafür getragen, wie weitreichend Sprache Gewalt gleichzeitig verhüllen und hervorbringen kann und welch konstitutive Rolle sie damit für die nationalsozialistischen Taten gespielt hat. Die verbliebenen „Narben am Sprachleib“ (H.G. Adler) sind bis heute spürbar. Das Deutsche bleibt kontaminiert, und es konserviert auf unterschiedlichen Ebenen die Brutalität des Nationalsozialismus.
Formen rhetorischer Aufrüstung erleben gegenwärtig eine traurige, wenn auch anders gelagerte Renaissance. Damit einher geht eine Flut von Publikationen und Meinungsäußerungen zu diesem Thema und verwandten Bereichen, in denen der deutliche Wandel der Kommunikation, ihr Gehalt und Wert, Sprachformationen und Instrumentalisierungen diskutiert werden – häufig mit direktem Bezug auf die Sprachkritiker der frühen Nachkriegsjahre. In diesem kaum noch überschaubaren Feld (die Überlappung mit der Diskussion um die Vor- und Nachteile eines gendergerechten und inklusiven Wandels des Deutschen trägt zu einem immer weiter ausgreifenden Diskursraum bei) platziert sich auch der jüngst erschienene Band des in Berlin und London lehrenden Kultur- und Politikwissenschaftlers David Ranan. Durch sein spezifisches Konzept unterscheidet er sich von den zahlreichen Einlassungen zur Sprachentwicklung im „postfaktischen“, digitalen Zeitalter, die in unterschiedlichen Medien und Formaten erscheinen. Ranan hat eine Art Glossar gestaltet; er bietet eine Sammlung von Kurzessays zu „Kampfbegriffen“, die seiner Meinung nach den heutigen politischen und öffentlichen Diskurs bestimmen. Will man an dieser Stelle noch einmal auf die Resonanzen der frühen Sprachkritik abheben, wäre hierbei neben den in Ranans Einleitung aufgerufenen Victor Klemperer und George Orwell auch an das von Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind herausgegebene „Wörterbuch des Unmenschen“ zu erinnern, das zwischen 1946 und 1948 zunächst in der Zeitschrift „Die Wandlung“ abgedruckt und später als Konvolut veröffentlicht wurde.1 Ähnlich wie in diesem Wörterbuchprojekt legt auch Ranan eine Sammlung von Termini vor, die allerdings nicht in erster Linie von ihm selbst, sondern von 29 Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik begriffsgeschichtlich eingeordnet werden. Es werden „missbräuchliche“ Verwendungen dargelegt, und deren Gehalt wird diskutiert. Etwa zur Hälfte handelt es sich dabei um „Ismen“ – eine Gruppe von Begriffen, denen, wie schon Hannah Arendt betonte, „der Fanatismus auf der einen und der Schutz vor Realitäten auf der anderen Seite“ gemeinsam ist.2 Unter den Einträgen finden sich etwa Islamismus, Antisemitismus, Patriotismus, Kolonialismus, Rassismus, Populismus und zahlreiche mehr; daneben stehen Begriffe wie Heimat, Volk, Elite, Demokratie und Freiheit. Einen Ausgangspunkt der Befragung durch die Autorinnen und Autoren bildet das „Spannungsverhältnis von polemischer Kampfvokabel und wissenschaftlicher Analysekategorie“ (Daniel Morat, S. 307), das sich für fast alle Begriffe in ihrem Gebrauch nachvollziehen lässt.
Ranan geht es mit dem Projekt darum, zu beschreiben, wie Begriffe, „die mit einer bestimmten Bedeutung beladen sind“, in der öffentlichen Diskussion verwendet werden und an welchen Stellen sie „als Machtinstrumente der Förderung bestimmter politischer Ziele dienen“ (S. 12). Damit verfolgt er das Ziel, solchen inflationär und meistens zur Diffamierung und Abgrenzung gebrauchten Begriffen wieder Tiefenschärfe zu verleihen und kritisches Urteilen zu fördern. Seine Auswahl von Begriffen begründet Ranan mit deren „Eigenschaft, die sich am besten mit Charisma beschreiben lässt: Sie ziehen sofort Aufmerksamkeit auf sich und wirken unmittelbar und machtvoll auf die, die sie hören.“ (S. 10, dortige Hervorhebung) In den einzelnen, je etwa zehn bis fünfzehn Seiten umfassenden Essays wird aus unterschiedlichen Perspektiven versucht, den im alltäglichen Gebrauch oft völlig sinnentleert verwendeten Begriffen historisch zu begegnen, sie etymologisch einzuführen und ihren Gehalt komplexer zur erfassen. Die Beiträge stehen dabei relativ unverbunden nebeneinander, Querverweise – auch bei Themen, deren Verwandtschaft dies durchaus angeboten hätten – fehlen. Außerdem bleibt nicht aus, und scheint auch gewollt zu sein, dass die Autorinnen und Autoren häufig ihre eigenen politischen Deutungen darlegen – also eine Form der Gegenerzählung zu derjenigen anbieten, die im öffentlichen Diskurs dominant anzutreffen und häufig missbräuchlich ist. Der Band geht demnach über die wissenschaftliche Auseinandersetzung hinaus und versteht sich auch als Debattenbeitrag zum öffentlichen Streit, bzw. mischt explizit wissenschaftliche und journalistisch-politische Formen. Wie stark die eigene Haltung in den Vordergrund gerückt wird, unterscheidet sich von Beitrag zu Beitrag.
Als Beispiel-Essays, die vor allem um Neutralisierung bemüht sind, mögen jene zu den heftig umkämpften Begriffen „Kolonialismus“ und „Völkermord“ dienen. Sie setzen beide stark auf Herleitung und Kontextualisierung sowie auf die Darstellung der Fallstricke allgemeiner Verwendung. Die Termini sind omnipräsent und zeichnen sich im gegenwärtigen Gebrauch besonders dadurch aus, gerade nicht historische Unterschiede zu betonen, sondern für eine universelle Betrachtung von Opferschaft herangezogen zu werden. Gesine Krüger und Anton Weiss-Wendt versuchen demgegenüber in ihren Essays, durch die Geschichte sowie die Definition und Anwendungsfelder der Begriffe zu unterstreichen, was diese leisten können, wofür sie aber auch nicht herhalten sollten. So zeigt Krüger, dass die metaphorische Verwendung des Begriffs Kolonialismus, angewendet beispielsweise auf die politische Situation im israelisch-palästinensischen Konflikt, „vor allem einen anklagenden Charakter“ habe (S. 119), kaum aber zur Klärung der zu bezeichnenden Sachverhalte beiträgt. Als Sinnbild verwandt, findet sich das Wort im öffentlichen Diskurs gar auf die Lage der ostdeutschen Bevölkerung als einer von der alten Bundesrepublik „kolonisierten“ Gesellschaft bezogen. Gegen derlei Polemik plädiert Krüger für die ernsthafte Auseinandersetzung mit neuester Forschung aus dem globalen Süden, die nach den Realitäten kolonialer Herrschaftsverhältnisse fragt und diese sehr genau zu bestimmen weiß. Damit wird der Tendenz eines übermäßigen Gebrauchs der Vokabel, der ihren Gehalt verwässert und sie unterschiedslos auf verschiedene Machtgefüge appliziert, eine fundierte Anwendungsweise entgegengesetzt.
Ähnlich kann Weiss-Wendt überzeugend zeigen, inwiefern die Bezeichnung Völkermord „ein Eigenleben außerhalb seiner rechtlichen Bedeutung [führt], die in der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 niedergelegt ist“ (S. 246). Auf Grundlage der dort ratifizierten juristischen Definition, die maßgeblich auf den polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin zurückgeht, stellt Weiss-Wendt dar, wie der Begriff im Kalten Krieg stetig politisch instrumentalisiert und damit zum unbrauchbaren Kampfbegriff verwässert wurde. Misst man Massengewaltereignisse an den Kriterien der Konvention, seien es wenige, die tatsächlich den Straftatbestand des Genozids erfüllten. Durch die stetige Verwendung „als Übertreibung und ultimativer Ausdruck der Missbilligung“ habe sich der Begriff „außerhalb des Gerichtssaals“ stark abgenutzt (Weiss-Wendt, S. 254). Selbst für die engere wissenschaftliche Verwendung stellt der Autor provokativ fest: „Leider hat die Völkermordforschung keines ihrer erklärten Ziele je erreicht.“ (S. 252)
Der Band ist gerahmt von zwei Beiträgen – „Fake News“ (Jana Laura Egelhofer) und „Wahrheit“ (Michael Quante) –, die das Geländer für die Denkbewegung der Autorinnen und Autoren bilden. Deutlich tritt hervor, was bekannt ist, aber in der hier gebotenen Systematik noch einmal bereichernd dargelegt wird: wie stark die uns im öffentlichen Diskurs ständig umgebenden Begriffe Mittel zum Ausdruck von Empörung und Denunziation geworden sind und damit zumeist entleert werden. Sie zementieren einen (behaupteten) Erkenntnisstand und vergröbern Kollektivabgrenzungen – wie es Dan Diner treffend für „Ismen“ im Allgemeinen beschrieben hat3 –, statt Komplexität zu erklären und damit als Analysewerkzeuge ihren wichtigsten Zweck zu erfüllen, nämlich zum historischen Verstehen beizutragen.
Anmerkungen:
1 Dolf Sternberger / Gerhard Storz / Wilhelm E. Süskind, Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, Hamburg 1957.
2 Hannah Arendt an Gershom Scholem, 21.4.1946, in: Hannah Arendt / Gershom Scholem, Der Briefwechsel, 1939–1964, hrsg. von Marie Luise Knott unter Mitarbeit von David Heredia, Frankfurt am Main 2010, S. 105–112, hier S. 107.
3 Dan Diner, Einführung, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 1, hrsg. im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig von Dan Diner, Stuttgart 2011, S. VII–XVIII, hier S. XIII.