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Titel
Wider die Verunsicherung. Arbeitslosenkomitees in der Schweiz, 1975–2002


Autor(en)
Zahn, Anina
Erschienen
Zürich 2021: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
340 S.
Preis
CHF 48,00; € 46,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Alan Canonica, Hochschule Luzern – Soziale Arbeit, Institut Sozialmanagement, Sozialpolitik und Prävention

Die klassische Wohlfahrtsgeschichte interessiert sich für die Entstehung und Entwicklung der staatlichen Sozialwerke, wie die Sozialversicherungen oder die bedarfsabhängige Sozialhilfe. Zunehmend verlagert sich das Interesse der Forscherinnen und Forscher auf den Beitrag von nicht-staatlichen Akteuren zur Wohlfahrtsproduktion wie privatwirtschaftliche Unternehmen, zivilgesellschaftliche Organisationen, philanthropische Bewegungen oder Gruppierungen der Selbstvertretung. Das Buch von Anina Zahn ist in diesem neueren Fachdiskurs zu verorten: Sie befasst sich mit den Arbeitslosenkomitees in der Schweiz im Zeitraum zwischen 1975 und 2002 und betreibt gleichsam eine Wohlfahrtsgeschichte „von unten“.

Für den schweizerischen Kontext füllt „Wider die Verunsicherung“ aus zweierlei Gründen eine Forschungslücke: Zum einen werden Organisationen der Selbstvertretung in ihrer historischen Entwicklung untersucht und zum anderen werden Spannungsfelder und Wechselwirkungen zwischen (Sozial-) Staat und sozialen Bewegungen – namentlich die sozialpolitischen Bemühungen der Arbeitslosenkomitees, sozialstaatliche Veränderungen anzustoßen – beleuchtet.

Die Autorin fragt in ihrer Untersuchung zunächst danach, welche Auswirkungen die Arbeitslosigkeit sowie die entsprechenden sozialstaatlichen Maßnahmen und Gesetze auf die versicherten Personen hatten. Dabei ist zu beachten, dass sich erst über die sozialstaatliche Kategorisierung als stellensuchende, arbeitslose Person überhaupt ein gemeinsames Identitätsgefühl entwickeln konnte. Die Arbeitslosenkomitees entstanden durch den Sozialstaat und sie bezogen sich auch direkt auf diesen. Weiter wird danach gefragt, welche Kritik die Arbeitslosenkomitees an den Sozialstaat herantrugen und wie sie mit ihrem Aktivismus die Ausformung der sozialen Sicherung mitgestalten konnten. Zudem interessiert, welche Maßnahmen sie selbst ergriffen, denn ihr Handeln beschränkte sich nicht nur auf das politische Agitieren. Sie übernahmen auch Sicherungsfunktionen sowohl abseits des Sozialstaats wie für den Sozialstaat. Als theoretischer Rahmen dient die pragmatische Soziologie der Kritik, die vor allem von Luc Boltanski und Laurent Thévenot begründet wurde. Zum einen betont der Ansatz die Interdependenz zwischen Institutionen und die an sie herangetragene Kritik, zum anderen die Handlungskompetenz von Akteuren, mittels Kritik institutionelle Veränderungen anzustossen. Zu den zentralen empirischen Quellen gehören die Archivunterlagen der Arbeitslosenkomitees sowie Interviews mit Zeitzeuginnen und -zeugen.

Das Buch besteht aus vier Teilen, wobei hervorzuheben ist, dass diese nicht chronologisch aufeinander aufbauen, sondern thematisch gegliedert sind. Auch wenn in der gewählten Form wenige inhaltliche Redundanzen unvermeidbar sind, ist der Aufbau sehr gut gewählt. Im ersten Teil werden die Arbeitslosenbewegung und ihre Entwicklung in der Schweiz anhand von exemplarischen Arbeitslosenkomitees dargestellt. Teil 2 befasst sich mit der Kritik am Sozialstaat, wobei die Debatten zur Einführung des obligatorischen Arbeitslosenversicherungsgesetzes in den 1970er-Jahren und zu den aktivierungspolitischen Reformen des Sozialwerks in den 1990er-Jahren in den Fokus gerückt werden. Im dritten Teil wird die politische Arbeit der Organisationen beleuchtet. Im Mittelpunkt stehen die Forderungen der Arbeitslosenkomitees im Rahmen der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik sowie (alternative) Deutungen von Erwerbsarbeit, Arbeit und Arbeitslosigkeit. Im vierten Teil werden die Beratungsstellen der Arbeitslosenkomitees thematisiert. Diese dienten der gegenseitigen Unterstützung von Betroffenen und erhielten auch eine zunehmend grössere Bedeutung im staatlichen System sozialer Sicherung. Historisch beginnt die Untersuchung Mitte der 1970er-Jahre als in der Schweiz das Obligatorium aller unselbständigen Arbeitnehmenden zur Versicherung gegen Arbeitslosigkeit eingeführt wurde. Sie endet in den frühen 2000er-Jahren mit dem Inkrafttreten der dritten Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes, die sich nahtlos in die aktivierungspolitischen Tendenzen seit den 1990er-Jahren einfügt.

Soziologisch betrachtet sind Arbeitslosenkomitees ein interessanter Untersuchungsgegenstand: Eine (personelle) Kontinuität war in diesen Organisationen nur schwerlich zu erreichen, da Arbeitslosigkeit in der Regel nur ein temporärer Zustand ist. Wer wieder eine Arbeit findet, fühlt sich der Arbeitslosenbewegung nicht mehr zugehörig. Dies unterscheidet die Arbeitslosenkomitees von anderen sozialen Bewegungen wie feministische Gruppierungen oder Verbände der Selbstvertretung von Menschen mit Beeinträchtigung. Arbeitslose vermeiden es zudem, sich über die fehlende Arbeit zu identifizieren, weil dieser Zustand schambehaftet ist und Teilnehmende an Demonstrationen öffentlich der Stigmatisierung ausgesetzt sind. Arbeitslosigkeit wird eher als individueller Status und nicht als kollektives Problem wahrgenommen, der – so die Hoffnung der Betroffenen – auch möglichst bald überwunden werden kann. Damit war – und ist – nicht nur die Kontinuität, sondern auch die Mobilisierung und die Rekrutierung von Mitgliedern ein schwieriges Unterfangen für die Arbeitslosenkomitees.

Ein Mindestmaß an Persistenz konnte durch die Unterstützung von Mitgliedern weiterer Organisationen sichergestellt werden, die sich dauerhaft in den Arbeitslosenkomitees engagierten, so etwa reformerische Kirchenkreise, sozialarbeiterische Organisationen, Gewerkschaften oder Vertretungen anderer sozialer Bewegungen, insbesondere der neuen Linken. Dennoch hatten nur wenige Arbeitslosenkomitees über den gesamten Untersuchungszeitraum bestand: Manche wurden im Laufe der Zeit aufgelöst, neue ins Leben gerufen.

Trotz dieser organisatorischen Schwierigkeiten leisteten die Arbeitslosenkomitees Bemerkenswertes und erzielten politisch sowie auf individueller Ebene bei den Betroffenen Wirkung. Es wird anschaulich dargestellt, wie die Arbeitslosenkomitees verschiedene Funktionen übernahmen und die Akzente je nach regionaler Stelle und historischer Phase unterschiedlich setzten: Zu ihren Betätigungsfeldern gehören die politische Arbeit, die Beratung von Betroffenen, die kollektive Selbsthilfe, der Austausch und die Pflege sozialer Kontakte, die Lancierung von Projekten (z.B. Zeitschriften), Bildungsangebote sowie die Beschäftigung von Arbeitslosen im Rahmen sozialstaatlicher arbeitsmarktlicher Maßnahmen. Politisch engagierten sich die Arbeitslosenkomitees im Kontext der Gesetzgebung und Praxis der Arbeitslosenversicherung. Sie positionierten sich kritisch zu den Bestimmungen über zumutbare Arbeit, sie plädierten für das Recht auf Arbeitslosenentschädigung ohne Misstrauen vonseiten des Sozialstaats, das sich in Form von Pflichten und Kontrollen äußerte, und sie wehrten sich wiederholt gegen beabsichtigte Leistungskürzungen.

Besonders spannend an diesem Buch ist, dass zum einen das Engagement der Arbeitslosenkomitees die historische Entwicklung sozialpolitischer Debatten gleichsam aus dem Blickwinkel der Betroffenen widerspiegelt und zum anderen die Autorin auch bemerkenswerte Widersprüche in den Haltungen und Praktiken der Arbeitslosenkomitees offenlegt. So steht etwa die unbedingte Forderung nach Erwerbsarbeit der Kritik am Wirtschaftssystem und an den Sozialversicherungen gegenüber, die die Mär der potenziellen Vollbeschäftigung kolportierten. In den 1990er-Jahren versuchten die Arbeitslosenkomitees ihr finanzielles Überleben mittels staatlicher Unterstützung sicherzustellen. Die bereitgestellten materiellen Ressourcen führten gleichsam zu einer Integration der Arbeitslosenkomitees in den Sozialstaat, indem von kantonalen Ämtern genehmigte und von Arbeitsämtern kontrollierte Beschäftigungsplätze für Arbeitslose in den Beratungsstellen geschaffen wurden oder indem die Behörden über kantonale und kommunale Subventionen die Selbsthilfeinitiativen regulierten und die Beratungsstellen dadurch in ihrem Auftrag sozialstaatliche Aufgaben erfüllten.

Die Arbeitslosenkomitees betonten, dass nicht die Arbeitslosen an ihrer Situation „schuld“ seien, vielmehr handle es sich um ein strukturelles Problem. Dieser Standpunkt rückt die Sozialpartner in den Fokus. Dabei offenbart sich ein zwiespältiges Verhältnis zu den Gewerkschaften: Diese sind den Arbeitslosenkomitees zwar prinzipiell wohlgesinnt, aber letztlich vertreten sie primär die Interessen der arbeitenden Bevölkerung und sie standen selbstredend in Verhandlungen mit den Arbeitgeberverbänden – auch im Rahmen der (Weiter-) Entwicklung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes. Wenig thematisiert werden in diesem Zusammenhang die Arbeitgebenden. Letztlich steht und fällt die Arbeitsintegration mit ihnen. Es wäre wünschenswert gewesen, auch ihre Rolle etwas näher zu beleuchten: Wie positionierten sich die Arbeitslosenkomitees gegenüber den Unternehmen oder den Arbeitgeberverbänden? Dieses Thema wird nur am Rande aufgegriffen; aber möglicherweise wurden diese Akteure von den Arbeitslosenkomitees auch gar nicht so häufig adressiert.

Das Buch bietet einen wertvollen und lesenswerten historischen Einblick in das Verhältnis zwischen Selbstvertretung und Sozialstaat. Dabei treten sozialstaatliche Debatten zum Vorschein, die sich abseits der Diskurse von Expertinnen und Experten oder der „offiziellen“ Politik bewegen und neue Erkenntnispfade zum Verständnis der Wohlfahrtsproduktion eröffnen.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch http://www.infoclio.ch/
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