V. Berghahn: Englands Brexit und Abschied von der Welt

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Titel
Englands Brexit und Abschied von der Welt. Zu den Ursachen des Niedergangs der britischen Weltmacht im 20. und 21. Jahrhundert


Autor(en)
Berghahn, Volker
Erschienen
Göttingen 2021: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Almuth Ebke, Neuere und Neueste Geschichte, Universität Mannheim

Warum hat sich die britische Bevölkerung für den Brexit entschieden? Dieser Frage widmet sich Volker Berghahn in „Englands Brexit und Abschied von der Welt“. Das für eine breite Leserschaft geschriebene Buch nimmt das auf den ersten Blick überraschende Ereignis des Brexit-Votums und die sich daran anschließende Debatte zum Ausgangspunkt, um die Geschichte eines in sich gespaltenen Landes seit dem 19. Jahrhundert aufzurollen. Denn ohne einen Rückgriff auf die Vorgeschichte seien, so Berghahn, die „Traditionen und Emotionen, die in der Debatte in den letzten vier Jahren an die Oberfläche kamen, nicht zu verstehen“. In der Entscheidung zum Brexit hätten sich „greifbare Erfahrungen der eigenen materiellen Lage nach den beiden von Deutschland begonnenen Weltkriegen, die sich infolge der neoliberalen Politik Thatchers objektiv weiter verschlechtert hatten, mit Emotionen und Selbsttäuschungen“ vermischt, die „durch verantwortungslose Politiker und die sozialen Medien fortlaufend verstärkt“ worden seien (S. 14).

Zunächst steht der Aufstieg des Vereinigten Königreichs zur Weltmacht und der sich daran anschließende „hegemoniale Druck“ im Zentrum der Analyse (S. 15). Berghahns Perspektive ist die des „British Decline“, der vor allem als wirtschaftlicher und machtpolitischer Niedergang gedeutet wird. Zentrale Momente dieser wirtschafts- und diplomatiehistorischen Geschichte waren die zwei Weltkriege, aus denen das Vereinigte Königreich wirtschaftlich und finanziell geschwächt hervorgegangen sei. Infolgedessen sei das Vereinigte Königreich von den USA als globaler Hegemon abgelöst worden. Berghahn sieht die Verantwortung jedoch auch bei den politischen und wirtschaftlichen Eliten, die nach 1945 Entscheidungen getroffen hätten, die zwar ihre Macht bewahren sollten, jedoch auf Kosten der Arbeiter gegangen seien. Der Fokus liegt hier – und immer wieder – auf der britischen Automobilindustrie, ein oft zitiertes Beispiel für Produktivitätsprobleme und das Versagen britischen Managements.

Der Beitritt Großbritanniens in die Europäischen Gemeinschaften wird vor allem aus machtpolitischen und auch wirtschaftlichen Überlegungen erklärt. Denn angesichts des Zerfallsprozesses des britischen Empire hätten sich Politiker der Konservativen und Labours Europa zugewandt. Die neoliberale Politik der Regierung Thatcher habe hingegen einen Wendepunkt markiert: Thatchers Programm der Privatisierung und Liberalisierung der Finanzmärkte habe zu einem Anwachsen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Spaltungen im Vereinigten Königreich geführt. Damit seien die Grundlagen für die gesellschaftlichen Spannungen der Brexit-Jahre gelegt worden. Der konkrete Weg zum EU-Referendum wird hingegen nur knapp umrissen. Eine ausführlichere Diskussion der Entwicklungen der 1990er- und 2000er-Jahre hätte jedoch dazu beitragen können, die regionalen Unterschiede im Abstimmungsergebnis von 2016 zu verstehen.

Der zweite Teil des Buches widmet sich den Brexit-Verhandlungen von 2018 bis 2020. Hier kommen nun erstmals die Euroskeptiker zu Wort, die Ressentiments gegenüber den gegenwärtigen sozioökonomischen und kulturellen Zuständen politisch zu nutzen wussten. In diesem weitgehend deskriptiven Teil werden dabei nicht nur die Akteure, Strategien und Stolpersteine der langwierigen Brexit-Verhandlungen vorgestellt, sondern endlich auch die regionale Dimension des Brexit-Votums diskutiert, die der Untertitel des Buches bereits vermuten lässt: Die Entscheidung zum Brexit war stark von dezidiert englischen Überlegungen und Anliegen geprägt. Gerade im Verhältnis zur schottischen Regierung ergeben sich dadurch Spannungen, die die langfristigen Folgen des britischen Austritts aus der EU bisher noch nicht absehbar machen.

Auf dem Weg zum finalen Abkommen legt Berghahn mit einer Vorliebe fürs Detail die Krise um den irischen „backstop“, die Prorogation des britischen Parlaments sowie die politischen Manöver vor allem Boris Johnsons dar. Die Komplikation der Verhandlungen durch die Covid 19-Pandemie finden dabei ebenso Raum wie eine Sezierung der Charakterzüge Johnsons und David Camerons, auf deren persönliche politische Verfehlungen gesondert hingewiesen wird.

Berghahn arbeitet die teils verworrene Geschichte der Brexit-Verhandlungen in einer spannenden Erzählung auf, in der Akteure und Themen klar eingeordnet werden. Einige Entscheidungen, die der Autor getroffen hat, überraschen jedoch. Das mag möglicherweise an der Auswahl der Sekundärliteratur liegen, in der neuere englischsprachige Forschungen zum „British Decline“, Großbritanniens Verhältnis zur EU oder zur Inneren Dekolonisierung fehlen.1 Im Gegensatz dazu erhält in den ersten Kapiteln die Geschichte der amerikanischen Wirtschaftskonkurrenz und die deutsche Geschichte vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus viel Raum. Die Entwicklungen im Vereinigten Königreichs wirken im Vergleich nicht nur seltsam blass, sondern auch uneingebunden. Ein stärker transnationaler Blick wäre hier hilfreich gewesen, um den relativen Niedergang des Vereinigten Königreichs nicht nur als Tatsache darzustellen, sondern herauszuarbeiten, wie sich Deutungen des Niedergangs zu wirkmächtigen Narrativen verdichteten – eben jene „Traditionen und Emotionen“, denen Berghahn nachzuspüren sucht.

Mit „Englands Brexit und Abschied von der Welt“ widmet sich Volker Berghahn einem aktuellen Thema mit dem breiten Blick eines erfahrenen Historikers, der an mehr als einer Stelle deutlich macht, wie sehr er den Austritt des Vereinigten Königsreichs aus der EU bedauert. Ob Großbritannien nun wirklich „Abschied von der Welt“ nimmt, lässt sich angesichts der Bemühungen der konservativen Regierung, „global Britain“ in der internationalen Wirtschaft und Politik neu zu positionieren, jedoch sicherlich weiter diskutieren.

Anmerkung:
1 Vgl. beispielsweise Daniel Dorling / Sally Tomlinson, Rule Britannia. Brexit and the End of Empire, London 2019; Benjamin John Grob-Fitzgibbon, Continental drift. Britain and Europe from the End of Empire to the Rise of Euroscepticism, Cambridge 2016; Robert Saunders, Brexit and Empire. ‘Global Britain’ and the Myth of Imperial Nostalgia, in: The Journal of Imperial and Commonwealth History 48 (2020), S. 1140–1174; Jim Tomlinson, Managing the Economy, Managing the People. Narratives of Economic Life in Britain from Beveridge to Brexit, Oxford 2017; Stuart Ward / Astrid Rasch (Hrsg.), Embers of Empire in Brexit Britain, London 2019.

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